Der Deutsche Schulpreis : „Diese Krise ist eine Jahrhundertchance“

Durch die Corona-Krise haben Schulen zwangsläufig digitales Neuland betreten. Wie sie von den dabei gewonnenen Erfahrungen profitieren und diese für ihre Entwicklung nutzen können, erklärt Bildungsforscher Michael Schratz im Interview mit dem Schulportal. Schratz, der auch Sprecher der Jury des Deutschen Schulpreises ist, regt an, den Digitalisierungsschub zu nutzen und die Lehrerrolle zu überdenken.

Lehrerin sitzt während der Corona-Krise vor Laptop im leeren Klassenraum
Die Schulen sind leer, nur wenige Lehrkräfte sind vor Ort und schicken vom Klassenraum aus Erklärvideos zu ihren Schülerinnen und Schülern oder halten wie diese Lehrerin Videokonferenzen ab.
©Kay Nietfeld/dpa

Schulportal: Wie aus dem Deutschen Schulbarometer Spezial Corona-Krise – einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag der Robert Bosch Stiftung in Kooperation mit der ZEIT – hervorgeht, sehen zwei Drittel der befragten Lehrkräfte ihre Schule wenig oder schlecht auf die Corona-Krise vorbereitet. Dennoch geben 81 Prozent der Befragten an, dass sie mit der neuen Situation zurechtkommen. Ist das eine Anpassung aus Not, oder hat die Krise Lehrerinnen und Lehrer angeregt, neue Wege zu gehen?
Michael Schratz: Krisen setzen Routinen außer Kraft, und das macht erfinderisch. Menschen haben sich meist durch äußere Veränderungen weiterentwickelt, indem sie sich an die neuen Notwendigkeiten anpassen mussten. Diese Kontextsteuerung hat sich auch in der Corona-Krise gezeigt: Plötzlich sind die Schülerinnen und Schüler nicht mehr da, und die Lehrkräfte müssen trotzdem Unterricht machen. Das hat eine Inkubationsphase für Neues ausgelöst. Eine Fortbildungsveranstaltung hätte es nicht geschafft, Lehrkräfte plötzlich flächendeckend in den Modus zu bringen, Fernunterricht zu praktizieren.

Viele Lehrerinnen und Lehrer haben individuelle, kluge Lösungen zur Bewältigung der neuen Herausforderungen gefunden. Häufig fehlen aber Absprachen, und jeder arbeitet – wenn überhaupt – mit unterschiedlichen digitalen Systemen. Dadurch, dass die meisten keine Erfahrungen mit dieser Situation haben, sind die Ansprüche allerdings auch nicht so hoch. Wenn die Lehrkräfte beispielsweise Arbeitsblätter über E-Mail an die Schülerinnen und Schüler senden und von diesen die Antworten zur Beurteilung zurückbekommen, zeigt sich darin zumindest ein gewisser Erfolg. Das ist allerdings noch kein Konzept und keine Könnerschaft, was digitale Unterstützung im Unterricht auszeichnet.

Krisen sind gute Auslöser, sie sind aber keine guten Lehrmeister.

Was muss passieren, damit sich daraus eine Könnerschaft entwickelt?
Krisen sind gute Auslöser, sie sind aber keine guten Lehrmeister. Die Expertise innovativen Unterrichts in einer Kultur der Digitalisierung ist schon viel weiter gediehen. Jetzt geht es darum, aus den Erfahrungen zu lernen und sich die erforderlichen Kompetenzen anzueignen. Diese Krise ist eine Jahrhundertchance.

Michael Schratz ist Erziehungswissenschaftler an der Universität Innsbruck und Sprecher der Jury des Deutschen Schulpreises.
Bildungsforscher Michael Schratz
©Universität Innsbruck

Die Bereitschaft, diese Chance zu ergreifen, ist nach den Ergebnissen des Deutschen Schulbarometers vorhanden: In der Umfrage geben 69 Prozent der Lehrkräfte an, dass es an ihrer Schule einen Verbesserungsbedarf bei den Kompetenzen der Lehrkräfte gibt, mit digitalen Lernformaten zu arbeiten. Außerdem sagen 67 Prozent, dass sie die Schülerinnen und Schüler zukünftig stärker dazu befähigen wollen, mehr Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess zu übernehmen. Wie hängt das mit der Corona-Krise zusammen?
Die Umfrage hat ja auch gezeigt, dass ein Großteil der Lehrerinnen und Lehrer versucht, das, was sie im klassischen Unterricht machen, auf den Fernunterricht zu übertragen. Zum Beispiel Arbeitsblätter scannen und an die Schülerinnen und Schüler verteilen. Das ist natürlich für alle Beteiligten sehr aufwendig, und es befähigt die Schüler nicht, selbstständig zu arbeiten. Die Grenzen der Übertragung des analogen Unterrichts auf das digitale System werden hierbei offenkundig, denn der Fernunterricht verändert die Lehrerrolle.

