Rechtsanspruch : Offener oder gebundener Ganztag – zwei Schulen auf zwei Wegen
Jedes Kind, das ab dem Schuljahr 2026/2027 eingeschult wird, soll in den ersten vier Schuljahren Anspruch auf einen Ganztagsplatz bekommen. Darauf haben sich Bund und Länder am 6. September 2021 geeinigt. Doch wie soll der Ganztag in Zukunft aussehen, und wie verbindlich sollen Qualitätsstandards sein? Das Schulportal hatte bereits 2018 mit zwei Schulen über den geplanten Rechtsanspruch gesprochen und über die verschiedenen Wege, guten Ganztag umzusetzen.
Nach dem Mittagessen zum Fußballplatz
Der zehnjährige Linus beeilt sich an diesem Mittwoch mit dem Nachtisch. Mit seinem Freund Felix will er nach der Mittagspause zum Fußball auf dem Bolzplatz im Kiez gehen. Auf dem Hof versammeln sich um 13 Uhr alle Kinder der Schule am Buntentorsteinweg, um sich für die Angebote zu melden. Die einen gehen in den Töpferraum, andere ins Spielezimmer und wieder andere auf den Fußballplatz. Jede Pädagogin und jeder Pädagoge, die an diesem Tag ein Angebot machen, verteilt verschiedenfarbige Armbänder, denn die Teilnehmerzahl ist beschränkt. Die Grundschule in Bremen ist eine gebundene Ganztagsschule, in der die Kinder an drei Tagen verbindlich bis 16 Uhr lernen. An zwei Tagen können die Kinder schon nach einer Kernzeit bis 14 Uhr abgeholt werden, wenn die Eltern das wünschen.
Der geplante Rechtsanspruch soll für eine offene Ganztagsbetreuung gelten, acht Stunden pro Tag und für fünf Tage in der Woche. Über die Finanzierung des Projekts hatten Bund und Bundesländer lange gestritten. Die Länder hatten vom Bund eine deutlich stärkere Beteiligung an den Investitions- und den späteren Betriebskosten gefordert, das Vorhaben vor dem Sommer im Bundesrat gestoppt und in den Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat verwiesen.
Der Bund wird sich nun, wie zuvor bereits zugesagt, mit bis zu 3,5 Milliarden Euro an den Investitionskosten für Ganztagsplätze beteiligen: Das kann Geld für den Bau neuer Räumlichkeiten an Grundschulen sein, aber auch für Instandsetzungs- und Sanierungsarbeiten, etwa in Ländern, die schon viele Ganztagsplätze haben. „Eine Schippe draufgelegt“, wie es hieß, wurde vor allem bei den laufenden Kosten für den Betrieb der Ganztagsplätze. Hier will Berlin die Länder nun langfristig mit 1,3 Milliarden Euro pro Jahr unterstützen. Das sind gut 300 Millionen mehr pro Jahr, als zuletzt zugesagt.
Geht es nach den Experten, können Kinder vor allem in dieser gebundenen Form optimal vom Ganztag profitieren. Welche Qualitätsstandards gelten sollen, damit dieses ambitionierte Programm tatsächlich ein Erfolg wird, steht dabei noch nicht fest. Bisher sieht die Praxis in den verschiedenen Bundesländern höchst unterschiedlich aus. Bildungsforscher und Schulleiter fordern eindringlich, dass mit einem weiteren quantitativen Ausbau die Qualität nicht auf der Strecke bleiben darf. Die Debatte ist eröffnet.
