Mecklenburg-Vorpommern : Eine kleine Dorfschule erprobt echte Demokratie

Was treibt einen Sozialforscher an, von der Großstadt aufs Land zu ziehen, um dort eine freie Schule zu gründen? Das Schulportal hat Johannes Terwitte in der „Kleinen Dorfschule Lassaner Winkel“ in Mecklenburg-Vorpommern besucht. Hier wird im Kleinen geprobt, was im Großen so oft misslingt: gelebte Demokratie auf allen Ebenen.

Ein Mädchen steht an einer Magnettafel
Die Kinder der „Kleinen Dorfschule Lassaner Winkel" können selbst entscheiden, in welchem Raum oder in welchem Außenbereich sie sich gerade aufhalten möchten. Auf einer Magnettafel schieben sie ihr Namensschild an den entsprechenden Ort.
©Patricia Haas
Johannes Terwitte im Garten der Kleinen Dorfschule Lassaner Winkel
Johannes Terwitte, Vater von zwei Kindern, gründete gemeinsam mit anderen Eltern und Großeltern vor zwei Jahren die „Kleine Dorfschule Lassaner Winkel" in Klein Jasedow.
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Eine Schülerin der kleinen Dorfschule Lassaner Winkel geht mit dem Besen durch den Bastelraum
Jeden Tag räumen die Kinder und Mitarbeiter der Kleinen Dorfschule in kleinen Teams alle Räume auf. Der Bastelraum ist der einzige Raum in der Schule mit einer klassischen Schultafel.
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An einer Pinnwand hängen Zettel mit Notizen zur Schulversammlung.
Ein Mal pro Woche findet die Schulversammlung statt. Alle, die sich regelmäßig in der Kleinen Dorfschule aufhalten, können daran teilnehmen. Gemeinsame Projekte oder Regeln werden hier abgestimmt.
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Ein Junge sitzt auf dem Teppich und spielt mit Autos
Mit dem Auto im Seezimmer spielen oder lieber in der Leseecke lesen? Die Kinder können den Tagesablauf in der Kleinen Dorfschule selbst mitbestimmen. Durch eine individuelle Begleitung wird sichergestellt, dass die Lernenden dabei mindestens die gleichen Kompetenzen erwerben wie an einer Regelschule.
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Ein Zettel mit der Aufschrift "Neubau Hasenstall" in der Hand eines Mädchens.
Lesen und Rechnen lernen die Kinder auch in Projekten wie dem Neubau des Hasenstalls. Lernorte sind nicht nur die Schule, sondern auch Werkstätten, Bauernhöfe oder Gärten im Umfeld.
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Ein Mädchen im Porträt auf der Wiese
Die Kinder der Kleinen Dorfschule müssen viele Entscheidungen treffen. Einen vorgegebenen Tagesablauf gibt es nicht.
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Sechs Kinder stehen am Seeufer.
Die Kleine Dorfschule liegt direkt am See. Die Natur zu achten und zu lieben ist ein zentrales Anliegen der Schulgemeinschaft.
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Das gelbe Gebäude der Dorfschule in Klein Jasedow
Für die Schule wurde das ehemalige Kulturhaus des Dorfes umfunktioniert.
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In der „Kleinen Dorfschule Lassaner Winkel“ in Klein Jasedow in Mecklenburg-Vorpommern ist alles eine Nummer kleiner als an anderen Schulen. Der sonnengelbe Flachbau war früher mal das Kulturhaus des Dorfs. Vor zwei Jahren eröffnete hier, am Ende des Festlands kurz vor der Insel Usedom, eine „Demokratische Schule“ in freier Trägerschaft – damals mit gerade mal neun Kindern. Inzwischen lernen hier 20 Kinder, und damit ist die Kapazität des Gebäudes auch schon bald erreicht.

Es ist 13 Uhr. Im Flur wird ein kleiner Gong angeschlagen, die Kinder teilen sich in Gruppen auf, schwärmen in die Räume aus, stellen Stühle hoch und greifen zum Besen. Wir sitzen mit Johannes Terwitte, Mitbegründer und Mitarbeiter der Schule, zum verabredeten Interview im Büro der Schule.

Regeln gelten für Erwachsene genauso wie für die Kinder

Kaum hat das Gespräch begonnen, öffnet sich die Tür einen Spalt: „Johannes, du musst dich jetzt um deinen Raum kümmern“, sagt die neunjährige Wanda, die an diesem Tag den sogenannten Putz-Hut aufhat und die Räume nach dem Säubern abnimmt. „Gleich“, antwortet Johannes. Fünf Minuten später steckt Wanda wieder den Kopf durch die Tür: „Jetzt aber wirklich, Johannes!“, mahnt sie streng. Es gibt keinen Aufschub mehr – Regeln werden gemeinsam in der Schulversammlung abgestimmt und gelten für Erwachsene genauso wie für die Kinder. Für eine Ausnahme hätte er vorher beim „Putz-Hut“ anfragen müssen und das habe er versäumt, räumt der 35-Jährige uns gegenüber ein.

