Selbstkonzept und MINT : „Lehrkräfte merken oft nicht, dass sie Stereotype reproduzieren“

Jungen in den vierten Klassen haben ein positiveres Selbstkonzept im Fach Mathematik als Mädchen, und sie interessieren sich auch stärker dafür. Das hat zuletzt der IQB-Bildungstrend 2021 gezeigt. Frühere Studien kommen für die MINT-Fächer zu ähnlichen Ergebnissen. Antje Langer, Professorin für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Geschlechterforschung an der Universität Paderborn, erklärt im Interview, wieso sich Mädchen in den MINT-Fächern häufig weniger zutrauen – und was Schulen tun können, um das Selbstkonzept der Mädchen zu stärken.

zwei Jungen zeigen Muskeln
Rollenstereotype werden vom gesamten Umfeld geprägt.
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Schulportal: Was verbirgt sich hinter dem Begriff „Selbstkonzept“?
Antje Langer: Dabei geht es um das Verständnis, das wir von uns selbst haben. Es ist stark geprägt davon, welche Dinge ich mir zutraue und welche eher nicht. Denken Sie an ein Spiegelbild: Wir sehen im Spiegel nicht das, was andere sehen, sondern interpretieren immer etwas hinein. So könnte man auch das Selbstkonzept verstehen: als eine Interpretation des eigenen Selbst. Diese Interpretation wirkt sich auf unsere Handlungen aus.

Wie hängt das Selbstkonzept mit Interessen zusammen?
Es wirkt wie ein Resonanzboden. Interessen sind ja nicht von vornherein da. Sie bilden sich heraus, indem ich mich mit Dingen beschäftige und Angebote wahrnehme. Es spielt also eine Rolle, welche Angebote Kinder bekommen. Und das ist geschlechterbezogen aufgeladen. Beispielsweise wird in Spielewelten unterstellt, dass sich Jungen und Mädchen für unterschiedliche Dinge interessieren – Jungen für Action und Technik, Mädchen für alles Sorgende. Das ist zunächst eine Unterstellung, wird ihnen aber immer wieder nahegelegt. So bilden sich Interessen heraus, die Kinder erfahren positive Resonanz, die Motivation steigt.

Der IQB-Bildungstrend zeigt, dass Mädchen in den MINT-Fächern ein negativeres Selbstkonzept haben als Jungen. Wie dramatisch ist dieser Unterschied?
Der Geschlechterunterschied wirkt sich weniger aus als zum Beispiel der sozioökonomische Hintergrund. Trotzdem müssen wir das ernst nehmen, unter anderem weil es sich auf die Berufswahl auswirkt. Allerdings nimmt die Studie auch nicht die individuellen Unterschiede in den Blick, obwohl natürlich das Selbstkonzept nicht bei allen Mädchen oder bei allen Jungen gleich ist.

In den vergangenen Jahren wurde viel über Geschlechterstereotype gesprochen. Gibt es eine Entwicklung zu mehr Vielfalt?
Wir sprechen darüber, reproduzieren die Stereotype aber weiter. Gesellschaftlich gibt es noch immer eine sehr klare Vorstellung davon, wie Frauen und Männer, Mädchen und Jungen zu sein haben. Andererseits gibt es tatsächlich vielfältigere Möglichkeiten und viele Versuche, nicht so stereotyp zu agieren. Dieser Widerspruch ist vielleicht das Neue, dem Kinder im Aufwachsen begegnen. Außerdem geht es zunehmend auch um diejenigen, die sich gar nicht in die Zweigeschlechtlichkeit einordnen können oder wollen. Damit kommt eine neue Dynamik ins Spiel.

Rollenstereotype werden vom gesamten Umfeld geprägt. Welchen Einfluss hat Schule auf die Entwicklung eines positiven Selbstkonzepts in bestimmten Schulfächern?
Einen großen Einfluss! Nicht nur, weil Schule ohnehin für die Sozialisation von großer Bedeutung ist, sondern auch, weil Schule Wissen legitimiert. Sowohl die Lerninhalte als auch das Handeln der Lehrkräfte spielen eine wichtige Rolle. Gerade in der Grundschule sind die Lehrkräfte wichtige Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter.

Wie reproduziert Schule Geschlechterstereotype?
Schule ist sehr zweigeschlechtlich organisiert. Das sieht man zum Beispiel in den Schulbüchern, bei Sitzordnungen oder an Farben. Deutsch hat zum Beispiel häufig den roten Umschlag und Mathe den blauen. Gleichzeitig gilt Rot eher als weiblich, Blau als männlich. Die Fächer sind also mit Geschlechterbezügen konnotiert. Es gibt sehr viele solche Beispiele, deshalb ist es schwer, sich davon zu verabschieden. Ich glaube aber, dass das den Kindern leichterfiele als den Erwachsenen. Lehrkräfte merken oft nicht, dass sie Stereotype reproduzieren.

„Wenn in der Klasse Tische getragen werden müssen, dann ist es völlig überflüssig zu sagen: ‚Wo sind die starken Jungs?‘“

Was tun diese Lehrkräfte denn?
Befragt man Lehrkräfte, dann sagen sie meistens, dass sie Jungen und Mädchen gleichbehandeln. In der Praxis zeigt sich aber oft, dass sie Mädchen und Jungen unterschiedlich ansprechen und auch unterschiedliche Erwartungen haben – beispielsweise an das Schriftbild. Bei Mädchen wird stärker eingefordert, schönzuschreiben.

