Schüler aus der Ukraine : Ankommen mit Übersetzungs-App und Sprachpaten

Die Waldschule Hatten gehört bundesweit zu den digitalen Pionieren. Die Erfahrungen beim Einsatz von digitalen Medien für individualisiertes Lernen kann die Schule nun bei der Integration ukrainischer Schülerinnen und Schüler nutzen.

Dieser Inhalt wird im Rahmen einer gemeinsamen Initiative der Robert Bosch Stiftung und der Bertelsmann Stiftung bereitgestellt. >> Mehr erfahren

Die Deutschlehrerin zeigt Vitali, wie er seine Aufgabe im iPad bearbeiten kann.
©Florentine Anders
Die Waldschule Hatten liegt in einer ländlichen Region nahe Oldenburg.
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Auf dem Schulgelände der Waldschule Hatten begegnet man an vielen Orten Willkommensgrüßen für die ukrainischen Schülerinnen und Schüler.
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Als der 12-jährige Vitali mit seiner kleinen Schwester und der Oma das erste Mal im Sekretariat der Waldschule Hatten saß, schaute er ängstlich mit geröteten Augen auf seine Schuhspitzen. Er wollte nicht in eine deutsche Schule, er wollte zurück in die Ukraine, dorthin, wo seine Eltern heute noch sind, um ihr Land zu verteidigen. Ihre beiden Kinder hatten die Eltern zur Großmutter geschickt, die schon seit zwei Jahren in dem kleinen Ort in Niedersachsen wohnt.

Dass Vitali heute, drei Wochen später, gut in der sechsten Klasse der Waldschule Hatten angekommen ist, ist vor allem Kamila Hallerstede zu verdanken. Die Lehrerin für Deutsch als Zweitsprache (DaZ) kam vor fünf Jahren aus Georgien als Quereinsteigerin an die Schule, vor allem um geflüchtete Kinder aus Syrien zu unterrichten. Inzwischen unterrichtet sie viele Unterrichtsfächer und begleitet als Klassenlehrerin eine eigene Klasse. Durch ihre Russisch-Kenntnisse kann sie nun leicht Kontakt zu den ukrainischen Familien aufnehmen. Alle geflüchteten Kinder, die an der Waldschule Hatten Aufnahme suchen, werden zuerst von ihr empfangen. Ihre ruhige, warmherzige Art zaubert schnell ein Lächeln in die Gesichter. Bisher lernen 15 ukrainische Schülerinnen und Schüler an der Waldschule Hatten, die in der ländlichen Gemeinde Hatten im niedersächsischen Landkreis Oldenburg liegt, und beinahe täglich kommen neue hinzu. Insgesamt gibt es an der weiterführenden Schule etwa 850 Schülerinnen und Schüler.

Kamila Hallerstede
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Kamila Hallerstede hält für die Neuankömmlinge ein kleines Willkommenspaket bereit. „Am meisten freuen sich die Kinder über die laminierten Kärtchen mit den wichtigsten Sätzen auf Deutsch und Ukrainisch, illustriert durch lustige Smileys. Ganz oben steht der Satz: „Schön, dass du da bist.“

Ebenfalls im Willkommenspaket ist eine Einladung zum Kunstworkshop für Kinder mit Fluchterfahrung, der von einer weiteren Lehrkraft am Nachmittag angeboten wird. „Kunst ist eine Sprache, die alle verstehen, das tut den Kindern gut“, sagt die Schulleiterin Silke Müller, die mit unterschiedlichen Freizeitangeboten auch bei den Kindern aus syrischen Kriegsgebieten bereits gute Erfahrungen gemacht hat.

iPad mit allen nötigen ukrainischen und deutschen Apps

Und dann gibt es direkt bei der Anmeldung ein iPad als Leihgerät, auf dem bereits ein Übersetzungsprogramm installiert ist. Auch die ukrainischen Schulbücher finden die Schülerinnen und Schüler auf dem iPad. Die Eltern oder anderen Begleitpersonen erhalten einen QR-Code, mit dem sie auf die Online-Angebote des ukrainischen Bildungsministeriums zugreifen können. Viele Geflüchtete befürchten, den Anschluss an den ukrainischen Lehrplan zu verlieren, – die Schülerinnen und Schüler können das Leihgerät deshalb mit nach Hause nehmen und nutzen dieses Angebot am Nachmittag.

Neben Vitali sitzt Lisa in der sechsten Klasse. Sie ist zwar wie Vitali schon vor einigen Wochen vor dem Krieg nach Deutschland geflohen, aber erst seit einem Tag an der Waldschule. Vorher hatte sie weiter am Online-Unterricht ihrer Schule in der Ukraine teilgenommen. „Anfangs herrschte Unklarheit, wo die Schulpflicht gilt. Doch das hat das niedersächsische Kultusministerium inzwischen klargestellt. Jedes ukrainische Kind, das in Niedersachsen gemeldet ist, wird auch an einer deutschen Schule angemeldet werden“, sagt die Schulleiterin.

An der Waldschule Hatten werden die Kinder aus der Ukraine direkt in Regelklassen integriert. Sprachpaten helfen in der Klasse beim Übersetzen, denn fünf Prozent der Schülerinnen und Schüler hier haben russische Wurzeln und ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung kennt auch die russische Sprache. Die Schulleiterin hat mit diesen Kindern vorher ein vertrauensvolles Gespräch geführt, um zu erfahren, ob sie dadurch in einen Konflikt geraten könnten. „Die Kinder sind ein großes Beispiel für die Erwachsenen. Sie sehen andere Kinder, die Hilfe brauchen, und nicht deren Herkunft oder Nation“, sagt Silke Müller.

Lisa und Vitali haben gleich drei Paten in ihrer Klasse. Einer von ihnen ist Leon. In der Deutsch-Stunde sitzt er neben Vitali und erklärt ihm auf Russisch, was zu tun ist. Während die anderen eine Personenbeschreibung machen, hat er die Aufgabe, die deutschen Wörter für die Beschreibung des Gesichts aus seiner Übersetzungs-App herauszufinden und abzuschreiben. Anschließend übt er mit der Anton-App.

Das Interview-Video mit Schulleiterin Silke Müller wurde von der Agentur J&K – Jöran und Konsorten im Auftrag von Robert Bosch Stiftung und Bertelsmann Stiftung erstellt.

Lehrkräfte erhalten Übersetzung der ukrainischen Lehrpläne

Die Waldschule Hatten gehört bundesweit zu den digitalen Vorreiterschulen. Ab der siebenten Klasse bekommen hier alle Schülerinnen und Schüler ein iPad, finanziert von den Eltern. Familien, die Schwierigkeiten bei der Finanzierung haben, werden durch einen schulinternen Sozialpool aufgefangen. Zehn Lehrkräfte gehören zum IT-Team der Schule, suchen die passenden Angebote heraus und richten die digitalen Geräte entsprechend den Bedürfnissen der Kinder ein.

Das individualisierte Lernen mit den digitalen Medien kommt auch den geflüchteten Schülerinnen und Schülern zugute. So können sie von Anfang an in der Regelklasse lernen und trotzdem ihrem individuellen Programm mithilfe des iPads folgen.

Damit die Lehrkräfte der verschiedenen Fächer wissen, wo die ukrainischen Schülerinnen und Schüler ungefähr stehen, hat die Schule die Lehrpläne mit einer App ins Deutsche übersetzt. Nur in den beiden täglichen DaZ-Stunden werden die Kinder gesondert unterrichtet. Außerdem haben sie die Möglichkeit, sich auszuklinken und in einem extra Raum Kontakt zur Schule in der Heimat aufzunehmen, wenn dort Online-Unterricht stattfindet.

Schulleiterin Silke Müller ist für ihre Schule überzeugt, dass es den Kindern und Jugendlichen hilft, wenn sie von Anfang an in einem stabilen Klassenverband sind und dabei individuelle Angebote haben. Der Weg über eine Vorbereitungsklasse in die Regelklasse würde aus ihrer Sicht einen unnötigen zusätzlichen Bruch verursachen. An der Waldschule sollen die Kinder gleich eine Heimat in der Schule mit vertrauten Gesichtern erhalten. Damit hat die Schule schon bei der Fluchtbewegung 2015 gute Erfahrungen gemacht.

Kontakt mit den ukrainischen Eltern per Messenger-Dienst

Auch in der Kommunikation mit den Eltern läuft an der Waldschule Hatten vieles digital. „Wir halten mit den ukrainischen Eltern über Messenger-Dienste Kontakt“, sagt Kamila Hallerstede. So können sie unkompliziert Bescheid geben, wenn ein Kind wegen Krankheit nicht zur Schule kommen kann. Gleichzeitig gibt es ein Netzwerk, in dem Dinge getauscht werden können. Mal werden Ballettschuhe gesucht, mal ein gebrauchtes Fahrrad. Wenn es Herausforderungen mit den Ämtern gibt, können sich die Eltern per Messenger an die Sozialpädagoginnen Tanja Reiher und Laura Fellner wenden, auch hier ist Kamila Halerstede die Sprachmittlerin. Wer sprachlich dazu in der Lage ist, kann wie die anderen Eltern über die Schulplattform IServ mit den Lehrerinnen und Lehrern kommunizieren. Hier sind sie auch ständig auf dem Laufenden, welche Aufgaben in der Woche von ihren Kindern bearbeitet werden.

Elternsprechtage und Elternabende sind an der Waldschule Hatten längst digital. „Die Beteiligung ist seither viel größer, und auch für die Lehrkräfte und Eltern ist es eine Entlastung, wenn sie nicht um 20 Uhr die Schule abschließen und dann erst nach Hause fahren“, sagt Silke Müller. Natürlich gibt es darüber hinaus auch persönliche Kontakte vor Ort, wenn sie notwendig sind.

Und was fehlt aus Sicht der Schule für die Integration der ukrainischen Schülerinnen und Schüler? Die Schulleiterin wünscht sich jetzt vor allem psychologische und sozialpädagogische Unterstützung bei der Traumabearbeitung.

Laura Fellner, die nach ihrem Studium gerade ein Anerkennungsjahr an der Waldschule macht, würde gern als zweite Sozialpädagogin dort weiterarbeiten, hat aber derzeit keine Aussicht auf eine Stelle. Dabei wird sie in der Schule dringend gebraucht, um all den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden. Gemeinsam mit der Schulbehörde versucht die Schulleiterin, hier doch noch eine Lösung zu finden.

Nach Unterrichtsschluss stehen Vitali und Lisa gemeinsam mit den anderen auf dem Schulhof und warten auf den Bus. Lisa ist umringt von den Mädchen, sie lachen und versuchen, Englisch zu reden. Vitali verabschiedet sich von seinem Paten Leo und fährt zu seiner Oma. Wenn alles gut geht, wird er am Abend mit den Eltern in der Ukraine per Video verbunden sein.