Wie sieht diese neue Lehrerrolle konkret aus?
Im klassischen Unterricht wird das Verstehen an die Schülerinnen und Schüler delegiert. Die Lehrperson beurteilt, ob sie das Vermittelte verstanden haben oder nicht. Im Fernunterricht recherchieren die Schülerinnen und Schüler die neuen Inhalte selbst nach dem Konzept des „Flipped Classroom“. Die Lehrkraft unterstützt, gibt Orientierung und fördert die kritische Auseinandersetzung mit Wissen aus dem Internet.

Vielfach wird die Sozialisationsfunktion der Schule zu wenig gesehen, sondern nur die Qualifizierungsfunktion.

In der Umfrage geben viele Lehrkräfte an, dass sie sich ein gemeinsames Verständnis der Schule dafür wünschen, wie digitale Formate im Unterricht sinnvoll eingesetzt werden. Wie lässt sich ein solches Verständnis entwickeln?
Die digitale Transformation hat in Deutschland noch wenig Einzug in die Schulen gefunden, wenn man das mit der Durchdringung im Lebensalltag vergleicht. Die Chance besteht darin, den momentanen Digitalisierungsschwung zu nutzen und auf Basis der zum Teil mühevollen Erfahrungen ein digitales Konzept zu entwickeln. Die eigentliche Arbeit beginnt also erst jetzt.

Dabei müssen die Schulen klug überlegen, welche technische Ausstattung sie brauchen, mit welcher Plattform sie arbeiten wollen, aber auch, welche Möglichkeiten sie didaktisch nutzen wollen, damit alle Lehrerinnen und Lehrer die digitale Kultur in ihren Fächern für ihre spezifischen Zwecke nutzen können. Dazu gehört, dass die einzelnen Fachgruppen überlegen, welche Inhalte durch digitale Unterstützung besser als durch einen Lehrervortrag erarbeitet werden können. Das Konzept für die Digitalisierung sollte es ermöglichen, dass Schülerinnen und Schüler in ihrem eigenen Tempo arbeiten können und dabei sowohl gefördert als auch gefordert werden.

Nach meinen Beobachtungen erleben Lehrende an Schulen, die bereits ein Gesamtkonzept dafür entwickelt haben, die gegenwärtige Situation weniger krisenhaft. Der Rahmen eines gemeinsamen Konzepts gibt den Lehrpersonen und ihren Schülerinnen und Schülern in dieser Phase der Unsicherheit Halt. Er sorgt für Entlastung, weil sich alle in diesem System auskennen, bietet aber genug Freiraum, um zu experimentieren und eigene Wege zu finden.

Digitalisierung ist nicht alles. Die Corona-Krise macht auch klar, dass digitale Lernformate ihre Grenzen haben und den Sozialraum Schule nicht ersetzen können. Was lässt sich aus dieser Erfahrung für die Zukunft mitnehmen?
Das ist ein wichtiger Punkt: Vielfach wird die Sozialisationsfunktion der Schule zu wenig gesehen, sondern nur die Qualifizierungsfunktion. In der Corona-Krise ist spürbar geworden, was früher entweder als selbstverständlich angesehen oder was zu wenig wertgeschätzt wurde: dass Schule der Mikrokosmos für das gesellschaftliche Zusammenleben ist. Paradox ist aber – so habe ich es von vielen Lehrkräften gehört –, dass sie trotz oder gerade aufgrund der Distanz eine persönlichere Beziehung zu einzelnen Schülerinnen und Schülern aufbauen konnten, als sie sie vorher hatten. Und zwar deswegen, weil sie im Fernunterricht viel stärker auf jeden Einzelnen eingehen müssen. Die veränderte Lehrerrolle kann sich also auch positiv auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis auswirken.

Im Unterricht gehen zwar auch viele Schülerinnen und Schüler verloren, aber dort nimmt man es nicht wahr, weil sie ja physisch im Klassenzimmer sitzen – auch wenn sie wenig vom Unterricht mitbekommen.

