Schulaufsicht : Am Anfang des Turnaround stand ein Versprechen
Guido Schulz war viereinhalb Jahre Schulleiter an der Albrecht-von-Graefe-Schule in Berlin und lernte die Schulaufsicht dort im „School Turnaround“-Projekt für Schulen in schwieriger Lage von einer neuen Seite kennen. Inzwischen arbeitet er selbst in der Schulaufsicht Friedrichshain-Kreuzberg mit, die einen in Berlin einzigartigen Modellversuch gestartet hat.
Es gibt Momente im Leben, die man nie vergisst. Für den Lehrer Guido Schulz war es dieser Moment, als er im Auto saß, auf dem Weg zu seinem Antrittsbesuch an der Sekundarschule Graefestraße in Kreuzberg. Im Inforadio verlas der Nachrichtensprecher die Namen der zehn Schulen, die in das Berliner Pilotprojekt „School Turnaround“ für sogenannte Brennpunktschulen aufgenommen wurden, darunter überraschenderweise genau die Schule, die er gerade ansteuerte. „Ich bekam in diesem Moment einen riesigen Schreck“, sagt Schulz.
2013 hatte sich der Musiklehrer von einem nahe gelegenen Gymnasium an die Sekundarschule versetzen lassen. Die Sekundarschule, die später den Namen „Albrecht-von-Graefe-Schule“ erhalten sollte, war erst drei Jahre zuvor gegründet worden. „Mich reizte es, eine neue Schule mitzugestalten“, sagt er. Nun kamen ihm plötzlich Zweifel, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Sieben Jahre später weiß er, dass es die beste Entscheidung war, die er hätte treffen können. Inzwischen ist er Schulrat in der Schulaufsicht im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und versucht, die positiven Erfahrungen, die er in den zurückliegenden Jahren an der Graefe-Schule gemacht hat, an andere Schulen weiterzugeben.
Auch in der Verwaltung ist er Teil eines Pilotprojekts: Es geht dabei um nichts Geringeres als um eine grundlegende Neustrukturierung der Schulaufsicht. Die Arbeit an der Graefe-Schule habe ihm die Notwendigkeit einer solchen Neuausrichtung vor Augen geführt, sagt er. Und das Projekt „School Turnaround – Berliner Schulen starten durch“ hatte daran einen wesentlichen Anteil.
Die meisten Eltern machten einen großen Bogen um die Schule
Als Schulz an die Albrecht-von-Graefe-Schule kam, war die Situation dort tatsächlich mehr als schwierig. „Und das lag nicht an den Schülerinnen und Schülern“, betont Schulz. Die Schule war an einem Standort gegründet worden, an dem zuvor eine Hauptschule, die öffentlich in Verruf geraten war, geschlossen wurde. Gleichzeitig sorgte der Umbau des Gebäudes für eine jahrelange Baustelle. Und schließlich wurde auch das Konzept des dualen Lernens in praktischen Werkstätten von den Eltern gleichgesetzt mit der Ausrichtung der früheren Hauptschule. Die Folge: Viele Eltern und Schülerinnen und Schüler machten einen großen Bogen um die Schule – es gab kaum Anmeldungen, sodass die freien Plätze an Kinder vergeben wurden, die an ihren Wunschschulen keinen Platz mehr bekamen. Das drückte auf die Stimmung, sowohl bei den Eltern als auch bei den Schülerinnen und Schülern.
Die Berliner Bildungsverwaltung wollte mit dem „School Turnaround“-Projekt hier den Hebel umlegen. Das Lernen und Lehren an der Schule sollte verbessert werden und damit auch den gesamten Standort attraktiver machen. „Die Skepsis im Kollegium war zunächst groß“, erinnert sich Guido Schulz. Die Lehrkräfte fühlten sich angegriffen, als habe ihr mangelndes Engagement die Schule in schwieriges Fahrwasser gebracht. Dabei sei die Schule ja gerade erst in Gründung gewesen.
Die Schulaufsicht hat keine Maßnahmen „von oben“ verordnet
Die Vorbehalte, sagt Schulz, habe die Schulaufsicht jedoch schnell ausräumen können. Erste Voraussetzung dafür war das Versprechen, dass hier keine Konzepte „von oben“ übergestülpt werden sollten. Das Kollegium solle vielmehr selbst Ziele und Maßnahmen bestimmen. Die Schulaufsicht und „School Turnaround“ übernahmen nicht das Ruder, sondern lediglich die Koordination des Entwicklungsprozesses, erklärt Schulz. Das habe schließlich neue Ideen und eine Aufbruchsstimmung im Kollegium freigesetzt.
