Ein Jahr Krieg gegen die Ukraine : Die Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr hat sich zerschlagen

Ein Jahr nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine lernen an deutschen Schulen etwa 200.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche. Im Frühjahr letzten Jahres hatte das Schulportal die Waldschule Hatten in Niedersachsen besucht, um sich anzuschauen, wie die die Schule die ersten ukrainischen Geflüchteten aufnimmt. Ein Jahr dauert der Krieg in der Ukraine inzwischen an. Die Hoffnungen auf eine schnelle Rückkehr haben sich zerschlagen. Wir haben nachgefragt, wie es den Schülerinnen und Schülern inzwischen geht, welche Konzepte sich bewährt haben und welche neuen Herausforderungen es gibt.

Vitali
Vitali vermisst seine Eltern und will so schnell wie möglich zurück in die Ukraine.
©Oliver Hardt

Der 12-jährige Vitali begrüßt uns auf Deutsch und lächelt schüchtern. Ja, er erinnert sich, vor zehn Monaten waren wir schon einmal in der Waldschule Hatten in Niedersachsen. Vitali war gerade erst ein paar Tage in der neuen Schule, geflohen vor dem Krieg in seiner ukrainischen Heimat. Er sah ängstlich aus, sprach kein Wort, an ein Lächeln war nicht zu denken. Damals wollte er gar nicht in eine deutsche Schule, er wollte so schnell wie möglich zurück zu den Eltern. Mit seiner kleinen Schwester lebt er nun schon fast ein Jahr in Niedersachsen bei der Großmutter. Noch immer würde er lieber heute als morgen zurück in die Ukraine, er macht sich jeden Tag Sorgen um die Eltern. Die Mutter arbeitet als Krankenschwester und ist auch ein Jahr nach Ausbruch des Krieges unabkömmlich in der Heimat, der Vater kämpft an der Front. Vitali hat in der Schule schon einige Freunde gefunden, doch nachmittags sehen sie sich nicht, sie wohnen weit voneinander entfernt, verteilt in verschiedenen Dörfern in dieser ländlichen Region nahe Oldenburg. Jeden Abend telefoniert er mit der Mutter oder dem Vater, um sich zu vergewissern, dass es ihnen gut geht.

Yehor lernt gleichzeitig an der deutschen und an der ukrainischen Schule

Yegor Porträt
Yehor erledigt nach dem Unterricht online die Aufgaben seiner ukrainischen Schule.
©Oliver Hardt

Inzwischen lernen an der Waldschule Hatten 15 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine.

Der 14-jährige Yehor kam nur einen Monat später als Vitali hierher. Er ist redselig und nutzt gewandt die deutsche Sprache. Deshalb muss er auch nicht mehr jeden Tag zwei Stunden am DaZ-Unterricht teilnehmen, sondern nur noch an drei Tagen. So kann er in seiner Stammklasse häufiger den regulären Schulstoff mitlernen. Yehor kümmert sich um seine ukrainischen und deutschen Freunde und bezieht alle mit ein, selbst den schüchternen Vitali lockt er aus der Reserve, bis er laut mit ihm lacht. Zuhause in der Ukraine war Yehor Schülersprecher, sogar später hier in Deutschland nahm er online die Funktion weiter wahr. Doch inzwischen ist ihm das zu viel. Anfangs hat er noch per Video live am Unterricht teilgenommen, jetzt lässt er sich von den Lehrkräften die Aufgaben in den digitalen Lernraum stellen und erledigt sie dann, wenn er Zeit hat. Auch alle Klassenarbeiten, die an der ukrainischen Schule fällig werden, absolviert er online.

Sein letztes ukrainisches Zeugnis war sehr gut, nur Einsen und Zweien, obwohl er sich alles selbst beibringen musste – nach dem normalen Schultag.

Würde er das nicht tun, wäre er automatisch abgemeldet von der ukrainischen Schule und müsste sich nach der Rückkehr in die Heimat wieder um einen neuen Schulplatz bemühen. Das ist dort, wo er herkommt, sehr schwer, erzählt er. Für einen Platz auf der begehrten Schule muss man ein kompliziertes Auswahlverfahren durchlaufen. Etwa dreieinhalb Stunden täglich arbeitet er deshalb am Nachmittag oder Abend den ukrainischen Schulstoff ab. Er hofft, so schnell wie möglich zurückzukönnen. Im kommenden Schuljahr will er den mittleren Schulabschluss in der Ukraine machen und dann weiter an einem Gymnasium für das Abitur lernen.

