Deutscher Schulpreis 2020 : Die beste Schule des Jahres steht in Hannover

„Wurzeln geben, Vielfalt leben“ lautet das Motto der Otfried-Preußler-Schule in Hannover. Die Schule holt jedes Kind dort ab, wo es steht – ob mit oder ohne Förderbedarf. Inklusion ist an der Grundschule in allen Bereichen verinnerlicht und wird von allen als große Bereicherung betrachtet. Für ihre herausragende Arbeit hat die Schule den Hauptpreis des Deutschen Schulpreises 2020 erhalten.

Was diese Schule ausmacht, lässt sich schon am Milchschaum erkennen. Für den ist Finn* in „Ottis Eck“ zuständig. „Ottis Eck“ ist der Schulkiosk, der einmal in der Woche in der Otfried-Preußler-Schule in Hannover öffnet. Finn kreiert dann lachende Kakaogesichter auf den Milchschaum. Er braucht dafür ein bisschen Zeit, manchmal gibt es daher auch eine Schlange am Kaffeestand, aber das stört hier niemanden.

Dass ein Kind schneller, ein anderes langsamer ist, dass ein Kind Unterstützung braucht, ein anderes immer schon einen Schritt voraus ist – das ist normal an der Otfried-Preußler-Schule. Platz ist an der Grundschule für alle Kinder, ob mit oder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf. Und wer einen Tag an der Schule verbringt, der nimmt die Unterschiede zwischen den Kindern sehr schnell gar nicht mehr wahr.

Wenn das Wort Inklusion gar nicht mehr benutzt wird, dann fühlt es sich richtig an.
Eine Lehrerin der Otfried-Preußler-Schule in Hannover

Eine Lehrerin der Schule sagt: „Wenn das Wort Inklusion gar nicht mehr benutzt wird, dann fühlt es sich richtig an.“ Ein Wunsch, der an der Otfried-Preußler-Schule Wirklichkeit geworden zu sein scheint. Der Namensgeber der Schule hätte es vielleicht sogar für Zauberei gehalten. Die ließ er ja oft in seinen Büchern walten und schrieb im „Krabat“: Die schönste Art der Zauberei ist „eine, die wächst einem aus der Tiefe des Herzens zu: aus der Sorge um jemanden, den man lieb hat“.

Kinder der Otfried-Preußler-Schule sitzen auf dem Boden in einem Kreis
In der Otfried-Preußler-Schule in Hannover lernen alle Kinder zusammen - ganz gleich ob mit oder ohne Förderbedarf.
©Joanna Nottebrock

Eine Zauberin ist Schulleiterin Alexandra Vanin sicherlich nicht. Sie wirkt zugleich herzlich und sachlich. Aus der Tiefe des Herzens kommt es aber auf jeden Fall, was an ihrer Schule in den vergangenen Jahren passiert ist: dass über Inklusion kaum noch gesprochen wird, weil sie verinnerlichte Praxis ist. Dahinter stecken ein intensiver Entwicklungsprozess und eine Fülle von Bausteinen. Wollte man sie alle beschreiben, ließe sich ein Buch füllen. Jeder einzelne Baustein ist besonders, aus allen zusammen aber entsteht ein einzigartiges Konzept, für das die Otfried-Preußler-Schule jetzt mit dem Hauptpreis des Deutschen Schulpreises 2020 ausgezeichnet wurde.

Alle Kinder lernen an der Otfried-Preußler-Schule Gebärdensprache

Finn, der so schöne Kakaogesichter macht, hat das Downsyndrom und ist Zweitklässler. Er ist nicht das einzige Kind in seiner Klasse, das mehr Unterstützung braucht. 16 Prozent der Schülerinnen und Schüler der Otfried-Preußler-Schule haben einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Davon fällt ein Großteil auf den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Da ist auch Marlene, die im Rollstuhl sitzt und nur mit ihren Augen und mithilfe ihrer Schulbegleiterin über einen Computer kommunizieren kann. Wenn sie etwas sagen will, leuchtet eine rote Lampe an ihrem Computer auf. Auch sie braucht Zeit, um sich verständlich zu machen, aber es kommt keine Unruhe bei den anderen Kindern auf. Im Gegenteil: Sie sind konzentriert bei Marlene und ganz offensichtlich geübt darin, ihre Äußerungen richtig zu interpretieren.