Wer glaubt, dass an der Demokratischen Schule jeder einfach machen kann, was er will, der irrt. Johannes Terwitte zieht einen Ordner aus dem Regal. Ein Regelwerk auf mehr als 30 Seiten ist darin abgeheftet, gemeinsam verfasst von allen Mitgliedern der Schulversammlung. Terwitte vergleicht es mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch. Wie in der großen Gesellschaft gibt es auch hier Auslegungen und Ausnahmen, und bei Bedarf kann eine Regel natürlich auch in der Schulversammlung geändert werden. Fest stehen nur die vom Vorstand formulierten Grundsätze auf der ersten Seite, und selbst diese sind nicht unumstößlich.

Wie wird aus der Demokratie eine lebendige Kultur?

Terwitte ist Sozialwissenschaftler und hat im englischen Oxford und in Berlin studiert, bevor er mit seiner Frau und den beiden Kindern nach Klein Jasedow aufs Land zog. Im Studium hatte er sich damit beschäftigt, wie in ehemals totalitär geführten Ländern neue Demokratien aufgebaut werden. Welche Prozesse laufen ab, bis Demokratie tatsächlich zu einer lebendigen Kultur wird, welche Strukturen sind nötig? Wie funktioniert das Zusammenspiel von Freiheit und Verantwortung?

Terwitte beließ es nicht bei der Theorie. Er wollte selbst erfahren, wie sich ein solcher Prozess gestalten lässt – zum Beispiel an einer Schule. Nach dem Studium ging er als Teach First Fellow für zwei Jahre an eine Berliner Brennpunktschule. „Dort bin ich mit meinem partizipativen Ansatz ganz schön auf die Nase gefallen“, erzählt er. „Im Kollegium gab es eher den Ruf nach der harten Hand – da stand ich mit meinem Versuch der gewaltfreien Kommunikation ziemlich allein da.“ Und das sei von den Schülerinnen und Schülern auch gleich als Schwachstelle identifiziert worden. Heute würde er da anders herangehen, sagt er. Er würde erst mal klare Kante zeigen und dann nach und nach mehr Mitbestimmung gewähren. Man müsse eben auch immer den Kontext sehen.

Das Gründungsteam hat sich erfolgreiche „Demokratische Schulen“ angeschaut

Terwitte begann, sich intensiver mit Demokratiepädagogik auseinanderzusetzen, las das Buch „Befreit lernen“ des US-amerikanischen Psychologen Peter Gray, das er später selbst ins Deutsche übersetzte. Gray zeigt anhand von anschaulichen Beispielen, wie etwa die 1968 gegründete Sudbury Valley School im US-Bundesstaat Massachusetts seit 50 Jahren erfolgreich funktioniert. Die Schule gilt als Vorreiter der Demokratischen Schulen. „Es gab eine Zeit, da war man in der Pädagogik auch von staatlicher Seite her viel experimentierfreudiger als heute“, sagt Terwitte.

Es gab eine Zeit, da war man in der Pädagogik auch von staatlicher Seite her viel experimentierfreudiger als heute.
Johannes Terwitte, Mitbegründer der Kleinen Dorfschule Lassaner Winkel

Er fühlte sich ermutigt, trotz seiner Erfahrungen an der Berliner Sekundarschule weiterzumachen. Gleichzeitig fragte er sich, in welchem Umfeld seine eigenen Kinder lernen sollen. „Als die beiden Mädchen drei und fünf Jahre alt waren, beschlossen wir, in die Heimatregion meiner Frau zu ziehen und dort gemeinsam mit anderen Eltern und Großeltern der Gegend eine Schule zu gründen“, erzählt er. Das Gründungsteam schaute sich andere freie Schulen an, zum Beispiel die 2007 von der Sängerin Nena gegründete Neue Schule Hamburg. „Wir wollten im Kleinen probieren, wie Demokratie tatsächlich gelebt werden kann“, sagt Terwitte.

Klein Jasedow eignete sich perfekt dafür. Hier hatte sich bereits vor über 20 Jahren eine alternative Lebensgemeinschaft etabliert, die das Vorhaben unterstützte. Beispielsweise mit dem Gebäude auf dem Grundstück des bestehenden Klanghauses, in dem regelmäßig Konzerte und musikalische Weiterbildungen stattfinden. Das Schulhaus steht gleich neben dem Klanghaus auf einer weiten grünen Wiese, die am schilfbewachsenen Ufer eines Sees endet.

