Raúl Krauthausen : Inklusions-Aktivist fordert Ausstieg aus den Förderschulen

Der Inklusions-Aktivist Raúl Krauthausen spricht sich im Interview mit dem Deutschen Schulportal für einen konsequenten Ausstieg aus dem Förderschulsystem aus. Erst dann könne Inklusion tatsächlich gelingen. Bisher sieht er kaum Fortschritte bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention an den Schulen in Deutschland.

Der Inklusions-Aktivist Raúl Aguayo-Krauthausen
Der Inklusions-Aktivist Raúl Aguayo-Krauthausen hat als Kind gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern an der Fläming-Grundschule in Berlin gelernt.
©Christian Meyer

Deutsches Schulportal: Herr Krauthausen, Sie werfen der Bildungspolitik in Sachen Inklusion ein „Totalversagen“ vor. Wie begründen Sie diese harte Kritik?
Raúl Krauthausen:
Das Problem ist, dass mit Bildung in der Politik generell kein Blumentopf zu gewinnen ist. Die Auswirkungen der Entscheidungen sind meist erst lange nach dem Ende der Legislaturperiode spürbar. Deshalb gibt es ständig Feuerlösch-Aktionen, die nicht nachhaltig sind. Was die Inklusion betrifft, so hatten vor zehn Jahren alle erkannt, dass diese Veränderung längst überfällig ist. Nur wurden für die Umsetzung nicht die nötigen Ressourcen bereitgestellt. Stattdessen wollte man einfach die Förderschulen schließen und die Schülerschaft auf die Regelschulen verteilen. Diese Rechnung geht nicht auf, und darunter leiden alle – nicht nur die Kinder mit und ohne Behinderungen, sondern auch Lehrkräfte und Eltern. Mit der Unzufriedenheit der Eltern wurde schließlich Stimmung gemacht und der Erhalt der Förderschulen begründet. Dadurch sind wir heute kaum einen Schritt weiter gekommen. Der Anteil der Kinder, die eine Förderschule besuchen, ist heute fast genauso groß wie vor zehn Jahren. Das heißt: Nach wie vor wird separiert.

Solange Kinder im Bildungssystem keine Vielfalt erleben, werden auch später die Ängste vor der Vielfalt weiter bestehen.

Sie haben kürzlich eine Replik auf das Buch „Die Inklusionsfalle“ von Michael Felten veröffentlicht. Felten argumentiert, dass Förderschulen Schon- oder Schutzraum für behinderte Kinder sein können und deshalb erhalten bleiben sollten. Sie sagen: Inklusion gelingt erst, wenn die Förderschulen abgeschafft sind. Warum?
Wer sagt denn, dass behinderte Kinder an einer Förderschule nicht gemobbt werden? Wer sagt, dass dort keine Stühle durchs Klassenzimmer fliegen? Wer sorgt sich denn ernsthaft um die Bildungsqualität an Förderschulen? Wissenschaftliche Studien – wie die von Klaus Klemm  – haben nachgewiesen, dass der Lernerfolg von behinderten Kindern an Förderschulen geringer ausfällt. Klemm spricht von einer „Schonraumfalle“. Die Menschen orientieren sich an ihrem Umfeld. Je länger ein Kind an einer Förderschule lernt, desto größer wird der Leistungsabstand zur Mehrheitsgesellschaft. Solange es Förderschulen gibt, wird es Lehrerinnen und Lehrer an Regelschulen geben, die sagen: Wir können dieses behinderte Kind hier nicht unterrichten. Ein echtes Umdenken werden wir erst erreichen, wenn wir den konsequenten Ausstieg aus dem System Förderschule beschließen. Solange Kinder im Bildungssystem keine Vielfalt erleben, werden auch später die Ängste vor der Vielfalt weiter bestehen. Wir sehen ja auch – anderes Beispiel –, dass die Fremdenfeindlichkeit genau dort am größten ist, wo der Ausländeranteil besonders gering ist.

Wer behauptet, dass behinderte Kinder nur von Spezialkräften unterrichtet werden können, der betreibt schon wieder eine Form der Separation.

