Bildungsgerechtigkeit : Schulen kämpfen für mehr Chancengleichheit

Schulische Bildung ist ein wertvolles Kapital, das nicht fair verteilt ist. Die Kluft zwischen Kindern aus gebildeten und weniger gebildeten Familien beschreibt in der Soziologie der „Matthäus-Effekt“: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat“, heißt es schon im Matthäusevangelium. Schülerinnen und Schüler mit besseren Bildungsvoraussetzungen fällt es demnach leichter, diesen auszubauen, während Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern oft zurückbleiben. Doch es gibt Schulen, die diesem Prinzip trotzen. Wie schaffen sie das? Wie lässt sich Bildungserfolg fördern in Nachbarschaften, die durch soziale Benachteiligung und Bildungsarmut geprägt sind? Das Schulportal zeigt Wege zum Erfolg – für mehr Bildungs- und Chancengerechtigkeit.

Coaching einer Schülerin an der Waldparkschule in Heidelberg
An der Waldparkschule in Heidelberg profitieren die Kinder von einem individuellen Lerncoaching.
©Lars Rettberg (Die Deutsche Schulakademie)

„Gropiusstadt – das sind Hochhäuser für 45.000 Menschen, dazwischen Rasen und Einkaufszentren. Von weitem sah alles neu und sehr gepflegt aus. Doch wenn man zwischen den Hochhäusern war, stank es überall nach Pisse und Kacke. Das kam von den vielen Hunden und den vielen Kindern, die in Gropiusstadt leben. Am meisten stank es im Treppenhaus.“ So drastisch beschrieb Christiane Felscherinow in ihrem 1978 veröffentlichten Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ die Gegend, in der sie aufgewachsen ist.

Jahrzehntelang galt die Gropiusstadt, der kleine Ortsteil des Berliner Bezirks Neukölln, als sozialer Brennpunkt. Heute, 40 Jahre später, wohnen hier noch immer rund 37.000 Menschen, die Bevölkerungsdichte ist extrem hoch: Knapp 14.000 Einwohner sind es pro Quadratkilometer. Im wohlhabenden Berliner Ortsteil Zehlendorf sind es, zum Vergleich, nur rund 3.200 Einwohner.

In Sachen Bildungsgerechtigkeit ist Deutschland auf dem richtigen Weg

Bundesweit liegt rund ein Fünftel aller Mietwohnungen in einer Großwohnsiedlung. Das bedeutet, dass Millionen Menschen in Deutschland in einem Umfeld zu Hause sind, das oft durch soziale Benachteiligung geprägt ist. Hauptindikatoren für Bildungsbenachteiligung sind aber nicht die Großwohnsiedlungen selbst, sondern der Bildungsstand und die soziale Stellung der Eltern sowie deren Einkommen. Zahlreiche Studien belegten in den vergangenen Jahren, dass die Bildungschancen in Deutschland ungerecht verteilt sind. Den Anfang machte die Veröffentlichung der ersten PISA-Studie im Jahr 2001. Deren Ergebnisse bestürzten Deutschland. Nicht nur die Leistungen der deutschen Schülerinnen und Schüler fielen dramatisch schwach aus, sondern die PISA-Studie deckte auch auf, dass Schulerfolg in der Bundesrepublik stärker vom Einkommen und Bildungsstandard des Elternhauses bestimmt wird als in den meisten Industriestaaten.

Mehr zum Thema

Der „Chancenspiegel“, die Bildungsstudie der Bertelsmann Stiftung, der Technischen Universität Dortmund und der Friedrich-Schiller-Universität Jena, attestiert Schülerinnen und Schülern bessere Chancen, stellt aber auch wachsende Unterschiede zwischen den Bundesländern fest.

Für die Studie „Bildungsgerechtigkeit in Deutschland“ hat das Institut der Deutschen Wirtschaft Köln für die Konrad-Adenauer-Stiftung die Entwicklungen in diesem Feld seit dem Jahr 2000 untersucht.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat eine umfangreiche Analyse zum Thema veröffentlicht. Die englischsprachige Studie „Educational Opportunity for all“ („Bildungschancen für alle“) kann hier heruntergeladen werden.

Die Internationale OECD-Schulleistungsstudie PISA gilt als der Maßstab für die Beurteilung von Chancengerechtigkeit, Qualität und Effizienz von Bildungssystemen. Die wichtigsten Ergebnisse von PISA 2015 werden hier veröffentlicht.

