Aufbruchsstimmung : School Turnaround: Wie Schulen die Wende schaffen
Die Albrecht-von-Graefe-Schule in Berlin-Kreuzberg war lange Zeit das, was in der öffentlichen Meinung mit „Brennpunktschule“ oder „Problemschule“ bezeichnet wird. Eltern wollten ihre Kinder lieber woanders zur Schule schicken. Doch mit Hilfe des Pilotprojekts „School Turnaround – Berliner Schulen starten durch“ hat die Albrecht-von-Graefe-Schule den Umbruch geschafft – ebenso neun andere Berliner Schulen in kritischer Lage. Das Schulportal beantwortet die wichtigsten Fragen zu School Turnaround und zu der jetzt veröffentlichten Begleitstudie.
„School Turnaround“ heißt übersetzt so viel wie „Schulwende“ oder „Schulumkehr“ – und genau das ist das Ziel des gleichnamigen Pilotprojekts „School Turnaround – Berliner starten durch“. Träger des Projekts sind die Robert Bosch Stiftung und die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie. Mit ihrer Unterstützung ermöglichte „School Turnaround“, dass Schulen in kritischer Lage wieder handlungsfähig werden. Über vier Schuljahre von 2013 bis 2017 erhielten die beteiligten Projektschulen nicht nur Expertenhilfe und Begleitung bei der Schulentwicklung, sondern auch passgenaue Unterstützungsmaßnahmen. Auf diesem Weg konnte School Turnaround Veränderungsprozesse an den Schulen anstoßen sowie eine nachhaltige und positive Schulentwicklung auf den Weg bringen.
Zum Pilotprojekt ist eine jetzt veröffentlichte wissenschaftliche Begleitstudie von Stephan Gerhard Huber und seinem Team von der Pädagogischen Hochschule Zug erschienen. Die Studie gibt Handlungsempfehlungen für die Praxis und bündelt die zentralen Ergebnisse von „School Turnaround – Berliner Schulen starten durch“.
Hier geht es direkt zur Studie.
Die öffentliche Meinung benennt mit den Begriffen „Brennpunktschule“ oder „Problemschule“ meist eine Schule, deren Klima von Gewalt geprägt ist und deren Schülerinnen und Schüler aus sozialbenachteiligten Familien stammen. Präziser ist jedoch die Definition von Schulen in kritischer Lage: Der Deutsche Schulpreis macht deutlich, dass viele Schulen, die in einem sozial deprivierten/belasteten Umfeld arbeiten, Lösungsansätze gefunden haben, um mit den Herausforderungen umzugehen. Einer Schule in kritischer Lage gelingt dies jedoch nicht. Ihre Entwicklungstendenz ist über Jahre hinweg erkennbar negativ. Davon betroffene Schulen sind handlungsunfähig – sie schaffen es nicht, den bestmöglichen Lernerfolg für ihre Schülerinnen und Schüler und die dafür nötige Organisations- und Unterrichtsqualität zu gewährleisten. Die Berliner Senatsbildungsverwaltung hat dazu mehrere Kriterien ermittelt.
Schulische Merkmale, die bei der Auswahl der Projektschulen in kritischer Lage eine Rolle gespielt haben:
- Unterrichtsausfall,
- unbesetzte Stellen in der Schulleitung und im mittleren Management (Fach- und Jahrgangsleitung),
- Gewaltmeldungen,
- Versetzungswünsche und Krankenstände des Personals,
- unentschuldigte Fehlzeiten der Schülerinnen und Schüler,
- Leistungsergebnisse (zum Beispiel Vergleichsarbeiten wie VERA-8, Abschlussprüfungen oder Übergangsempfehlungen),
- Quote der Schülerinnen und Schüler, die ohne Abschluss die Schule verlassen,
- Nachfrage durch Eltern.
Sozialräumliche Besonderheiten, die beim Auswahlprozess für „School Turnaround“ relevant waren:
- Anteil der Schülerinnen und Schüler, deren Eltern Transfermittel wie zum Beispiel „Hartz IV“ oder Arbeitslosengeld beziehen und von der Zuzahlung zu Lernmitteln befreit sind,
- Anteil der Schülerinnen und Schüler, die eine andere Muttersprache als Deutsch sprechen,
- Belastung des Sozialraumes (aus städtebaulicher, wirtschaftlicher und sozialer Perspektive).