An den Förderschulen arbeiten Spezialistinnen und Spezialisten, die es an den Regelschulen meist nicht gibt, Viele Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich mit der Inklusion überfordert. Wie ist dieses Problem zu lösen?
Inklusionsgegner argumentieren immer wieder mit dem Mangel an speziellen Fachkräften an Regelschulen. Wer behauptet, dass behinderte Kinder nur von Spezialkräften unterrichtet werden können, der betreibt schon wieder eine Form der Separation. Es ist bei den vielen verschiedenen Formen von Behinderungen schlicht unmöglich, für jedes Kind die richtige Fachkraft an einer Schule zu haben. Jedes Jahr kommen neue Kinder an eine Schule – das kann in diesem Jahr ein Kind sein, das nicht sehen kann, und im nächsten Jahr ein Kind, das nicht hören kann. Es sollte regionale Kompetenzzentren geben, wo sich die Lehrerinnen und Lehrer jeweils die Unterstützung holen können, die sie gerade brauchen. Die Schule passt sich den Kindern an und nicht umgekehrt. Warum sollte es zum Beispiel nicht möglich sein, Gebärdensprache für alle Kinder als Fremdsprache anzubieten? Wichtig ist es, die behinderten Kinder nicht einfach den sonderpädagogischen Fachkräften zu überlassen, sondern in Teams zusammenzuarbeiten. Diese Teamarbeit haben viele Lehrkräfte nicht gelernt. Referendarinnen und Referendare, die heute aus der Ausbildung kommen, haben da schon eine ganz andere Haltung. Das gibt mir große Hoffnung.

Es gibt immer noch Kinder, die kein Abitur machen können, weil das Gymnasium in ihrer Nähe nicht barrierefrei ist.

Wie haben Sie als Kind Ihre Schulzeit erlebt? Waren Sie selbst an einer Regelschule oder an einer Förderschule?
Ich hatte Glück: Ich war bereits in einem Berliner Kindergarten, in dem behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam betreut wurden. Danach wurde ich gemeinsam mit Freunden in die nahe gelegene Fläming-Grundschule eingeschult – die Schule war schon damals in Sachen Integration eine Vorreiterschule. In jeder Klasse unterrichteten zwei Pädagogen. Davon haben alle Kinder profitiert – nicht nur jene mit Behinderung! Ich kann mich noch gut erinnern, wie ein geistig behindertes Mädchen in der fünften Klasse sagte, sie möchte jetzt auch wie die anderen schreiben lernen. Und tatsächlich konnte sie am Ende des Schuljahrs ihren Namen schreiben. Sie war sehr stolz, und wir waren es auch. Ein solches Erlebnis hätte sie an in der Förderschule für geistig behinderte Kinder wahrscheinlich nie gehabt. Natürlich hätte es auch passieren können, dass sie scheitert. Aber auch behinderte Kinder haben ein Recht auf Niederlagen. Es ist ein Fehler, wenn wir sie ständig davor schützen wollen. Nach der Grundschule wechselte die gesamte Klasse an die ebenfalls integrative Sophie-Scholl-Schule. Hier konnte man alle Abschlüsse machen, auch das Abitur – dieses Angebot gibt es an den Förderschulen in der Regel nicht. Es gibt immer noch Kinder, die kein Abitur machen können, weil das Gymnasium in ihrer Nähe nicht barrierefrei ist. Und das ist ganz klar Diskriminierung!

Zur Person

  • Der Inklusions-Aktivist Raúl Aguayo-Krauthausen ist Gründer von Sozialhelden e. V.. Der Verein organisiert ein Netzwerk ehrenamtlich engagierter Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen.
  • Als studierter Kommunikationswirt und Design Thinker arbeitet Krauthausen seit mehr als  15 Jahren in der Internet- und Medienwelt.
  • Seit 2011 ist er Ashoka Fellow und engagiert sich bei den Sozialhelden.
  • 2013 wurde Raúl Krauthausen mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.
  • Im Januar 2014 veröffentlichte er seine Biografie „Dachdecker wollte ich eh nicht werden. Das Leben aus der Rollstuhlperspektive“.
  • Seit 2015 moderiert er mit „KRAUTHAUSEN – face to face“  seine eigene Talksendung zu den Themen Kultur und Inklusion auf Sport1.
  • Auf Twitter und Facebook  führt er einen lebhaften Dialog zum Thema Inklusion