Film-Tipp : Schule kann anders sein!

Die Dokumentation zeigt den Alltag einer Schulklasse, wie es sie überall in Deutschlands gibt. Viele Kinder haben Migrationshintergrund, viele Kinder tun sich schwer mit dem Lernen. Und doch ist „Herr Bachmann und seine Klasse“ ein einzigartiger Film. Weil es einen Lehrer wie Dieter Bachmann wohl kaum irgendwo anders gibt. Weil er es auf seine ganz besondere Art schafft, die Kinder seiner 6. Klasse wachsen zu lassen. Dieser Film belehrt nicht, dieser Film macht Mut: Schule kann anders sein! „Herr Bachmann und seine Klasse“, Gewinner des Silbernen Bären bei der Berlinale, kommt am 16. September in die Kinos.

Lehrer Bachmann jongliert
Manchmal erreicht Herr Bachmann seine Schülerinnen und Schüler am besten mit seiner Gitarre oder beim Jonglieren.
©Madonnen Film
Schülerinnen im Klassenzimmer
Einige Kinder in der Klasse von Herrn Bachmann leben erst seit wenigen Monaten in Deutschland.
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Jungen im Klassenzimmer
Es gibt Tage, da fällt es den Kindern in der Klasse schwer, sich zu konzentrieren.
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Ansicht Stadtallendorf
In der kleinen Industriestadt Stadtallendorf leben viele Menschen mit Migrationshintergrund.
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Eine dreieinhalbstündige Dokumentation über eine Schulklasse irgendwo in der hessischen Provinz. Alles wird hier in Echtzeit gezeigt: Eine Schweigeminute dauert eine Minute. Den Aufsatz einer Schülerin über einen Hund und eine Katze, in dem kaum ein Artikel stimmt und der auch keinen roten Faden hat, muss sich das Kinopublikum genauso geduldig von vorn bis hinten anhören wie der Rest der Klasse.

Muss man sich einen solchen Film anschauen?

Man muss natürlich nicht. Aber wenn man ihn anschaut, dann weiß man, was man verpasst hätte, wenn man sich von der Überüberlänge hätte abschrecken lassen. Die spielt erstaunlicherweise auch sehr schnell keine Rolle mehr. Im Gegenteil: Stefi, Mattia, Ilknur, Eyman, Ferhan, Hasan und die anderen Kinder wachsen einem in den dreieinhalb Stunden so sehr ans Herz, dass der Abschied von ihnen und diesem Film danach schwerfällt.

Und natürlich auch der Abschied von ihrem Klassenlehrer, Herrn Bachmann.

Der Dokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“ der Regisseurin Maria Speth feierte Anfang März bei der Berlinale Weltpremiere. Er wurde sowohl mit dem Silbernen Bären als auch mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Am 16. September kommt er nun in die Kinos.

Ein ungewöhnlicher Lehrer mit Mütze, Gitarre und viel Gelassenheit

Der Film begleitet die 12- bis 14-Jährigen einer 6. Klasse der Georg-Büchner-Schule im hessischen Stadtallendorf. Es ist eine kooperative Gesamtschule – die drei Schulzweige Hauptschule, Realschule und Gymnasium arbeiten unter einem Dach. Die Schülerinnen und Schüler der 5. und 6. Klasse besuchen die Förderstufe. Am Ende dieser zweijährigen Phase steht die Entscheidung an, auf welchen Schulzweig sie danach wechseln.

Zu Beginn des Films ist es Winter. Es ist noch lange dunkel, als die Stadt längst erwacht ist. Rauch steigt aus den Schornsteinen der Stadt auf. Schulkinder steigen aus den Bussen. Der Klassenraum der 6b ist noch leer. Nur ein kleiner, mit Schnee aus der Sprühdose überzogener Kunstweihnachtsbaum steht auf einem Tisch. Blass und noch sichtlich müde kommen die Kinder herein. „Seid ihr müde?“, fragt der Klassenlehrer, Herr Bachmann. Fast alle Finger gehen hoch. „Dann tauchen wir alle noch mal zwei, drei Minuten ab.“ Alle lassen ihre Köpfe auf den Tisch sinken. Ein ungewöhnlicher Start in den Schultag.

Natürlich gibt es bei Herrn Bachmann auch Aufsätze und Englisch-Tests

Aber Herr Bachmann ist ja auch kein gewöhnlicher Lehrer. Schon sein Erscheinungsbild: AC/DC-Shirt über einem Kapuzenpulli, und immer eine Mütze auf dem Kopf. Mal gehäkelt, mal gestrickt, mal bunt, mal uni. Die Mütze gehört zu ihm, wie die Gitarre und die Jonglierbälle zu seinem Unterricht gehören. Es gibt Situationen, da erreicht er damit die Kinder am besten. Man könnte das als Beziehungsarbeit verbuchen.

Aber Herr Bachmann ist nicht der Typ fürs Verbuchen. Er macht einfach Musik mit den Kindern, wenn er das Gefühl hat, es sei der richtige Moment dafür. Er scheint eine Intuition für den richtigen Moment zu haben. Und er erobert sich das Vertrauen der Kinder. Er lacht mit ihnen und tröstet sie. Er bezieht sie in die Unterrichtsgestaltung und in die Leistungsbewertung mit ein. Er fordert sie heraus und bleibt auch in schwierigsten Situationen gelassen. Und manchmal macht er auch klare Ansagen.