Einen festen Stundenplan gibt es nicht

Die Kinder der Kleinen Dorfschule können selbst entscheiden, ob sie im Bastelraum Armbänder knüpfen, im Seezimmer lesen möchten oder Musik hören im Entspannungs- und Toberaum. Wer Lust hat, kann auch jederzeit im Garten spielen. Sie können sogar zum fünf Minuten entfernten Acker laufen und sich um den Gemüseanbau kümmern. Einen Stundenplan gibt es nicht, genauso wenig wie Schulnoten und festgelegte Klassen. Die Kinder bestimmen selbst, wann und bei welchen Anlässen sie rechnen, lesen oder schreiben lernen wollen. Durch intensive und individuelle Begleitung wird sichergestellt, dass die Lernenden nach Beendigung ihrer Schullaufbahn mindestens dieselben Kompetenzen erworben haben wie Kinder, die eine Regelschule besuchen.

Ein Schulalltag mit so viel Selbstbestimmung bedarf klarer Regeln. Zum See oder zum Acker dürfen die Kinder beispielsweise nicht allein gehen. Auf einer Magnettafel im Eingang hat jeder Ort ein Symbol. Die Kinder und die Lernbegleiter schieben ihre Namensschilder immer dorthin, wo sie sich gerade aufhalten.

Die siebenjährige Frieda steckt den Kopf durch die Tür im Büro. Sie möchte gern einen Film auf dem Computer schauen. „Das geht jetzt nicht“, sagt Terwitte und verweist auf unser Gespräch. Frieda wartet geduldig auf dem Drehstuhl. Ein paar Minuten später kommen ein paar andere Mädchen vorbei und fragen, ob Frieda Lust habe, auf der Wiese „Herr Fischer, Herr Fischer, wie tief ist das Wasser?“ zu spielen. Sie springt vom Stuhl und verschwindet – der Computer ist vergessen.

Konflikte werden im Friedenskreis gelöst

Die Freiheit verursacht Abstimmungsbedarf. „Es geht zum Beispiel nicht, dass jemand laut einen Film schaut, während ein anderes Kind im selben Raum gerade lesen möchte“, erklärt Terwitte. Um solche Fragen kümmert sich die Schulversammlung, die jeden Mittwoch tagt. Die Schulversammlung hat beispielsweise einen Computer-Arbeitskreis gegründet, um zu klären, wie viele Geräte die Schule haben soll, wie lange und wo diese genutzt werden können. Der Arbeitskreis erarbeitet einen Vorschlag, über den dann in der Schulversammlung abgestimmt wird. Angestrebt wird „Gemeinstimmigkeit“ – eher eine Kultur als ein Verfahren –, die vorsieht, dass jede Stimme angehört wird und sich gemeinsam um das Finden eines Konsens bemüht wird. Gelingt dies nicht, kann auch mal die Mehrheit entscheiden. „Wir wollen in der Schulversammlung auch effizient sein. Wichtig ist aber, dass jeder gehört und ernst genommen wird“, sagt Terwitte.

Und wenn es Regelverstöße gibt? Dann können Kinder oder Lernbegleiter das beim sogenannten Friedenskreis anzeigen, der sich aus regelmäßig wechselnden Mitgliedern zusammensetzt. „Der Friedenskreis ist unsere Judikative, unerlässlich für uns als Schulgemeinschaft – und ein wunderbarer und vielfältiger Ort des Lernens von Gemeinschaft und Verantwortung“, sagt Terwitte.

Gegen 14 Uhr werden die Kinder abgeholt oder gehen nach Hause – jede und jeder trägt sich zuvor mit Namen und Uhrzeit in einer Liste aus. Das Gründungsteam hat noch viele Pläne. Einen Hort braucht die Schule beispielsweise, und eine Sekundarstufe soll aufgebaut werden.

Und irgendwann will Terwitte das, was er hier im Kleinen ausprobiert hat, auch noch mal an einer Brennpunktschule in Berlin versuchen.

Auf einen Blick

  • Die „Kleine Dorfschule Lassaner Winkel“ in Mecklenburg-Vorpommern gibt es seit September 2017. Bis dato lernen hier 20 Kinder.
  • Die Kleine Dorfschule ist eine Grundschule mit Orientierungsstufe von der ersten bis zur sechsten Klasse. Geplant ist auch der Aufbau einer Sekundarstufe.
  • Das pädagogische Konzept orientiert sich an dem international erfolgreich erprobten Modell der „Demokratischen Schule“. Im Mittelpunkt steht altersgemischtes und selbstbestimmtes Lernen.