Wir haben Hospitationsreisen unternommen, um uns erst mal anzusehen, wie andere Schulen erfolgreich ein duales Konzept umsetzen
„Wir haben Hospitationsreisen unternommen, um uns erst mal anzusehen, wie andere Schulen erfolgreich ein duales Konzept umsetzen“, sagt Guido Schulz. Noch heute spricht er mit großer Begeisterung von diesen Besuchen an anderen Schulen. Eine Bildungsreise habe sie beispielsweise nach Baden-Württemberg an das Werkgymnasium Heidenheim geführt. An diesem Gymnasium hatte der Unterricht in Werkstätten ganz und gar nichts mehr zu tun mit dem verbreiteten Vorurteil, dass hier weniger mit dem Kopf als mit den Händen gearbeitet werde. Im Gegenteil: Die Verbindung von Theorie und Praxis brachte erstaunliche Lernergebnisse.
„Damit konnte ich mich gut identifizieren. Einen ähnlichen Ansatz hatte ich als Musiklehrer ohnehin“, sagt Schulz. Schon bald wechselte Schulz in die Schulleitung. Es folgten viele Studientage und Entwicklungsgespräche.
Die Schulaufsicht unterstützte die Kooperation mit einem Gymnasium
Schulz gelang es mit Unterstützung der Schulaufsicht, einen Schulversuch gemeinsam mit dem benachbarten Robert-Koch-Gymnasium zu starten. Die Schülerinnen und Schüler, die den mittleren Schulabschluss mit einer Empfehlung für die gymnasiale Oberstufe bestehen, können nun an der Graefe-Schule in die elfte Klasse wechseln, wo sie ein Jahr lang auf den Wechsel an die Oberstufe am Gymnasium vorbereitet werden.
Zusätzlich bot die Schulaufsicht an, dass die Schule einen bilingualen Europa-Schulzweig Deutsch/Spanisch erhält, der am Robert-Koch-Gymnasium fortgeführt wird. Damit waren die Weichen gestellt. Die Anmeldezahlen der Schule haben sich vervielfacht. Mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler hat die zehnte Klasse mit einer Berechtigung zur gymnasialen Oberstufe abgeschlossen.
Neuer Ansatz in der Schulaufsicht Friedrichshain-Kreuzberg setzt auf Vernetzung der Schulen
Im vergangenen Jahr wechselte Guido Schulz nach viereinhalb Jahren Schulleitung selbst in die Schulaufsicht von Friedrichshain-Kreuzberg. „Mich hat der neue Ansatz überzeugt“, sagt Schulz. In Friedrichshain-Kreuzberg werden die Schulräte nicht mehr bestimmten Schularten – von Gymnasium bis zur Förderschule – zugeteilt. Stattdessen sind die Zuständigkeiten nach Regionen zugeschnitten.
„Sozialräumliche Orientierung“ nennt sich dieses neue Modell, das in Berlin einzigartig ist. Ziel sei es, die Schulen in einem gemeinsamen Umfeld miteinander zu vernetzen. Dadurch entstehen ganz neue Entwicklungsmöglichkeiten, sagt Schulz. Gerade der Austausch über die verschiedenen Schularten hinweg schaffe neue Möglichkeiten. Das habe er als Schulleiter der Graefe-Schule hautnah erfahren können. „Häufig wissen Schulleiter gar nicht, welche tollen Konzepte es in den benachbarten Schulen gibt“, sagt Schulz. Das will er nun ändern.
Es ist wichtig, dass es eine Person gibt, die alle Schulen im Umfeld kennt und dann die passenden Kooperationspartner zusammenbringt.
In seinem Büro steht ein Fahrrad an der Wand. Zunächst schaut er sich alle Schulen in seinem Entwicklungsgebiet genau an – von den Grundschulen bis zu den Gymnasien. „Es ist wichtig, dass es eine Person gibt, die alle Schulen im Umfeld kennt und dann die passenden Kooperationspartner zusammenbringt.“
In die Vernetzungstreffen werden nicht nur die Schulleitungen, sondern auch das Jugendamt, das Schulamt und die Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentren (SIBUZ) mit einbezogen. Alle Schulen einer Region haben denselben Ansprechpartner in der Schulaufsicht. „Das hilft, Beziehungen und Vertrauen aufzubauen“, sagt Schulz. Auch für die Übergänge der Schülerinnen und Schüler von der Grundschule zur weiterführenden Schule verspricht Schulz sich positive Effekte, wenn sich die Schulen untereinander besser kennen. Der Modellversuch wird wissenschaftlich begleitet und evaluiert.
Kann das gut gehen, das Spezialistentum in der Verwaltung aufzulösen? Haben Gymnasien nicht einen ganz anderen Beratungsbedarf als etwa Förderschulen oder Grundschulen? Solche Fragen hört Schulz oft angesichts des Modellversuchs. Doch er ist überzeugt, dass genau diese sozialräumliche Orientierung große Vorteile bietet. Und die Spezialisten gebe es ja nach wie vor in der Verwaltung; auch wenn ihr Zuständigkeitsgebiet jetzt ein anderes ist, können sie bei spezifischen Fragen weiterhelfen.
„Wenn wir von den Schulen erwarten, dass sie kooperieren, müssen wir diese Kultur natürlich auch innerhalb der Verwaltung vorleben“, sagt Schulz.
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