Sexueller Missbrauch : „Trau dich!“ will Kinder bestärken, sich jemandem anzuvertrauen

Vor zehn Jahren startete „Trau dich!“ – eine bundesweite Initiative zur Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs. Ein gleichnamiges Theaterstück steht im Zentrum der Aufklärungsarbeit dieser Initiative, die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) umgesetzt wird. Das Schulportal sprach mit Stefanie Amann über die Arbeit der Initiative und darüber, wie es weitergehen soll.

Theaterszene
„Trau dich!“, es geht um Kinderrechte, gute und schlechte Geheimnisse, Gefühle, Grenzen und Vertrauen.
©Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Köln

Alina ist acht Jahre alt, als sie von dem zukünftigen Ehemann ihrer Schwester missbraucht wird. Die Eltern hören nicht zu – auch sonst scheint es niemanden zu geben, dem sie erzählen kann, was ihr passiert ist. Schließlich ist es ihre große Schwester, mit der sie redet und die ihr glaubt.

Alinas Geschichte ist eine von vier Geschichten, die die Schauspielerinnen und Schauspieler des freien Theater- und Performancekollektivs „Kompanie Kopfstand“ erzählen. Ihr Stück heißt „Trau dich!“, es geht um Kinderrechte, gute und schlechte Geheimnisse, Gefühle, Grenzen und Vertrauen. Und es geht darum, den Kindern zu zeigen, was sexueller Missbrauch ist. Per Video sind während der Aufführung Kinder zugeschaltet, die das Geschehen auf der Bühne kommentieren und über Kinderrechte und Hilfsangebote informieren. Am Ende des Stücks kommen dann auch die regionalen Beratungsstellen auf die Bühne, um sich vorzustellen.

Die „Kompanie Kopfstand“ hat das Theaterstück „Trau dich!“ im Auftrag und gemeinsam mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erarbeitet. 2013 gestartet, leistet die Initiative vor allem Präventionsarbeit. Sie will Kinder stärken, aufklären und motivieren, sich jemandem anzuvertrauen, wenn sie Grenzverletzungen erfahren. Sich allein an die Kinder zu richten reicht aber nicht aus, denn es sind die Erwachsenen, die die Verantwortung für den Schutz der Kinder vor sexualisierter Gewalt tragen. Deswegen werden auch Eltern und schulische Fachkräfte sowie die Hilfesysteme vor Ort in die Präventionsarbeit einbezogen.

Das Theaterstück wendet sich an 8- bis 12-jährige Mädchen und Jungen. „Daten zeigen, dass Kinder dieser Altersgruppe besonders gefährdet sind, sexuellen Missbrauch zu erfahren“, sagt Stefanie Amann. Sie ist Referentin in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die Trägerin der Initiative „Trau dich!“ ist. Mittlerweile haben bundesweit bereits 90.680 Kinder aus rund 1.400 Schulen das Stück gesehen. 3.850 Lehrkräfte wurden im Vorfeld der Theateraufführungen fortgebildet.

„Trau dich!“ gibt es nun seit zehn Jahren. Das Schulportal sprach mit Stefanie Amann über die Arbeit der Initiative und darüber, wie es weitergehen soll.

Das Deutsche Schulportal: Frau Amann, nennen Sie uns bitte noch einmal die wesentlichen Ziele von „Trau dich!“.
Stefanie Amann: „Trau dich!“ hat vor allem das Ziel, Erwachsene zu sensibilisieren und zu befähigen, Kinder zu unterstützen und ihnen zu helfen. Das Theaterstück mit den begleitenden kindgerechten Materialien klärt Mädchen und Jungen über deren Rechte auf, stärkt sie darin, sich gegen sexuelle Übergriffe abzugrenzen und sich gegebenfalls an eine Person ihres Vertrauens zu wenden. „Trau dich!“ wendet sich insbesondere an Schulen, weil hier potenziell alle Kinder erreichbar sind.