Das Projekt „School Turnaround“ hat über eine Laufzeit von vier Schuljahren (2013 bis 2017) insgesamt zehn Berliner Schulen unterstützt – davon drei Grundschulen und sieben Integrierte Sekundarschulen.
Das sind die zehn „School Turnaround“-Schulen:
Integrierte Sekundarschulen
- Albrecht-von-Graefe-Schule in Berlin-Kreuzberg
- Ernst-Reuter-Schule in Berlin-Gesundbrunnen
- Gustav-Langenscheidt-Schule in Berlin-Schöneberg
- Hector-Peterson-Schule in Berlin-Kreuzberg
- Hedwig-Dohm-Oberschule in Berlin-Moabit
- Kepler-Schule in Berlin-Neukölln
- Refik-Veseli-Schule in Berlin-Kreuberg
Grundschulen
- Bücherwurm-Schule am Weiher in Berlin-Hellersdorf
- Peter-Pan-Grundschule in Berlin-Marzahn
- Silberstein-Schule in Berlin-Neukölln
Alle zehn Schulen des Pilotprojekts „School Turnaround“ haben ihre Schulkultur und das Schulmanagement nachhaltig verbessern können. Zu diesem eindeutigen Resultat kommt die jetzt veröffentlichte wissenschaftliche Begleitstudie von Stephan Gerhard Huber und seinem Team der Pädagogischen Hochschule Zug, die die wichtigsten Ergebnisse zusammenfasst und darüber hinaus Handlungsempfehlungen für die Praxis liefert. Demnach registrieren die Schulen zum Teil deutliche Verbesserungen in vielen Bereichen. Dazu zählen laut Studie:
- eine gesteigerte Handlungskoordination,
- Aufbau und Stärkung des mittleren Managements,
- optimierte Bedingungen und Strategien für Kooperation,
- positive Trends im Bereich der Unterrichtskooperation und der multiprofessionellen Zusammenarbeit,
- ein besseres Betriebsklima und eine höhere Zufriedenheit des Kollegiums mit der Schule als Ganzes.
Schulentwicklungsberaterinnen und -berater sind maßgeblich für den Erfolg der zehn Schulen verantwortlich: „Die wirksamste Intervention im Projekt „School Turnaround“ war die Unterstützung der Schulen durch einen externen Prozessbegleiter“, schreibt Uta-Micaela Dürig in ihrem Vorwort zur wissenschaftlichen Begleitstudie.
Doch was macht ein Schulentwicklungsberater? Drei Fragen an Paul Schuknecht, der die Kepler-Schule und die Silberstein-Schule für das Projekt „School Turnaround“ begleitet hat.
Schulportal: Was war Ihre Aufgabe als Schulentwicklungsberater?
Paul Schuknecht: Das war eine Kombination aus zwei Aufgaben – Schulentwicklung und Schulleiterunterstützung. Beide Schulleitungen, die ich begleitet habe, waren neu an der jeweiligen Schule. Sie haben sich gewünscht, dass sie eben nicht nur in Fragen der Schulentwicklung beraten werden, sondern auch Unterstützung von einem erfahrenen und kompetenten Schulleiter erhalten. Ich habe selbst lange eine Schule geleitet.
Wie sah Ihre Hilfe konkret aus?
In allererster Linie geht es darum, ein Führungsverständnis in der Schulleitung zu entwickeln: Welche Rolle spiele ich als Schulleitung? Wie muss ich mich gegenüber dem Kollegium verhalten? Wie groß ist mein Spielraum und welche Möglichkeiten habe ich? Daneben habe ich mich um ganz pragmatische Alltagsfragen gekümmert, denn beide Schulleiter hatten noch keinerlei Erfahrung in ihrer neuen Position. Gerade Konfliktsituationen mit dem Kollegium spielten immer wieder eine Rolle.
Welche Entwicklungen haben Sie im Laufe der Zeit an den Schulen beobachtet?