Vova will in Deutschland bleiben

Vova macht in seiner Freizeit lieber Sport, als nach Schulschluss weiter auf Ukrainisch zu lernen. Seitdem der 16-Jährige an der Waldschule Hatten ist, hat er sich vom ukrainischen Online-Unterricht abgemeldet. Er lebt hier zusammen mit seinen zwei Geschwistern und seinen Eltern. Väter, die drei Kinder oder mehr haben, dürfen ihre Familien auf der Flucht aus dem Kriegsgebiet begleiten. Für Vova steht fest, dass er hier in Deutschland auch seinen Schulabschluss machen wird. Sein Heimatort in der Ost-Ukraine ist völlig zerstört. Seine Mutter arbeitet hier nun in einem Café, sein Vater hat einen Job als Hausmeister gefunden. Derzeit wohnen sie noch alle zusammen bei einer Gastfamilie.

Vova
Vova hofft, dass seine Familie in der Nähe der Schule eine Wohnung findet.
©Oliver Hardt

Vova hofft nun inständig, dass sie in der Nähe eine Wohnung finden. Er möchte auf keinen Fall die Schule wechseln müssen.

Auch der 16-jährige Maksym will erst einmal nicht zurück in die Ukraine. Er ist im März vor einem Jahr mit seiner ukrainischen Handballmannschaft nach Deutschland gekommen. Der Trainer hatte sich darum gekümmert, dass die Jungs in Gastfamilien unterkommen, und ist dann zurück in die Heimat. Die Mutter von Maksym ist bei dem älteren Bruder und dem Vater geblieben, die das Land nicht verlassen dürfen. Maksym ist erst den zweiten Tag an der Waldschule Hatten, zuvor war er an einer anderen Schule in Niedersachsen, an der es überhaupt keine Deutschförderung für die Geflüchteten gab. „Zuerst waren wir ein paar Wochen in einer Willkommensklasse, da wurden wir oft uns selbst überlassen, einige nahmen am ukrainischen Online-Unterricht teil, andere machten gar nichts“, erzählt er. Dann wurden sie in Regelklassen aufgeteilt. Aber anders als an der Waldschule Hatten gab es keine extra Stunden für die Geflüchteten, in denen sie systematisch Deutsch als Zweitsprache (DaZ) lernen. Seine Gastmutter hatte sich deshalb um den Schulwechsel bemüht.

Maksym versteht erstaunlich gut Deutsch, kann sich auch schon ganz gut verständigen, er arbeitet in seiner Freizeit sogar als Trainer für einen Handballverein, aber vom Dativ oder Genitiv hat er noch nie etwas gehört. Obwohl er erst den zweiten Tag hier ist, wird er an der Waldschule Hatten in der Hofpause von den anderen ukrainischen Schülerinnen und Schülern neugierig in die Mitte genommen.

Schüler auf dem Schulhof
Auf dem Schulhof treffen sich die ukrainischen Schülerinnen und Schüler im kleinen Mensagarten.
©Oliver Hardt

An diesem Tag steht zwischen ihnen auf dem Hof auch Eugen und wird stürmisch begrüßt. Der 16-Jährige lernt eigentlich gar nicht mehr hier; weil die Mutter eine Wohnung in Oldenburg gefunden hatte, musste er vor sechs Monaten die Schule wechseln. „Das ist kein Einzelfall, die Fluktuation ist groß“, sagt die Schulleiterin Silke Müller. Nachdem die ukrainischen Geflüchteten zunächst bei privaten Helferinnen und Helfern in der Region untergekommen seien, suchten sie nun nach eigenen Wohnungen, und die seien im Einzugsgebiet der Schule schwer zu finden.

Eugen vermisst seine Freunde und auch den DaZ-Unterricht, denn an seiner neuen Schule gibt es eine solche Förderung nicht. Normalerweise hätte der Neuntklässler jetzt ein Betriebspraktikum, aber Eugen hat in seiner Schule gefragt, ob er diese Zeit nutzen kann, um an seiner ehemaligen Schule am DaZ-Unterricht teilzunehmen. Die Schule war einverstanden, schließlich kann sie ihm das nicht bieten.

Wie kann das sein, dass Geflüchtete ohne Deutsch-Kenntnisse keine Förderung erhalten?

Flexible Stundenpläne für unterschiedliche Sprachförderbedarfe

Silke Müller, Schulleiterin der Waldschule Hatten, erklärt das mit dem Personalnotstand an den Schulen. Es fehlt an qualifizierten DaZ-Lehrkräften. Schulen könnten zwar zusätzliches Personal beantragen, wenn sie ein tragfähiges Konzept für die Sprachförderung vorlegen, doch allein um das Konzept zu erarbeiten, bräuchte es Zeit und die entsprechende Qualifikation. Die Waldschule hatte schon mit der Fluchtbewegung aus Syrien begonnen, an einem DaZ-Konzept zu arbeiten.

