Psychosoziale Versorgung : „Der Leistungsdruck in den Schulen ist Teil der Belastungsfaktoren“

Auch wenn der Schulbetrieb inzwischen wieder normal läuft, sind die psychosozialen Belastungen bei Schülerinnen und Schülern infolge der Pandemie groß – und Therapieplätze rar. Oft müssen Betroffene Wochen oder sogar Monate warten. Verlässliche Daten dazu fehlen allerdings bislang. Das neue Forschungsprojekt „Monitor Bildung und psychische Gesundheit (BiPsy-Monitor)“ soll das ändern. Ziel ist ein längsschnittlicher bundesweiter Monitor, der die psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen in ambulanten psychotherapeutischen Versorgungsstrukturen sowie an Bildungseinrichtungen entlang der Zeitachse abbildet. Das Projekt wird von der Universität Leipzig, der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und der Robert Bosch Stiftung umgesetzt. Zum Start des Projekts sprach das Schulportal mit Projektleiter Julian Schmitz über Hintergrund und Ziele des Monitors.

Erwachsener und Kind halten sich an den Händen
Kinder und Jugendliche mit psychosozialen Störungen müssen oft monatelang auf einen Therapieplatz warten.
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Deutsches Schulportal: Wie schätzen Sie die psychosoziale Verfassung von Kindern und Jugendlichen aktuell ein?
Julian Schmitz: Obwohl der Schulbetrieb mittlerweile wieder normal läuft, haben die psychosozialen Belastungen bei Kindern und Jugendlichen eher noch zugenommen. Das hat auch das Deutsche Schulbarometer gezeigt. Zwischen den Befragungszeitpunkten im September 2021 und April 2022 haben Lehrkräfte sogar noch mal eine Zunahme von auffälligen Verhaltensweisen beobachtet. Das hängt damit zusammen, dass der Leistungs- und Aufholdruck in den Schulen ein Teil der Belastungsfaktoren ist, die auf Kinder und Jugendliche wirken. Dazu kommen aktuell wirtschaftliche Sorgen in den Familien infolge der Inflation, Ängste wegen des Kriegs in der Ukraine und des Klimawandels. Diese zusätzlichen Belastungsfaktoren treffen auf ungünstige Voraussetzungen, weil die Familien durch die Corona-Pandemie schon erschöpft sind.

Welche Hilfe bekommen die Kinder und Jugendlichen?
Das Hilfesystem ist extrem stark belastet, sowohl im therapeutischen Bereich als auch in der psychosozialen Jugendhilfe. Die Wartezeiten auf einen Therapieplatz waren schon vor der Pandemie sehr lang und haben sich in der Pandemie noch mal verdoppelt. Nach einer Studie, die wir im Sommer durchgeführt haben, ist die Wartezeit für ein therapeutisches Erstgespräch von fünf auf zehn Wochen gestiegen, für einen Therapieplatz von drei auf sechs Monate. Besonders schwierig ist es im ländlichen Raum. Dort liegt die Wartezeit zum Teil deutlich über einem Jahr. In unserer Ambulanz haben wir regelmäßig schwer kranke Kinder mit wiederkehrenden Suizidgedanken, die keinen Therapieplatz finden.

Wir müssen dringend die psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen verbessern. Und vor allem brauchen wir eine psychosoziale Versorgung, die Kinder und Jugendliche frühzeitig erreicht. Psychische Belastungen, die im Kindes- und Jugendalter entstehen, wirken sich negativ in allen Bereichen ihrer Entwicklung aus. Sie führen zu weiteren psychischen Störungen, zu Problemen in der sozialen Teilhabe, zu schlechteren Schulleistungen und Bildungsabschlüssen. Das Störungsbild wird immer komplexer, je länger es besteht. Wir wissen aus der Forschung, dass zwei Drittel aller psychischen Erkrankungen im Erwachsenenalter bereits im Kindesalter beginnen.