Natürlich wird in der Klasse von Herrn Bachmann nicht nur Gitarre gespielt und jongliert, natürlich schreiben die Schülerinnen und Schüler auch Aufsätze und Englisch-Tests. Schulleiterin Amanda Chisnell betont das auch im Gespräch mit dem Schulportal. Sie will nicht den Eindruck erwecken, dass es an der Georg-Büchner-Schule nicht klassischen Fachunterricht gibt, dass die Kinder womöglich wenig lernen würden.

Wer den Film anschaut, kommt allerdings gar nicht auf diese Idee. Man ist dabei, wenn das Deutsch von Stefi und Hasan, die erst seit ein paar Monaten in Deutschland leben, immer besser wird. Man erlebt, wie Ferhan und Tim aus ihrem Schneckenhaus herauskommen und sich immer mehr zutrauen.

In der 6b sind 19 Kinder aus 12 Nationen

Man staunt, wie gut alle diskutieren können, auch wenn ihnen manchmal noch die deutschen Worte fehlen. Mal geht es um Freundschaft und das soziale Miteinander, sogar um Liebe. Mal geht es um Heimat und Herkunft. Es ist ein Thema, das hier alle berührt. In der Klasse 6b sind 19 Kinder aus 12 Nationen. Ihre Eltern sind meist wegen der Arbeit nach Stadtallendorf gekommen.

In der kleinen Stadt nahe Marburg leben rund 20.000 Menschen. Ende der 1930er-Jahre wurde aus dem einstigen Fachwerkdorf ein Industriestandort. Die Nationalsozialisten ließen hier zwei Sprengstofffabriken errichten, in denen zeitweilig 17.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus 22 Nationen arbeiteten. Längst ist der Sprengstoff aus Stadtallendorf bzw. „Allendorf“, wie der Ort damals noch hieß, Geschichte. Die Fabriken aber sind geblieben. Heute produzieren in Stadtallendorf vor allem der Süßwarenhersteller Ferrero und die Eisengießerei Fritz Winter. Der Ausländeranteil ist mit 25 Prozent groß, der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund noch viel größer.

Die Schule als Institution hat mich von Anfang an befremdet – bis heute.
Dieter Bachmann, pensionierter Lehrer der Georg-Büchner-Schule in Stadtallendorf

Die Georg-Büchner-Schule ist eine Schule in herausfordernder Lage. Die Kinder in Herrn Bachmanns Klasse haben alle ihr Päckchen zu tragen. Manche fühlen sich in der Stadt nicht zu Hause. Manche sind viel allein, weil beide Eltern Schichtdienst haben. Manche müssen sich neben der Schule um ihre Geschwister kümmern, obwohl sie selbst noch Kinder sind.

Unterstützung beim Lernen gibt es zu Hause selten. Manche Kinder dolmetschen für ihre Eltern, weil die noch viel weniger Deutsch können. Auch bei Elterngesprächen ist das oft so. „Das ist nicht ideal“, sagt die Schulleiterin.

Herr Bachmann schaut auf die Fortschritte, nicht auf die Defizite

Die Zusammenarbeit mit den Eltern sei ohnehin die größte Herausforderung an der Schule. Allein schon mit ihnen in Kontakt zu treten sei schwierig. Und dann hätten viele Eltern oft selbst keine guten Erfahrungen mit der Schule gemacht. Ihr Kind wollen die meisten aber am liebsten auf dem Gymnasium sehen. Dass es auch andere Wege gibt, sei nicht immer leicht zu vermitteln.

Für die Kinder ist das ein zusätzlicher Druck. Herr Bachmann versucht, ihnen diesen Druck zu nehmen und sie zugleich zu stärken. Er führt viele Feedback-Gespräche mit den Schülerinnen und Schülern und lässt sie selbst ihre Leistung einschätzen.

Er richtet seinen Blick auf die Fortschritte, nicht auf die Defizite. Er versucht die Kinder dazu zu bewegen, sich gegenseitig zu unterstützen. Er hat damit mal Erfolg – und mal nicht. Er ist nicht beleidigt, wenn es nicht klappt. Aber er wird es wieder versuchen.

Mit 40 wollte er aus dem Lehrerberuf eigentlich wieder raus

Und Herr Bachmann traut den Kindern viel zu. Im Film sagt er mal zu einem jungen Kollegen: „Ich finde, die Kinder in Stadtallendorf sind alle mutig.“ Und er erzählt dann, wie er mal einer Klasse Schwimmunterricht gegeben hat. Alle Kinder seien da vom Drei-Meter-Brett gesprungen. Er überlegt kurz und fügt noch hinzu: „Sie wären wahrscheinlich auch vom Zehn-Meter-Brett gesprungen.“

Herr Bachmann hat erst Soziologie studiert, danach Lehramt. Eigentlich wollte er gar nicht Lehrer werden, erzählt er im Film, aber er musste Geld verdienen. „Die Schule als Institution hat mich von Anfang an befremdet – bis heute.“

Mit 40 wollte er eigentlich wieder aufhören. Er hatte das Gefühl, nicht selbst gestalten zu können, die Kinder immer „dressieren“ zu müssen. Wieso er dann doch geblieben ist? Weil er irgendwann überzeugt war, dass es auch anders gehen könnte, ohne „Dressur“. Dass das meiste an seiner Arbeit schon Sinn macht. Und weil er gern mit Kindern arbeitet.

Herr Bachmann ist inzwischen pensioniert, viele Kinder der damaligen 6b haben ihren Schulabschluss und ihren Weg gemacht. Zum Glück bleiben sie aber im Gedächtnis– im Film „Herr Bachmann und seine Klasse“.

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