Zudem unterstützen wir Eltern, Erziehungsberechtigte und schulische Fachkräfte, das Thema „sexueller Missbrauch“ mit den Kindern zu besprechen. So lernen Kinder, Familien und Schulen das Hilfesystem vor Ort kennen und können sich im Bedarfsfall schneller an eine Fachberatungsstelle in ihrer Nähe wenden. Das Theaterstück ist das zentrale Element der Initiative, die zum Ziel hat, die Prävention sexualisierter Gewalt flächendeckend zu stärken und dauerhaft zu verankern.

Missbrauchsdarstellungen im Netz haben dramatisch zugenommen

Welche Zahlen zum sexuellen Missbrauch bei Kindern liegen Ihnen vor?
Laut der Polizeilichen Kriminalstatistik sind 2021 die Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch um 6,3 Prozent auf über 15.500 Fälle gestiegen. 17.498 Kinder wurden Opfer sexueller Gewalt – das heißt, dass jeden Tag durchschnittlich 48 minderjährige Kinder Übergriffe durch Erwachsene erleiden mussten. Und wir wissen, dass die Dunkelziffer höher liegt. Zahlen für das vergangene Jahr liegen uns noch nicht vor. Ein dramatischer Anstieg ist in den vergangenen Jahren allerdings bei den Missbrauchsdarstellungen festzustellen. Damit ist die Darstellung sexueller Gewalt im Netz gemeint, deren Verbreitung, Erwerb oder Herstellung.

Wie ist das Theaterstück entstanden?
Wir haben mit einer Ausschreibung nach einer passenden Theatergruppe gesucht. „Die Kompanie Kopfstand“ hatte bereits mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet und entsprechende Erfahrungen, auch in sensiblen Themen. Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben dann in Recherchen und Projekttagen mit Kindern über Gefühle, Freundschaft, über Nähe und Distanz und über Grenzen gesprochen und sich von ihnen erzählen lassen, an wen sie sich wenden, wenn sie Hilfe brauchen. Vieles von dem, was die Kinder erzählt haben, findet sich in den Geschichten und Themen des Stücks wieder. Zudem haben sich alle Beteiligten des Ensembles vor und während der Erstellung des Stücks selbst intensiv mit der Thematik sexualisierter Gewalt auseinandergesetzt.

Die Kinder reagieren sehr emotional auf das Theaterstück

Wie reagieren die Kinder auf das Stück?
Die Kinder sind emotional sehr berührt – besonders wenn es um Alinas Geschichte geht. Sie fühlen sich angesprochen, weil hier aus ihrer Perspektive erzählt wird, weil die Geschichten direkt an ihre Lebenswelt anknüpfen. Und fast alle erinnern sich an die „Nummer gegen Kummer“ – eine kostenfreie, anonyme Telefonberatung, die am Ende der Aufführung genannt wird.

Befragungen der Zuschauerinnen und Zuschauer zeigen, dass das Stück die Kinder nicht verängstigt. Es ermutigt sie vielmehr, sich zu wehren, wenn ihr Nein nicht gehört wird, wenn es um zu viel Nähe oder unangenehme Berührungen geht.

Wie werden die Aufführungen vorbereitet?
Lehrkräfte, die mit ihrer Klasse eine Theateraufführung sehen wollen, müssen sich zuvor verpflichtend fortbilden. Das geschieht in speziellen Workshops. Die werden von spezialisierten Fachberatungsstellen vor Ort, wie „Wildwasser“ oder „Zartbitter“, durchgeführt.

Schließlich werden auch die Eltern in die Vorbereitung mit einbezogen. Bevor die Kinder die Aufführung besuchen, findet ein Elternabend statt, der ebenfalls von Fachkräften angeboten wird. Auf dem Elternabend erfahren die Eltern, dass ihre Kinder bald ein Theaterstück sehen werden, in dem es um sexuellen Missbrauch gehen wird. Sie werden auf das Thema vorbereitet und informiert, wie sie mit den Kindern darüber reden können und wohin sie sich wenden können, wenn sie Unterstützung brauchen.