Monitor zur psychosozialen Versorgungslage soll verlässliche Daten liefern

Wieso ist die Versorgungslage für Betroffene so schlecht?
Es gibt genug therapeutisches Personal, aber es werden nicht genug Zulassungen ermöglicht. Ein Gutachten mehrerer Universitäten aus dem Jahr 2018 zeigt eine Bedarfsplanung, laut der mindestens 2.500 Kassensitze im psychotherapeutischen Bereich für Kinder und Jugendliche fehlen. Und diese Zahlen sind noch aus der Zeit vor Corona.

Sie wollen an der Universität Leipzig zusammen mit der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und der Unterstützung durch die Robert Bosch Stiftung ein Monitoring der psychosozialen Versorgungslage von Kindern und Jugendlichen aufbauen. Was wollen Sie damit erreichen?
Mit dem Monitoring bekommen wir über einen Zeitraum von vier Jahren einen Überblick über die psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen und in den Bildungseinrichtungen, also vor allem in den Schulen. Wir haben dazu bisher keine verlässlichen, kontinuierlichen Zahlen.

Wir wollen eine Argumentationsgrundlage liefern, dass etwas getan werden muss. Die Krankenkassen vertreten häufig die Position, die psychosoziale Versorgung sei nicht schlechter geworden und es gebe auch keinen erhöhten Bedarf, sondern sogar eine Überversorgung in vielen Gebieten. Sie beziehen sich dabei in der Regel auf Abrechnungsdaten. Danach wurden in der Corona-Pandemie nicht mehr Psychotherapien abgerechnet als vorher. Aber die Praxen waren schon vor der Pandemie voll, ein Anstieg an Therapien war in der Pandemie nicht möglich, weil es auch nicht mehr Plätze gab. Wir wollen eine Grundlage schaffen, um eine realistische Bedarfsplanung zu erreichen.

Aber es geht uns nicht nur darum, die Versorgungslage abzubilden, sondern auch darum, zu zeigen, wo Barrieren ins Hilfesystem liegen, was sich an den Schnittstellen verbessern lässt, was sich in den Schulen ändern kann.

Psychische Gesundheit in Schulen stärker zum Thema machen

Was können Schulen dazu beitragen, um die Versorgung zu verbessern?
Das kann und sollte auf mehreren Ebenen geschehen. Psychische Gesundheit sollte stärker Thema in den Schulen sein. Es muss als Auftrag von Schule verstanden werden, sich damit zu befassen und sollte auch curricular verortet sein. Das ist kein „Nice to have“-Add-on!

Es sollte auch mehr Angebote durch die Schulsozialarbeit geben. Das können Gruppenangebote sein: zum Beispiel zum Umgang mit Gefühlen, Streitschlichterprogramme oder soziales Kompetenztraining. Solche Angebote sind im schulischen Kontext sehr wirksam. Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter können aber auch individuelle Gespräche mit Kindern führen, wenn diese Auffälligkeiten zeigen.

Wenn das nicht reicht, können die Betroffenen über die Schulen schneller und niedrigschwelliger in eine psychotherapeutische Versorgung vermittelt werden. Viele psychisch belastete Kinder kommen aus Familien, die keinen einfachen Zugang ins therapeutische System haben. Sie lassen sich über die Schulen oft besser erreichen.

Wir brauchen Prüfungsformate, die nicht mit Druck verbunden sind und positive Emotionen auslösen.

Was kann sich konkret in den Schulen verändern, damit sie als weniger belastend erlebt wird?
Schulen könnten viel mehr für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen tun. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Schule für Kinder und Jugendliche aktuell einer der Hauptbelastungsfaktoren ist.