DaZ-Unterricht mit Frau Hallerstede
Im DaZ-Unterricht erhalten die geflüchteten Schülerinnen und Schüler bei Kamila Hallerstede täglich zwei Schulstunden Sprachförderung in Kleingruppen.
©Oliver Hardt

Sogenannte Willkommensklassen oder Vorbereitungsklassen für Kinder ohne ausreichende Deutsch-Kenntnisse gibt es hier nicht. Die geflüchteten Schülerinnen und Schüler werden gleich in Regelklassen integriert, jedoch für zwei Stunden pro Tag separat unterrichtet. Dafür fallen diese Stunden in der Regelklasse weg.

Die Stundenpläne werden individuell auf die Interessen und Fähigkeiten zugeschnitten, nur Englisch- und Mathe-Stunden müssen immer in der Stammklasse belegt werden. „Wenn jemand unbedingt am Sport-Unterricht oder Kunst-Unterricht teilnehmen will, kann ich das berücksichtigen“, sagt die DaZ-Lehrerin Kamila Hallerstede. Auch den wöchentlichen Umfang an DaZ-Förderung kann sie dem jeweiligen Bedarf anpassen. Die einen brauchen mehr Zeit als andere, insgesamt können die Schülerinnen und Schüler zwei Jahre lang am DaZ-Unterricht teilnehmen. „Yehor bräuchte die Förderung eigentlich gar nicht mehr so dringend, aber er möchte in den DaZ-Stunden bleiben, weil er sich dort sicher und aufgehoben fühlt“, sagt Hallerstede.

Schüler am iPad
Yehor kann im Unterricht mit dem iPad die Übersetzungs-App nutzen.
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Vitali braucht noch die vollen zehn Stunden pro Woche, er tut sich schwer mit der deutschen Sprache, auch weil er zuhause mit Oma und Schwester ukrainisch spricht. Da haben es Kinder aus deutschen Gastfamilien wie Yehor einfacher. Vitali hat nun in seinem Dorf eine Paten-Oma gefunden, die nachmittags mit ihm bastelt und Deutsch spricht.

Herkunftssprachliche Materialien werden nicht mehr genutzt

Nicht nur die Schülerinnen und Schüler haben sich innerhalb des einen Jahres weiterentwickelt, auch die Schule selbst hat im Laufe der Zeit Integrations-Konzepte optimiert oder auch verworfen. „Wir nutzen im Regelunterricht zum Beispiel keine ukrainischen Online-Materialien mehr“, sagt Schulleiterin Silke Müller. Damals habe die Schule den Kindern die Möglichkeit geben wollen, an ihren Lehrplänen anzuknüpfen, die ukrainischen Schulbücher gab es alle digitalisiert. Ausgangspunkt sei die Annahme gewesen, dass der Krieg schnell vorbei ist und die Geflüchteten wieder an ihre alten Schulen zurückkehren können. Auch die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka hatte im März 2022 gefordert, dass die ukrainischen Flüchtlingskinder in Deutschland möglichst nach dem ukrainischen Lehrplan unterrichtet werden. Da es sich nur um einen vorübergehenden Aufenthalt handle, sollte die Kontinuität des Bildungsprozesses nicht unterbrochen werden, hieß es damals zur Begründung.

Doch die Situation sei nun eine andere, sagt Silke Müller. Der Krieg dauert schon ein Jahr, das Ende sei nicht in Sicht, und viele Schulen seien in der Ukraine mittlerweile auch zerstört und müssten erst wieder neu aufgebaut werden.

Um das Gemeinschaftsgefühl der auf den Dörfern verstreuten Neuankömmlinge zu stärken, organisieren die Sozialpädagogin Tanja Reiher und Lehrerin Kamila Hallerstede regelmäßig Ausflüge. „Es hat sich gezeigt, dass es wichtig für die Kinder und Jugendlichen ist, auch einmal Abenteuer zu erleben, dass sie aus sich rauskommen und für einen Moment die Sorgen vergessen können“, sagt Tanja Reiher. Dabei lernen die Jugendlichen auch, was die Region zu bieten hat und wie sie sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewegen. Unvergesslich ist den Schülerinnen und Schülern der Ausflug auf die Nordsee-Insel Norderney. Einige hatten zum ersten Mal das Meer gesehen. Als Vitali beobachtete, wie sich ein Krebs aus dem Sand kämpfte, rief er vor Begeisterung laut alle Leute am Strand zusammen. Diese Erinnerung bringt die Jungs auf dem Schulhof noch heute zum Lachen.

Vitali, Vova und Yehor kehren nach dem DaZ-Unterricht in ihre Regelklassen zurück.
©Oliver Hardt