Die Durchmischung der Klassen empfinden hier alle als Bereicherung, nicht als Bremse. Da es Kinder gibt, die die Schriftsprache nicht beherrschen und Vorlesestifte allein noch keine Lösung sind, lernen hier alle die Gebärdensprache. „Das macht großen Spaß“, sagt eine Schülerin. „Und die Kinder sind darin meist viel besser als wir“, gibt eine Lehrerin zu.

Vor zehn Jahren hat sich die Otfried-Preußler-Schule auf den Weg zur Inklusion gemacht. Die Grundschule in der Meterstraße, wie sie damals noch hieß, wollte ihr Profil entstauben und neue Wege gehen. Vorangetrieben hat diesen Prozess dann vor allem Alexandra Vanin, die seit 2014 die Schule leitet. Zwei Jahre später bezog die Schulgemeinschaft einen komplett barrierefreien, lichtdurchfluteten Neubau und wuchs von einer 2,5- zu einer 4,5-zügigen Grundschule.

Aus dem Lehrerzimmer wurde an der Otfried-Preußler-Schule ein Mitarbeiterzimmer

Um die familiäre Atmosphäre zu bewahren, die die recht kleine Schule bis dahin ausmachte, hat die Schule den viel größeren Neubau in vier kleine Häuser unterteilt, benannt nach Figuren aus Otfried Preußlers Büchern: Es gibt die Wassermänner, die Räuber, die Hexen und die Gespenster. In jedem Haus sind je eine Klasse des ersten bis vierten Jahrgangs, die zu bestimmten Zeiten auch jahrgangsübergreifend zusammenarbeiten. Jedes Haus hat ein eigenes multiprofessionelles Mitarbeiterteam.

Drei Kinder vom Presseteam der Otfried-Preußler-Schiule
Die Otfried-Preußler-Schule hat ein eigenes Presseteam, das regelmäßig die Schülerzeitung „Der Otti" herausgibt.
©Joanna Nottebrock
Junge schreibt in der Otfried-Preußler-Schule
Die Kinder entscheiden in der „Lernzeit" selbstständig, an welchen Themen sie arbeiten.
©Joanna Nottebrock
Zwei Mädchen vor einem Computer in der Otfried-Preußler-Schule
Schon früh lernen die Kinder, auch am Computer zu arbeiten.
©Joanna Nottebrock
Kiosk in der Otfried-Preußler-Schule
Wenn „Ottis Eck" öffnet kommt die ganze Schulgemeinschaft. Seit März musste der Kiosk aber geschlossen bleiben.
©Joanna Nottebrock
Lernen mit Kopfhörern an der Otfried-Preußler-Schule
Für alle Kinder in der Otfried-Preußler-Schule gibt es Kopfhörer, damit sie ungestört lernen können.
©Joanne Nottebrock
Schulhof der Otfried-Preußler-Schule
Zeit für Bewegung: Auf dem Hof des erst 2016 bezogenen Neubaus gibt es viel Platz zum Toben.
©Joanna Nottebrock

Die Teams arbeiten in vielen Bereichen selbstständig, zugleich stehen alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im engen Austausch. Auf diesem Miteinander fuße wesentlich die Arbeit und Entwicklung der Schule, betont die Schulleiterin. Das war von Anfang an so. So hat auch sie sich vor sechs Jahren nicht allein für die Schulleitung, sondern mit einer Kollegin als Duo beworben. Zu zweit oder gar nicht, sagten sie sich. Inzwischen sind sie zu dritt im Leitungsteam.

Einen Unterschied zwischen den 48 Lehrkräften und den 41 weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Schule und des Kooperationspartners, der den Ganztag mitgestaltet, nimmt man kaum wahr. Statt Lehrerzimmer gibt es hier Mitarbeiterzimmer.

