Zwei Schulleiterinnen berichten : Aufholprogramm: „Schulen werden nicht gehört“

Wie können die Schulen am besten die coronabedingten Lernrückstände abbauen? Die Kultusministerien der Länder kündigen bereits zahlreiche Maßnahmen an, von Sommerschulen bis zum Einsatz von Studentinnen und Studenten. Insgesamt stehen zwei Milliarden Euro zu Verfügung. Doch was sagen eigentlich die Schulen? Was brauchen sie, um wirkungsvolle Lernförderung anbieten zu können? Und was wollen sie nicht? Das Schulportal  hat zwei Schulleiterinnen zum Corona-Aufholprogramm befragt.

Ein Schüler blättert in einem Buch
Vor allem bei Schülerinnen und Schülern, die bereits vor der Corona-Pandemie große Probleme hatten, ist der Nachholbedarf groß.
©DEEPOL by plainpicture

 „Wir brauchen einen dauerhaften zusätzlichen Personalpool“

Kathrin Borges-Postulka, Schulleiterin der Gerhard-Rohlfs-Oberschule in Bremen: Die Sommerferien beginnen in Bremen am 22. Juli. Um den Lernstand der Schülerinnen und Schüler zu überprüfen, bleibt uns nicht viel Zeit. Das Institut für Qualitätsentwicklung, das eine solche schnelle Evaluierung möglich machen soll, ist in Bremen noch im Aufbau. Ich bin also auf die Rückmeldung der Lehrerinnen und Lehrer angewiesen. Wir sehen vor allem bei Schülerinnen und Schülern, die schon vor der Pandemie verschiedene Problemlagen hatten, dass der Nachholbedarf groß ist. Es gibt sogar einige, die wir im Distanzunterricht gar nicht mehr erreicht haben.

Dieses Problem kann nicht mit Sommerschulen gelöst werden. Wir haben uns gegen ein solches Ferienangebot entschieden. Es scheitert schon am fehlenden Hausmeister in dieser Zeit. Und die Schülerinnen und Schüler, die die Sommerschule wirklich brauchen würden, erreichen wir damit nicht. Lieber würden wir zum Beispiel einen Segelkurs in den Ferien anbieten, um die Jugendlichen wieder zu motivieren und in die Schulgemeinschaft zu bringen. Aber das ist leider nicht möglich.

Die Schülerinnen und Schüler brauchen Menschen, die sie langfristig begleiten. Das können keine Lehramtsstudierenden übernehmen, die bis Weihnachten wieder weg sind.
Kathrin Borges-Postulka, Schulleiterin in Bremen

Was wir wirklich dringend brauchen, ist eine zusätzliche Stelle für einen Sozialpädagogen oder eine Sozialpädagogin. Für diese Arbeit muss Vertrauen aufgebaut werden, und das wächst langsam. Die Schülerinnen und Schüler brauchen Menschen, die sie langfristig begleiten. Das können keine Lehramtsstudierenden übernehmen, die bis Weihnachten wieder weg sind.

Um die Basiskompetenzen in Mathe und Deutsch zu stärken, wollen wir im neuen Schuljahr auch Wahlpflichtstunden nutzen. Davon gibt es pro Woche zwei Unterrichtsstunden. In Mathe machen wir das beginnend in Jahrgangsstufe 5 jetzt schon mit dem Programm „Mathe sicher können“.

Eine besondere Förderung brauchen erfahrungsgemäß auch schon einige Kinder, die von den Grundschulen zu uns in die fünfte Klasse kommen. Schon vor Corona hatten diese Schülerinnen und Schüler oft einen Rückstand von bis zu zwei Schuljahren. Häufig sitzen die einfachen Rechenoperationen, wie schriftliches Addieren und Subtrahieren, nicht. Das zeigen unsere regelmäßigen Lernstandserhebungen in den fünften Klassen. Durch Corona wird sich das Problem im kommenden Schuljahr vermutlich noch verschärfen. Da wir eine MINT-orientierte Schule sind, legen wir besonderen Wert darauf, dass die Kinder diese Grundlagen beherrschen.

Wir würden auch gern in den zehnten Klassen gezielt pandemiebedingte Lernrückstände aufarbeiten können, schließlich stehen die Schülerinnen und Schüler hier vor dem Abschluss und vor dem Übergang in eine Oberstufe oder in die Berufsausbildung. Doch dafür fehlt uns eine Mathe-Lehrkraft. In Deutsch soll das Leseförderprogramm, um das wir uns bereits vor der Pandemie beworben haben, im neuen Schuljahr starten. Zur Sprachförderung würden wir auch gern das Wahlpflichtfach Chor wieder anbieten. Damit haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht. Neben den Sprachkompetenzen entwickeln die Schülerinnen und Schüler dabei auch Sozialkompetenzen. Wir haben das Angebot zusammen mit der logopädischen Abteilung der Hochschule Bremen entwickelt und die Evaluation hat eine hohe Wirksamkeit gezeigt. Aber nun fehlt uns eine zweite Stelle, um das Chor-Angebot als Wahlpflichtfach dauerhaft abzusichern.

Was uns wirklich helfen würde, wäre ein dauerhafter zusätzlicher Personalpool für solche Förderangebote.