Die meisten Befragten glauben, dass die Schulschließung Auswirkungen auf soziale Ungleichheit hat. Welche Konsequenzen sollten Schulen daraus ziehen?
Im Fernunterricht wird sichtbar, was oft verborgen bleibt: Lehrkräfte haben manche Schülerinnen und Schüler beim Fernunterricht verloren, weil sie diese aufgrund fehlender Ressourcen über die Entfernung gar nicht erreichen können. Im Unterricht gehen zwar auch viele Schülerinnen und Schüler verloren, aber dort nimmt man es nicht wahr, weil sie ja physisch im Klassenzimmer sitzen – auch wenn sie wenig vom Unterricht mitbekommen. Das liegt daran, dass wir immer noch sehr stark von einem am Durchschnitt getakteten Unterricht geprägt sind, obwohl in den Jahrgängen ganz unterschiedliche Wissensstände und Leistungsunterschiede vorhanden sind.

Die Konsequenz aus den Erfahrungen des Fernunterrichts könnte sein, stärker hinzuschauen, wo die einzelnen Schülerinnen und Schüler stehen, und sich stärker darauf auszurichten. Dazu brauchen Schulen mehr Flexibilität. Projektarbeit, jahrgangsübergreifender Unterricht, die Auflösung der klassischen Stundentafel, die Einbeziehung außerschulischer Lernorte – all das sind Aktivitäten, die hier wichtig sind. Wenn die Lehrkräfte sich nicht stärker an den jeweiligen Potenzialen der Lernenden ausrichten, dann wird es schwer, soziale Ungleichheit auszugleichen.

Sehen Sie eine Gefahr darin, dass die Schulen bei Wiederöffnung dort weitermachen, wo sie standen, als sie geschlossen wurden?
Alle sehnen sich jetzt nach der Schule zurück. Einerseits ist es gut, dass man schätzt, was man hat, andererseits ist es aber wichtig, dass man nicht wieder zum „business as usual“ zurückzukehrt, wenn die Schulen wieder öffnen, sondern zunächst die Erfahrungen aufarbeitet. Der Austausch darüber, wie man die Krise erlebt hat, sollte im Vordergrund stehen – die Einzelerfahrungen der Lehrenden und Lernenden, die Erfahrungen der Lehrkräfte mit den Schülerinnen und Schülern sowie die Erfahrungen der Zusammenarbeit im Kollegium. Diese Erfahrungen von unten sind viel wirkmächtiger als eine Vorgabe von außen. Hier ist vor allem die Schulleitung gefragt, die das Thema Schulentwicklung zu einer gemeinsamen Mission macht. Nur so ist es möglich, die Jahrhundertchance zu ergreifen.

Zur Person

  • Der österreichische Erziehungswissenschaftler und Schulpädagoge Michael Schratz ist Gründungsdekan der School of Education an der Universität Innsbruck.
  • In seiner Arbeit fokussiert sich Michael Schratz auf die Schulentwicklung und die Professionalisierung von Führungspersonen im Bildungsbereich.
  • Als hochkarätiger Experte aus der Wissenschaft ist er Mitglied der Jury des Deutschen Schulpreises und zugleich deren Sprecher.
  • Für das Deutsche Schulportal schreibt Michael Schratz regelmäßig Gastbeiträge und beobachtet Entwicklungen in der Bildungslandschaft.

Deutscher Schulpreis 20I21

  • Die Robert Bosch Stiftung und die Heidehof Stiftung reagieren auf die Corona-Krise mit einer neuen Ausschreibung für den Deutschen Schulpreis 2021. Statt der regulären Ausschreibung gibt es nun den Deutschen Schulpreis 20I21 SpezialAusgezeichnet werden Konzepte, die Schulen im Umgang mit der Krise entwickelt haben und die auch danach die schulische Arbeit nachhaltig verbessern sollen. Die Bewerbungsfrist endet am 15. Oktober 2020.
  • Ihre Fragen zum Deutschen Schulpreis 20I21 Spezial können Sie auch in Online-Beratungsworkshops stellen.
  • Mehr Informationen gibt es hier:

Mehr zum Thema

  • Das Schulportal hat die Umfrage-Ergebnisse des Deutschen Schulbarometers Spezial Corona-Krise in einer großen Infografik dargestellt.
  • Die Bildungsforscher Klaus Hurrelmann und Dieter Dohmen fordern in ihrem Gastbeitrag, dass die Begrenzung sozialer Schieflagen bei der Wiederöffnung der Schulen eine zentrale Rolle spielen muss.
  • Alle Ergebnisse des Deutschen Schulbarometers Spezial Corona-Krise können Sie hier als PDF downloaden: