Buch-Tipp

Digitalisierung : Was wir verlieren, wenn wir uns nicht mehr konzentrieren können

Der britische Wissenschaftsjournalist Johann Hari legte Anfang 2022 sein neues Buch vor: „Abgelenkt: Wie uns die Konzentration abhandenkam und wie wir sie zurückgewinnen“. Es ist das dritte in einer Serie, in welcher sich Johann Hari mit Phänomenen und Volkskrankheiten des 21. Jahrhunderts beschäftigt, für die wir bis heute nur bedingt wirksame Lösungen gefunden haben. Nach Drogensucht und Depression widmet sich der Brite nun einem Phänomen, das wohl die meisten Menschen, die täglich digitale Medien nutzen, schon an sich beobachtet haben: Es geht um unsere Konzentrationsfähigkeit, die rasant abzunehmen scheint.

Vielen Leserinnen und Lesern mag es ähnlich gehen, wenn sie „Abgelenkt“ lesen. Sie fühlen sich ertappt, beobachtet, denn Johann Hari beschreibt mit erstaunlicher Präzision, was viele Menschen bewusst oder unbewusst an sich selbst und anderen wahrnehmen. Es kommt einem Kraftakt gleich, sich länger als ein paar Minuten vollständig auf eine Aufgabe zu konzentrieren oder sich in ein Buch beziehungsweise einen längeren Text zu vertiefen. Menschen erleben immer seltener einen Zustand, in welchem sie komplett in einer Tätigkeit aufgehen, völlig vertieft in diese sind, den sogenannten „Flow State“.

Experiment: Mehrere Wochen ohne Internet, PC und Smartphone

Johann Hari macht zunächst seine eigenen Unzulänglichkeiten – fehlende Disziplin und Willensstärke – für diesen Zustand der Zerstreutheit und mentalen Rastlosigkeit verantwortlich. Also wählt er kurzerhand den kalten Entzug und flieht für mehrere Wochen nach Provincetown, eine kleine Küstenstadt in Massachusetts, wo er seine Zeit ohne Internet, PC oder Smartphone mit Spaziergängen, Lesen und Schreiben verbringt.

Nach einigen quälenden Tagen kommt plötzlich die Kreativität zurück, der tiefe, erholsame Schlaf und schließlich die Fähigkeit, sich mehrere Stunden am Stück zu konzentrieren. Doch der Effekt währt nicht lang, nur kurze Zeit nach seiner Rückkehr in den Alltag ist alles wieder wie zuvor.

Manche Leserinnen und Leser mögen irritiert sein, dass „Abgelenkt“ kein Ratgeber ist. Gewiss finden sich darin dutzende Alltagsstrategien, die Johann Hari zum Teil selbst ausprobiert und für gut befunden hat (beispielsweise nutzt er einen Handysafe mit Zeitverriegelung), doch sie verfehlen die eigentlichen tieferliegenden Ursachen.

Das Lese-, Arbeits- und Schlafverhalten haben sich verändert

Johann Hari erkennt zwölf Ursachen für unsere abnehmende Konzentrationsfähigkeit. Wenig überraschend gehören insbesondere soziale Medien dazu, die exakt dafür designt sind, so viel Zeit wie nur möglich zu beanspruchen. So bemerkt er beispielsweise, dass kaum eine Plattform eine Funktion anbietet, die es uns erleichtert, uns mit Freunden, die sich in unserer Nähe aufhalten, zu einem physischen Treffen zu verabreden. Aber auch die sich verändernden Lese-, Arbeits- und Schlafverhaltensweisen spielen eine entscheidende Rolle. Dabei bezieht sich Johann Hari vornehmlich auf Daten aus den USA sowie Großbritannien. Wenngleich vieles in Deutschland nicht in gleicher Ausprägung zu beobachten sein dürfte, sind die Parallelen der beschriebenen Entwicklungen unverkennbar. Auch in Deutschland gaben zuletzt knapp 20 Prozent der Jugendlichen an, nie ein gedrucktes Buch zu lesen. „Stolen Focus“ wurde von Amazon in die Liste der besten zehn Bücher des Jahres 2022 aufgenommen. Johann Hari trifft offensichtlich einen Nerv.

Angaben zum Buch

  • Johann Hari: „Abgelenkt: Wie uns die Konzentration abhandenkam und wie wir sie zurückgewinnen“, Riva Verlag, 367 Seiten, 20 Euro.