Das Potenzial von Ganztag wird noch nicht ausgeschöpft
Seit 2003 wird in Deutschland der Ausbau der Ganztagsschule forciert. Schon damals hat es ein Investitionsprogramm der Bundesregierung in Höhe von 4 Milliarden Euro gegeben. Große Ziele waren damit verknüpft: Mehr Chancengleichheit, eine bessere individuelle Förderung und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Betrieb sollte das Programm bringen. Seitdem hat sich viel getan. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler im Ganztag ist stetig gestiegen. Lernte damals bundesweit gerade jedes zehnte Kind im Ganztag, so ist es heute schon jedes zweite. Die „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ (StEG) in den Jahren 2014 und 2015 zeigte jedoch, dass das eigentliche Potenzial des Ganztags dabei häufig gar nicht ausgeschöpft wird. Eine echte Verknüpfung von Unterricht und Angeboten gebe es nur an jeder zweiten Ganztagsschule, hieß es in dem Zwischenbericht des Forschungskonsortiums, das die langfristige Begleitstudie bis 2019 erstellt. Angebote und Öffnungszeiten seien kaum einheitlich definiert. Auch feste Zeiten für die Kooperation zwischen Lehrkräften und dem weiteren pädagogischen Personal gebe es in 50 Prozent der Ganztagsschulen gar nicht.
Ganztag heißt Teamarbeit
An der Schule am Buntentorsteinweg sieht das anders aus. Häufig kommen Lehrkräfte aus anderen Schulen hierher, um sich anzuschauen, wie guter Ganztag funktionieren kann. Die ehemalige Schulleiterin Meike Baasen führt sie dann herum und erklärt ihnen das große Konzept und die kleinen Kniffe, wie die Umsetzung im Alltag am besten funktioniert. Vor 16 Jahren hat die seit anderthalb Jahren pensionierte Schulleiterin den gebundenen Ganztag in der Schule eingeführt und galt seinerzeit als Vorreiterin. „Am Anfang waren nicht alle Kollegen begeistert, einige sind auch gegangen“, sagt sie. Schließlich erfordere der gebundene Ganztag ein ganz anderes Arbeiten.
Die Lehrerinnen und Lehrer arbeiten nicht mehr allein mit ihrer Klasse, sondern in einem Team mit verschiedenen Professionen. Inzwischen würden die Kollegen gerade die Teamarbeit als Erleichterung begreifen. „Es ist auch eine große Unterstützung, wenn man sich gegenseitig beraten und Entscheidungen gemeinsam treffen kann und nicht mehr Einzelkämpfer ist“, sagt Meike Baasen. Jedes Team an der Bremer Grundschule besteht aus einer Lehrkraft, einer sozialpädagogischen Fachkraft und einer sonderpädagogischen Fachkraft für die Inklusion. Einmal pro Woche ist für jedes Team eine feste Kooperationszeit im Stundenplan vorgesehen. Im Teamarbeitszimmer sitzen die unterschiedlichen Professionen an gemeinsamen Tischen. „Das Wort ,Lehrerzimmer‘ haben wir abgeschafft“, sagt Meike Baasen. Auch die Kinder unterscheiden nicht zwischen Lehrerin oder Erzieher. Für sie sind alle Pädagoginnen und Pädagogen einfach „die Erwachsenen“. Kontraproduktiv für die Zusammenarbeit auf Augenhöhe sei jedoch die extrem unterschiedliche Bezahlung, sagt Baasen.
Für die Kinder der Schule am Buntentorsteinweg ist der Tag klar strukturiert. Er beginnt mit einem gemeinsamen Frühstück, dann wechseln sich Lernzeiten und Entspannungsphasen ab. Neben freien Angeboten gibt es auch solche, wo Kinder nach Bedarf teilnehmen können. Wenn Jungen oder Mädchen noch nicht Fahrrad fahren können, dann lernen sie es bei einem Parcours auf dem Hof. Andere erhalten eine zusätzliche Deutschförderung.
Je verbindlicher die Teilnahme am Ganztag ist, desto besser lässt sich der Tag rhythmisieren, sodass sich Phasen der Anspannung und Entspannung abwechseln. Und umso eher lassen sich die Ganztagsangebote auch mit dem Unterricht verknüpfen. Zu diesem Ergebnis kommt auch die StEG-Studie. Eine verbindliche Ganztagsschule für alle soll es jedoch ganz klar nicht geben. Ob Eltern den Rechtsanspruch nutzen oder nicht, liegt in ihrer Entscheidung.