Die Wertschätzung der Schulleitung drückt sich in verschiedenen Innovationen aus: Dazu gehören (…) Zukunftswerkstätten, deren Ergebnisse keine Luftschlösser bleiben, sondern tatsächlich Realität werden.
Miriam Vock, Mitglied der Jury für den Deutschen Schulpreis in ihrer Laudatio für die Otfried-Preußler-Schule

Inklusion wird auch hier gelebt. Und bei der Gestaltung der Schule werden alle mitgenommen und beteiligt. Um möglichst viel Input zu bekommen und allen die Möglichkeit zu geben, sich einzubringen, hat die Schule zum Beispiel das Format Traumwerkstatt entwickelt. Hier kann jede und jeder ihre und seine Ideen und Wünsche formulieren.

Für viele war das eine neue Erfahrung, die sie anfangs durchaus skeptisch sahen. Eine Lehrerin aus dem Gespensterhaus erzählt: „Erst dachte ich: Da wird jetzt wieder so eine pädagogische Maßnahme entwickelt, von der man dann nie wieder etwas hört. Aber so war es nicht. Schon nach zwei Wochen konnte ich die ersten Punkte auf meinem Traumzettel abstreichen.“ In ihrer Laudatio sagt Miriam Vock, Professorin für Empirische Unterrichts- und Interventionsforschung an der Universität Potsdam und Mitglied der Jury des Deutschen Schulpreises: „Die Wertschätzung der Schulleitung drückt sich in verschiedenen Innovationen aus: Dazu gehören (…) Zukunftswerkstätten, deren Ergebnisse keine Luftschlösser bleiben, sondern tatsächlich Realität werden.“

Die Otfried-Preußler-Schule hat ihre Arbeitsmaterialien selbst entwickelt

Jungen im Flur der Otfried-Preußler-Schule
Die Kinder arbeiten viel in Arbeitsgruppen und nutzen dafür auch den Flur.
©Joanna Nottebrock

Viele Ideen bekommen an der Otfried-Preußler-Schule eine Chance und Raum für Entwicklung. Die Schule bleibt in Bewegung. So wie auch der Schulalltag immer in Bewegung ist. Es gibt zwar eine feste Tagesstruktur, aber die einzelnen Lerntage bieten viel Abwechslung. An zwei Tagen in der Woche geht der Unterricht verpflichtend bis in den Nachmittag. An vier Tagen wechseln sich Unterricht im Klassenverband und jahrgangsübergreifende Lernzeiten in Deutsch und Mathematik ab. Hier arbeiten die Kinder selbstständig an den individuell erstellten Arbeitsplänen.

Orientierung beim Lernprozess gibt das „Lernrad“, das für ein Schuljahr die Lernbausteine in einem Fach aufzeigt. Es gehört zu den vielen Lernmaterialien, die die Schule selbst entwickelt hat. Jedes Kind steht aber auf diesem Lernrad an anderer Stelle. „Alle Kinder sollen da abgeholt werden, wo sie stehen“, sagt die Schulleiterin. Und das entspricht auch dem Motto der Schule: „Wurzeln geben, Vielfalt leben“.

Statt Noten gibt es Lernentwicklungsgespräche

Marek ist vielleicht noch dabei, sich den Zahlenraum bis 20 zu erschließen, während Johanna schon über die 100 hinaus ist. Beide wissen, welcher Würfel für sie beim selbstständigen Üben der Addition der richtige ist. Auf Mareks Würfel sind Zahlen zwischen 1 und 10, auf Johannas bis 50. Beide haben am Ende der Übung ein Erfolgserlebnis.

Einmal in der Woche gibt es außerdem einen Projekttag, an dem sich die Mädchen und Jungen jahrgangsübergreifend mit einem Thema beschäftigen. Hier stehen auch Praxiserfahrungen im Raum. Gerade geht es um Ernährung. In einer Ecke der Küche arbeiten die Kinder in einer Mehlwolke, weil sie dabei sind, Getreide zu mahlen, in einer anderen testen sie, wieso sich die eine Milch länger hält als die andere.