 

Finden Sie bei den Eltern offene Ohren?
Es sind häufig die ohnehin interessierten Eltern, die an der Vorbereitung teilnehmen. Und ansonsten gibt es die, die auch sonst schwer zu erreichen sind. Dennoch: Der Bedarf ist da. Und die Eltern, die an den Vorbereitungen teilgenommen haben, fühlen sich nachweislich gestärkt im Umgang mit diesem Thema und eher in der Lage, mit ihren Kindern darüber zu sprechen. In der Pandemie haben wir viele Elternabende digital durchgeführt – das wurde gut angenommen, die Zahl der Teilnehmenden stieg deutlich an.

Die Nachbereitung der Aufführungen ist Teil der Präventionsarbeit

Werden die Aufführungen auch nachbereitet?
Unbedingt. Der Gesprächsbedarf der Kinder ist sehr groß. Die Lehrkräfte werden bereits während der Workshops darauf vorbereitet, wie sie mit den Schülerinnen und Schülern den Aufführungsbesuch im Unterricht nachbereiten können. Außerdem geben wir ihnen Materialien und Methodenhefte an die Hand, die beispielsweise konkrete Übungen zu Nähe, Distanz und Grenzüberschreitungen enthalten. Auch stellen wir den Kontakt zwischen den Lehrkräften und entsprechend spezialisierten Fachstellen vor Ort her.

In sechs Bundesländern ist die Initiative bereits verstetigt

Mit welchen Bundesländern haben Sie bisher zusammengearbeitet? Wo ist die Initiative bereits verstetigt?
Wir haben die Initiative mit den begleitenden Bausteinen bislang gemeinsam mit elf Bundesländern umgesetzt. Die Zusammenarbeit beginnt mit der Premiere des Theaterstücks, die in einem großen Haus stattfindet, um dem Thema von Anfang an den Stellenwert zu geben, den es hat. Zwei bis drei Jahre lang sind wir dann in dem jeweiligen Bundesland mit unserem Theaterstück unterwegs, Vernetzungstreffen aller beteiligten Akteure, Vor- und Nachbereitung der Lehrkräfte und Eltern eingeschlossen.

Beteiligt haben sich bislang Sachsen, Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg, Hessen, Hamburg, Bremen, Bayern, Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Sachsen-Anhalt. In sechs Bundesländern – Berlin, Hessen, Bayern, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz – ist die Initiative bereits verstetigt, was heißt, dass wir eine Kooperationsvereinbarung mit dem jeweiligen Bundesland geschlossen haben, die die kostenfreie Lizenz an unserem Theaterstück beinhaltet. Das Land übernimmt somit die Trägerschaft des Projekts und kann festlegen, welche Fachstellen und Kooperationspartnerinnen und -partner mit ins Boot geholt werden. Meist sind das Nichtregierungsorganisationen, auch Kinderschutzstellen, der Deutsche Kinderschutzbund oder Hochschulen mit entsprechendem Schwerpunkt.

Mittlerweile gibt es fünf Theaterensembles, die unser Stück aufführen. Sie haben die Auflage, das Stück in den zentralen Präventionsbotschaften so zu übernehmen, wie wir es angelegt haben. In dieser Form hat es sich in der Fachpraxis bewährt. Die wissenschaftliche Begleitforschung bestätigt die positiven Effekte. Künstlerische Freiheit bei einer Neuinszenierung gibt es aber auch, zum Beispiel bei der Musik, den Kostümen oder dem Bühnenbild.

Ende dieses Jahres läuft die bundesweite Förderung Ihres Projekts aus. Wie wird es weitergehen?
Die Prävention sexualisierter Gewalt muss generell auf Dauer angelegt sein und von einer Vielzahl Handelnder auf unterschiedlichen Ebenen wahrgenommen werden. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und die Politik schafft dafür die entsprechenden Rahmenbedingungen.