Manchmal unterscheiden Lehrkräfte sogar absichtlich zwischen den Geschlechtern – wenn sie zum Beispiel glauben, dass sie Jungen und Mädchen nur mit unterschiedlichen Materialien gleichermaßen ansprechen können. Die Mädchen bekommen das Material mit dem Pferd, die Jungen das mit dem Ritter. Die Lehrkräfte halten das für geschlechtergerecht, weil sie vermeintlich damit alle bei deren Interessen abholen.

Was könnte eine Schule machen, um Stereotype nicht zu verstärken?
Es ist immer gut, wenn das im Rahmen der Schulentwicklung geschieht. Zum einen sollten die Lehrkräfte die Gelegenheit bekommen, einander gegenseitig zu beobachten und Rückmeldung zu geben – das ist nötig, um sich überhaupt erst mal das eigene Handeln zu vergegenwärtigen. Zum anderen und darüber hinaus braucht es Fortbildungen, damit die Lehrkräfte lernen, was es bedeutet, geschlechterreflektiert zu handeln.

Für ein Schulkonzept wäre auch wichtig, die Schulmaterialien kritisch durchzusehen. Darüber könnten die Lehrkräfte gut ins Gespräch kommen: Bilden unsere Materialien Vielfalt ab? Wer macht die Experimente? Wer ist in welchen Berufen dargestellt? Die Schulbuchforschung zeigt, dass sich die Schulbücher zwar entwickelt haben, aber vielfach noch recht stereotyp sind – vor allem wenn die Schulen ältere Ausgaben benutzen.

Was können einzelne Lehrkräfte tun?
Es gibt viele gute Angebote zur Fortbildung – auch im Internet. Ich empfehle zum Beispiel FUMA, die Fachstelle Gender & Diversität NRW, mit vielen kostenfreien digitalen Lernangeboten. Auch hier, am Zentrum für Geschlechterstudien der Universität Paderborn, produzieren wir digitale Materialien für Lehrkräfte. Ein weiterer Tipp ist das Institut Dissens . Unter dessen Materialien gibt es ein Konzept von Katharina Debus , das ich besonders brauchbar finde. Es schlägt drei verschiedene Ansätze vor, um in der Schule geschlechterreflektiert zu arbeiten: die Dramatisierung, die Entdramatisierung und die Nichtdramatisierung von Geschlecht.

Worum geht es dabei?
In manchen Situationen ist es sinnvoll, Geschlecht zu dramatisieren, also in den Mittelpunkt zu stellen – etwa, um Stereotype aufzudecken. Eine Entdramatisierung folgt auf eine Dramatisierung und betont: Wir haben zwar strukturelle Ungleichheiten, trotzdem sind die individuellen Unterschiede groß. Bei der Nichtdramatisierung geht es darum, Geschlecht nicht zu betonen, wenn es gar keine Rolle spielt. Wenn zum Beispiel in der Klasse Tische getragen werden müssen, dann ist es völlig überflüssig zu sagen: „Wo sind die starken Jungs?“ Ich finde dieses Modell sehr hilfreich, um einerseits die eigene Arbeit zu reflektieren und sich andererseits auch zu überlegen, wie man das didaktisch nutzen kann.

Könnte es negative Folgen für die Jungen haben, wenn Lehrkräfte geschlechterreflektierter arbeiten und zum Beispiel ein positives Selbstkonzept der Mädchen in den MINT-Fächern stärken möchten?
Hinter solchen Befürchtungen steht eine Wettbewerbslogik. Eigentlich geht es aber darum, dass alle frei ihre Interessen entwickeln und ihnen nachgehen können. Dass wir also die Möglichkeitsräume der Kinder nicht von vornherein schmaler machen – auch nicht die der Jungen. Wenn wir schon in einer Gewinnlogik denken, dann können eigentlich alle nur gewinnen, wenn wir sie weniger in Stereotype pressen.

Zur Person

Antje Langer
©Privat
  • Antje Langer ist Professorin für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Geschlechterforschung an der Universität Paderborn und leitet dort das Zentrum Geschlechterstudien/Gender Studies (ZG).
  • Ihre Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Geschlechterforschung und -theorie, gesellschaftliche Bedingungen des Aufwachsens, Jugendforschung, Sexualpädagogik.
  • Aktuelle Veröffentlichungen sind u. a. Mitherausgeberschaft von „Pädagogik und Geschlechterverhältnisse in der Pandemie. Analyse und Kritik fragwürdiger Normalitäten“ (2022) und „Pädagogik und Sexualität. Analysen eines Konfliktfeldes“ (2023).

Mehr zum Thema

Der Deutsche Bildungsserver hat ein Dossier zum Thema Stereotype zusammengestellt. Lehrkräfte finden hier Hintergrundinformation, Forschungsergebnisse, Unterrichtsmaterialien und Hinweise zu Schulprojekten, die sich mit dem Thema beschäftigen.