Ich habe längst gelernt, loszulassen, weil ich weiß, dass die Lehrer die Kinder immer im Blick haben. Keiner rutscht durch, alle werden bestmöglich gefördert.
Mutter eines Drittklässlers an der Otfried-Preußler-Schule

Über ihre Lernfortschritte führen die Kinder Buch, und es gibt regelmäßig Lernentwicklungsgespräche mit den Lehrkräften und auch zusammen mit den Eltern. Diese Gespräche ersetzen die ganze Grundschulzeit hindurch die Noten. Anfangs stieß die Schulleitung damit auf Widerstand, aber längst sind alle von dem Weg überzeugt. „Es war für mich am Anfang nicht ganz leicht, weil ich dachte, nur mit Noten habe ich einen Überblick, wo mein Sohn steht“, sagt eine Mutter. Auch dass ihr Sohn keine Hausaufgaben machen muss, war ihr zunächst fremd. Inzwischen geht er aber in die dritte Klasse, und sie sagt: „Ich habe längst gelernt, loszulassen, weil ich weiß, dass die Lehrer die Kinder immer im Blick haben. Keiner rutscht durch, alle werden bestmöglich gefördert.“

Der Großteil der Eltern an der Otfried-Preußler-Schule hat einen bildungsnahen Hintergrund. Während mit dieser Elternstruktur an den meisten Grundschulen der Wunsch groß ist, dass das eigene Kind nach der vierten Klasse ein Gymnasium besucht, ist es vielen Eltern an der Otfried-Preußler-Schule am wichtigsten, dass ihre Kinder weiter in einer inklusiven Klasse lernen können. Mehr als 70 Prozent der Kinder wechseln nach der vierten Klasse auf die benachbarte Tellkampfschule, ein inklusives Gymnasium. Die Eltern hoffen, dass ihre Kinder dann einen Platz in der Inklusionsklasse bekommen.

Und die Kinder können sich ohnehin nichts anderes vorstellen. „Inklusion“, sagt Paul, „das ist, wenn wir alle zusammen dieselbe Schule besuchen können.“

* Alle Namen der Kinder von der Redaktion geändert.

Jubel bei der Otfried-Preußler-Schule in Hannover als die Bundeskanzlerin Angela Merkel den Hauptpreisträger des Deutschen Schulpreises 2020 verkündet.
Jubel bei der Otfried-Preußler-Schule in Hannover als die Bundeskanzlerin Angela Merkel den Hauptpreisträger des Deutschen Schulpreises 2020 verkündet.
©Alexander Körner
„Meine Lehrerin hat nicht geglaubt, dass wir den Preis bekommen, aber ich war mir da ganz ganz sicher", sagte eine Schülerin der Otfried-Preußler-Schule nach der Preisverleihung.
©Alexander Körner
Bis zum letzten Moment basteln zwei Schülerinnen der Otfried-Preußer am Flügel des Schulpreis-Stuhls, der in der Live-Übetragung enthüllt wird. Vom selbst gestalteten Stuhl aus Birkenstämmen – kein Wunder, schließlich liegt die Schule in der Birkenstraße - steigen große Lufballons auf.
©Alexander Körner

Auf einen Blick

  • Die Otfried-Preußler-Schule in Hannover ist Hauptpreisträger des Deutschen Schulpreises 2020.
  • An der Grundschule lernen 373 Schülerinnen und Schüler in 17 Klassen.
  • 16 Prozent der Kinder haben einen sonderpädagogischen Förderbedarf.
  • Das Motto der Schule lautet: „Wurzeln geben, Vielfalt leben“.
  • Die Schule ist eine teilgebundene Ganztagsschule, das heißt, an zwei Tagen in der Woche findet für alle verbindlich Unterricht bis in den Nachmittag statt.
  • Mit dem benachbarten Gymnasium, der Tellkampfschule, bildet die Schule ein Netzwerk.