„Wir wollen uns im kommenden Schuljahr Zeit für Projekte nehmen“

 Kerstin Philipp, Schulleiterin der Realschule Rheinstetten in Baden-Württemberg: Ich sehe die Umsetzung des Aufholprogramms in Baden-Württemberg kritisch. Die Konzepte werden am Schreibtisch gemacht und die Schulen werden nicht gehört. In Baden-Württemberg sollen die Schulen jetzt melden, wenn sie ab sofort Lehramtsstudierende einsetzen wollen. Jetzt soll alles ganz schnell gehen, ohne zu überlegen, wo ein solcher Einsatz sinnvoll ist oder welche Qualifikation die Studierenden brauchen. Wir werden diesen Aktionismus nicht mitmachen. Ich sehe darin auch eine mangelnde Wertschätzung der ausgebildeten Pädagoginnen und Pädagogen. Natürlich kann der Einsatz von Studierenden das Ruder nicht rumreißen. Sie brauchen Anleitung, ihr Einsatz muss mit dem Unterricht verzahnt sein, sie müssen die Schülerinnen und Schüler kennenlernen. Das ist so schnell nicht zu machen, und es wäre auch vergebliche Mühe, wenn dann im kommenden Schuljahr wieder neue Studierende kommen.

In Baden-Württemberg sind die Schülerinnen und Schüler erst seit dem 7. Juni wieder komplett in der Schule, die Ferien beginnen am 29. Juli. Bis dahin können wir feststellen, was die Schülerinnen und Schüler im Fernunterricht wirklich verstanden haben. In den kommenden Wochen werden wir uns ein Bild machen, ohne uns und den Schülerinnen und Schülern jetzt den Druck zu machen, den ganzen verpassten Stoff aufzuholen.

Den größten Nachholbedarf wird es vermutlich in den mathematischen Basiskompetenzen geben. Die waren vor Corona schon ein Problem. Auch das Textverständnis muss geübt werden. Wir hatten deshalb schon vor Corona eine zusätzliche Unterrichtsstunde für die Kernfächer im Stundenplan und die werden wir auch im kommenden Schuljahr beibehalten. Gerade das ausdauernde Üben, das für dieses Basiskompetenzen wichtig ist, ist beim Lernen zu Hause sicher oft zu kurz gekommen.

Ich sehe in den Klassen jetzt ganz deutlich, dass die Kinder das gemeinsame Lernen wieder lernen müssen.
 Kerstin Philipp, Schulleiterin in Baden-Württemberg

Wir dürfen aber nicht nur darauf schauen. Zu den Kernkompetenzen, die die Schule vermitteln soll, gehören ja auch Teamfähigkeit, Kreativität oder auch Problemlösungskompetenz. Ich sehe in den Klassen jetzt ganz deutlich, dass die Kinder das gemeinsame Lernen wieder lernen müssen. Plötzlich sitzen wieder 25 Schülerinnen und Schüler in einer Klasse, da muss man aufeinander Rücksicht nehmen, nicht jeder kann einfach losreden, wie es ihm passt. Das sind die Schülerinnen und Schüler nicht mehr gewohnt.

Wir wollen uns im kommenden Schuljahr Zeit für Projekte nehmen. In einem Theaterprojekt zum Beispiel kann man wunderbar sprachliche Fähigkeiten und gleichzeitig all die anderen Kompetenzen trainieren. In solchen Projekten kann ich mir auch vorstellen, mit Studierenden oder anderen Externen vorübergehend zusammenzuarbeiten, aber sie müssen gründlich geplant werden.

Mit den angebotenen „Lernbrücken“ in den Ferien haben wir keine guten Erfahrungen gemacht. Schülerinnen und Schüler, die daran teilgenommen haben, hatten leider kaum Fortschritte gemacht. Dort sitzen Kinder aus verschiedenen Jahrgangsstufen mit ganz unterschiedlichen Defiziten zusammen.

Corona-Aufholprogramm

  • Das Bundesbildungsministerium hat Anfang Mai das „Aktionsprogramm Aufholen nach Corona” auf den Weg gebracht. Dieses bundesweite Förderprogramm soll dabei unterstützen, Lernrückstände aufzuholen und soziale Folgen der Corona-Pandemie zu kompensieren.
  • Das Corona-Aufholprogramm hat ein Volumen von insgesamt zwei Milliarden Euro. Die Hälfte davon steht für Fördermaßnahmen zum Abbau pandemiebedingter Lernrückstände zur Verfügung.
  • Die zweite Milliarde Euro soll in soziale Maßnahmen fließen, um auch die psychischen Krisenfolgen für Kinder und Jugendliche abzufedern. Hier geht es vor allem um eine Aufstockung von bestehenden Programmen im Bereich frühkindlicher Bildung, in der Schulsozialarbeit und im Freizeitbereich.
  • Flächendeckend starten soll das Unterstützungsprogramm im neuen Schuljahr. Erste Maßnahmen sind auch schon in den Sommerferien geplant.
  • Anfang Juni hat nun die neue Ständige wissenschaftliche Kommission (StäwiKo) der Kultusministerkonferenz Empfehlungen veröffentlicht. Im Interview mit dem Schulportal erklärt die Co-Vorsitzende des Expertengremiums Felicitas Thiel, worauf es jetzt aus Sicht der Wissenschaft ankommt.