Es hat wirklich ein Dreivierteljahr gedauert, bis die Schulleitung etabliert war und auch im Kollegium akzeptiert wurde. Ich finde, meine Unterstützung hat dazu beigetragen, die Kommunikation zwischen Schulleitung und Kollegium auf einen deutlich besseren Weg zu bringen. Als das geschafft war, stand die Schulentwicklung im Fokus. Das Kollegium hat wieder Mut gefasst und verstanden, dass es selbst für Veränderungen an der Schule zuständig ist. Die Kraft für frischen Wind muss in erster Linie aus dem Kollegium kommen. Ich habe dann den Schulen gezeigt, wie sie in Teams arbeiten und die Beschlüsse, die sie gemeinsam gefasst haben, in der Praxis umsetzen.
Keine Schule ist wie die andere! Deshalb gibt es auch kein Patentrezept, mit dem Schulen in kritischer Lage den „School Turnaround“ schaffen können: Diesen Grundsatz macht die nun veröffentlichte wissenschaftliche Begleitstudie zum Pilotprojekt deutlich. „Die spezifische Problemlage lässt sich nur individuell betrachten. Entsprechend müssen auch Ziele und Maßnahmen bedarfsorientiert abgeleitet werden“, heißt es in der Publikation.
Statt eines konkreten Maßnahmenkatalogs beschreibt die Studie deshalb anzustrebende Zielzustände, die für alle Schulen gelten. Damit die Schulwende gelingen kann, ist „das Zusammenspiel all dieser Strukturen, Vorgehensweisen und Haltungen entscheidend“.
Ausgewählte Empfehlungen im Überblick:
- Alle am Prozess beteiligten Akteure nehmen sich insbesondere zu Beginn Zeit, um das Problem möglichst genau zu beschreiben und zu verstehen. Dabei können Daten helfen, wobei die Schulen Deutungshoheit über ihre Daten haben und unterstützt werden, damit sie ihre Daten auch bei ihrem Veränderungsprozess nutzen können.
- Die Schulleitung baut kooperationsfördernde Strukturen auf. Gremien und AGs entstehen dort, wo sie zur Erreichung der Ziele benötigt werden. So werden die Beteiligung des Kollegiums und die Identifikation mit der Schule und den gemeinsamen Zielen gestärkt.
- Die Schulaufsicht initiiert die Veränderungsprozesse dort, wo Schulen selbst nicht mehr handlungsfähig sind und begleitet die Beteiligten.
- Die koordinierende Steuerungsebene (zum Beispiel das Ministerium) achtet darauf, dass alle Verantwortlichen aus Schule, Schulaufsicht, Kommune beziehungsweise Bezirk und dem Unterstützungssystem regelmäßig zusammenkommen, um sich abzustimmen und die gemeinsam verabschiedeten Ziele nachzuhalten.
- Wie haben sich die zehn Berliner Schulen in einst kritischer Lage entwickelt? Die individuellen Entwicklungsporträts geben einen Überblick.
- Früher reichten die Eltern Klage ein, weil ihre Kinder die Berliner Refik-Veseli-Schule besuchen mussten, heute klagen die Mütter und Väter, wenn ihr Nachwuchs keinen Platz dort bekommt. Im Gespräch mit dem Schulportal erklärt Leiterin Ulrike Becker, wie die Refik-Veseli-Schule den Turnaround geschafft hat.
- Bundesfamilienministerin Franziska Giffey fordert im Interview mit dem Schulportal: „Die besten Lehrer gehören an die schwierigsten Schulen.“
- Die Neuköllner Rütli-Schule wurde mit einem dramatischen Brandbrief vor mehr als zehn Jahren bundesweit bekannt. Wie geht es der einstigen „Brennpunktschule“ heute? Hier geht es zur Antwort.
- Schulleiterin der Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli ist Cordula Heckmann. In einem Gastbeitrag für das Schulportal schreibt sie, „was Schulen in kritischer Lage wirklich brauchen“.
- Die vollständige, jetzt veröffentlichte Begleitstudie zum Pilotprojekt „School Turnaround – Berliner Schulen starten durch“ finden Sie hier.
Das Schulportal berichtet regelmäßig über Themen wie Schulentwicklung, Krisenbewältigung und Chancengleichheit.
Viel Spaß beim Lesen!