Man sollte hier unter anderem besonders bei der Prüfungskultur ansetzen. Die klassischen Prüfungsformate, bei denen Schülerinnen und Schüler eine Leistung allein und unter Zeitdruck abrufen müssen, ist besonders für Kinder mit psychischen Belastungen häufig eine Überforderung, und das wirkt sich wiederum negativ auf ihre psychische Gesundheit aus. Sie erleben Kontrollverlust und haben Versagensängste. Dieses misserfolgsorientierte Klima löst einen Teufelskreis aus. Die Prüfungen werden immer belastender, die Ängste immer größer.

Wir brauchen Prüfungsformate, die nicht mit Druck verbunden sind und positive Emotionen auslösen. Man kann Kindern und Jugendlichen zum Beispiel mehr Zeit geben, man kann sie in Prüfungen gemeinsam arbeiten lassen. Wichtig ist, dass sie Lernwirksamkeit und Kompetenzerleben erfahren. Und es müssen auch nicht alle Kinder durch die gleiche Prüfung. Prüfungen und das Lernen überhaupt sollten stärker individualisiert werden.

Gibt es noch weitere Stellschrauben?
Wichtig ist die Gesprächskultur an Schulen. In der Grundschule gibt es oft noch Gesprächskreise, in höheren Klassen meist nicht mehr. Dabei ist es in allen Altersstufen wichtig, Räume zu öffnen für die Themen, die Kinder und Jugendliche bewegen. Kinder können hier auch lernen, über ihre Gefühle zu sprechen. Oft machen sie dies nicht, weil sie Angst vor Stigmatisierungen haben.

Und auch über das Thema Schule sollten Schülerinnen und Schüler mit den Lehrkräften in einen konstruktiven Austausch kommen. Kinder und Jugendliche sollten äußern können, wie es ihnen in der Schule geht, was sie sich anders wünschen im Unterricht und im Schulalltag. Das findet zu wenig statt, weil sich Lehrerinnen und Lehrer durch kritische Rückmeldungen von Schülerinnen und Schülern oft bedroht fühlen.

Lehrkräfte können das Problem nicht allein auffangen

Können Schulen das alles bei den derzeit knappen Ressourcen überhaupt leisten?
Natürlich ist das auch eine Frage von Ressourcen. Schulen müssen besser dafür ausgestattet sein. Und das darf nicht allein auf den Schultern der Lehrkräfte liegen. Wenn wir davon ausgehen, dass heute 25 bis 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler belastet sind, dann kann nicht eine Lehrkraft allein in einer Klasse bei einer Klassenstärke von 30 Schülerinnen und Schülern zehn Kinder auffangen, die psychisch stark belastet sind. Wir müssen dahin kommen, an jeder Schule eine Stelle für Schulsozialarbeit zu schaffen und multiprofessionelle Teams aufzubauen. Und wir brauchen Mittel, um Projekte und Strukturen dauerhaft zu etablieren. Es gibt viele gute Programme, aber die haben oft nur eine Finanzierung für ein Schuljahr oder sogar nur für ein Halbjahr. Da schafft man einen Durchlauf, baut etwas auf, justiert nach – aber dann geht es nicht weiter. Das hilft niemandem.

Alternative Prüfungsformate

Aufzeichnung des Panels „Psychische Belastung in Schule – Zeit für eine neue Prüfungskultur“ auf dem Campus des Deutschen Schulportals vom 8. Februar 2023 mit Nicola Küppers von der Schule am Dichterviertel in Mülheim an der Ruhr, Hendrik Haverkamp vom Institut für zeitgemäße Prüfungskultur und Julian Schmitz, Lehrstuhl Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Leipzig.

Zur Person

  • Julian Schmitz ist ausgebildeter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und hat seit 2016 die Professur für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie am Institut für Psychologie der Universität Leipzig inne. Zudem leitet er die an das Institut angegliederte psychotherapeutische Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche.
  • Schmitz ist auch Vorstands- und Gründungsmitglied des Leipziger Forschungszentrums für frühkindliche Entwicklung (LFE).
  • Er forscht seit Beginn der Pandemie zu deren psychischen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche.
Julian Schmitz