Haltung verändern braucht Zeit
Heinrich Brinker, Schulleiter der Grundschule auf dem Süsteresch im niedersächsischen Schüttdorf, weiß, dass es Zeit braucht, Haltungen zu ändern – bei den Eltern genauso wie bei den Pädagogen. Und es brauche positive Beispiele, damit die Bereitschaft wachse, die Kinder auch bis zum Nachmittag in der Schule zu lassen. Seit 2006 gibt es an der Schule auf dem Süsteresch einen offenen Ganztagsbetrieb. Die Rahmenbedingungen sind schwierig. Um die Angebote aufrechtzuerhalten, arbeitet die Schule vor allem mit jungen Menschen im Freiwilligendienst oder mit Praktikanten zusammen. Festes sozialpädagogisches Personal gibt es in Niedersachsen nicht für den Ganztag. Trotzdem ist das Angebot in der Schule auf dem Süsteresch so attraktiv, dass immerhin 200 der insgesamt 270 Kinder bis zum Nachmittag in der Schule bleiben.
Gern würde Brinker den Schritt zum gebundenen Ganztag machen. „Doch die Akzeptanz für ein verbindliches Angebot ist noch nicht bei allen Eltern da“, sagt er. Gerade die Eltern, die aus den ländlichen Gebieten im Umkreis kommen, wollen eher, dass ihre Kinder am Nachmittag zu Hause sind. Auf diese Kinder will die Schule aber auf keinen Fall verzichten, denn sie tragen zu einer guten sozialen Mischung bei.
Brinker ist geduldig, und die Entwicklung gibt ihm recht: „Unter den Kindern zeigt sich eine Art Schneeballeffekt. Sind die Freunde in spannenden Ganztagsangeboten, fordern die Mitschüler schon von sich aus bei den Eltern ein, dass sie auch dabei sein wollen.“ Dazu trägt auch die gute Ausstattung der Schule bei. In dem großen Lichthof gibt es moderne Computerarbeitsplätze. Es gibt eine Mensa, eine Bühne, Platz für Bewegung und sogar Lego-Roboter. 20 Jahre hat er gebraucht, um mithilfe von Sponsoren und verschiedenen Förderprogrammen eine Ausstattung zu erreichen, wie sie in anderen Ländern selbstverständlich sei, sagt Brinker. Das brauche viel Kraft und Zeit.
Experten fordern längere Öffnungszeiten
Die vier großen deutschen Bildungsstiftungen fordern eine Qualitätsoffensive für Ganztagsschulen. Im vergangenen Jahr hat die Robert Bosch Stiftung gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung, der Stiftung Mercator und der Vodafone Stiftung Handlungsempfehlungen für die Politik vorgelegt. Darin drängten sie vor allem auf verbindlichere Vorgaben und bessere Rahmenbedingungen. „Ganztagsschulen sollen an fünf Tagen in der Woche mit jeweils acht Zeitstunden kostenfrei geöffnet sein“, hieß es in dem Papier mit dem Titel „Mehr Schule wagen“. Nicht alle Schüler müssten 40 Stunden pro Woche in der Schule bleiben, aber es gäbe Kernzeiten, die für alle verbindlich sind. Unter diesen Bedingungen wäre dann die Debatte um gebundene oder offene Ganztagsschule überflüssig. Natürlich bräuchten die Schulen dafür eine bessere Ausstattung, mehr pädagogisches Personal und auch organisatorische Unterstützung durch Verwaltungsfachkräfte, so die Empfehlungen.
Linus schnappt sich mit Felix den großen Beutel mit den Fußbällen. „Ich bin Schiedsrichter“, sagt Linus stolz. Dafür hat er eine richtige Ausbildung gemacht. Dann zieht das Grüppchen mit ihrem „Erwachsenen“ los, zum nahe gelegenen Spielplatz, während die anderen Kinder im Werkraum, Tobe-Raum oder im Bauzimmer verschwunden sind.
Auf einen Blick:
- Bis zum Jahr 2026 soll es laut Koalitionsvertrag für alle Grundschulkinder einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung geben.
- 2 Milliarden Euro will der Bund den Kommunen für den Ausbau der Ganztagsangebote zur Verfügung stellen.
- Ein guter Ganztag benötigt feste Kooperationszeiten für Lehrkräfte und sozialpädagogische Fachkräfte.
- Experten fordern längere Öffnungszeiten und verbindliche Kernzeiten im Ganztag.