Doch seitdem hat sich viel getan. Zwar stand in der dritten Auflage des „Chancenspiegel“, einer regelmäßig veröffentlichten Studie der Bertelsmann Stiftung, noch 2014: „Der Bildungserfolg, gemessen in Kompetenzen von Neuntklässlern in Mathematik, bleibt weiterhin stark von der sozialen Herkunft abhängig. Es gelingt Schulen in Deutschland also immer noch zu wenig, die herkunftsbedingten Benachteiligungen ihrer Schüler auszugleichen.“ Doch im jüngsten, 2017 publizierten „Chancenspiegel“ gibt es erstmals Hoffnung: „Seit der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 geht es mit Deutschlands Schulen voran. Die Leistungen haben sich verbessert, weniger Schüler bleiben ohne Abschluss“, heißt es in einer Pressemitteilung zur Veröffentlichung der Studie. Trotzdem beeinflusse die soziale Herkunft die Chancen der Schülerinnen und Schüler nach wie vor erheblich. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die ein Jahr zuvor veröffentlichte Studie „Bildungsgerechtigkeit in Deutschland“ der Konrad-Adenauer-Stiftung. Obwohl es noch viel Handlungs- und Verbesserungsbedarf im gesamten Bildungssystem gebe, sei Deutschland bezüglich Bildungsgerechtigkeit auf einem guten Weg, so die Kernaussage. „Die Kopplung zwischen dem sozialen Status der Eltern und dem Bildungsniveau nimmt ab“, heißt es in der Studie.

Neue Ansätze brauchen intensive Zusammenarbeit und innovative Arbeitsformen

Auch die Gropiusstadt ist in Bewegung. Seit einigen Jahren wächst dort, im Schatten der Hochhäuser, der Campus Efeuweg. 2013 hatte die Sekundarschule im Kiez ein halbes Jahr vor Beginn des neuen Schuljahrs nur 23 Anmeldungen für drei siebte Klassen. Bildungsinteressierte Familien verließen lieber die Gropiusstadt, als ihre Kinder hier zur Schule zu schicken. Eine Veränderung war dringend notwendig. Das erkannte auch der zuständige Bezirk Neukölln und konzentrierte sich mit aller Kraft auf das Projekt Campus Efeuweg: ein Bildungsverbund, der Gemeinschaftsschule, Oberstufenzentrum, Kindertagesstätte, Jugendclub, Schülerforschungszentrum, Schwimmbad und Sportstation unter einem Namen und auf einem großen Gelände miteinander verbindet. Das Mammutvorhaben will dank der Kooperationen zwischen den verschiedenen Akteuren schwierige Hürden überwinden und erfolgreiche Bildungsbiografien ermöglichen – unabhängig von der sozialen Herkunft.

Ob Kinder und Jugendliche Zugang zu guter Bildung haben, darf nicht vom Wohnort abhängen.
Julia Nast, Transferagentur für Großstädte, Deutsche Kinder- und Jugendstiftung

„Die Kommunen müssen aktiv werden und gegensteuern, damit nicht vom Wohnort abhängt, ob Kinder und Jugendliche Zugang zu guter Bildung haben“, sagt Julia Nast von der „Transferagentur für Großstädte“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Damit neue Ansätze – wie die Idee eines Bildungscampus – Realität werden können, müsse sich nicht nur die Zusammenarbeit der Akteure vor Ort verändern. Voraussetzung sei auch, dass innerhalb der Verwaltung neue Arbeitsformen entwickelt werden. „Denn Bildung ist ein Querschnittthema, das nur ressort- und ebenenübergreifend vorangebracht werden kann. Das Zusammenspiel zwischen den Fachbereichen, die oft ‚versäult‘ arbeiten, aber auch zwischen Stadtteil, Kommune und Land muss sich dafür verändern“, erklärt Nast. Der Campus Efeuweg zeige, dass die Stadtentwicklung dabei ein zentraler Partner ist.

Von der „übelsten Schule der Stadt“ zur Preisträgerschule

Einen ganz anderen Weg ist die Waldparkschule Heidelberg gegangen. Sie liegt, wie der Campus Efeuweg in Berlin, in einem „Problemviertel“. Der Stadtteil Boxberg, in dem sich die Waldparkschule befindet, besteht zum einen aus Einfamilienhäusern und zum anderen aus Hochhäusern, die vor allem von finanziell schwächeren Familien bewohnt werden. Auch im benachbarten Stadtteil Emmertsgrund stehen hauptsächlich Hochhäuser, in denen meist einkommensschwache Familien und Menschen mit Migrationshintergrund leben. Noch vor wenigen Jahren hatte die Waldparkschule, damals eine Grund- und Werkrealschule, den Ruf, „übelste Schule der Stadt Heidelberg“ zu sein, wie der stellvertretende Schulleiter Mathias Peitz heute zurückblickend erzählt.

Wir arbeiten nicht mehr an einer Brennpunktschule – sondern an einer Schule, die ‚mehr als Schule‘ ist.
Mathias Peitz, Stellvertretender Schulleiter Waldparkschule Heidelberg

Weil überall in Heidelberg die Schülerzahlen für Haupt- und Werkrealschulen stark zurückgingen, sollten acht Schulen geschlossen werden. Die beiden übrig gebliebenen Schulen – darunter die Waldparkschule – hatten die Möglichkeit, sich in eine Gemeinschaftsschule umzuwandeln. „Wir haben diese Chance genutzt und das Schulsystem in der Sekundarstufe komplett umgekrempelt“, sagt Mathias Peitz und ergänzt: „Die Waldparkschule ist durch die neue Schulform und deren erfolgreiche Umsetzung zu einer Schule geworden, an der Schüler mit unterschiedlichen Begabungen, unabhängig von sozialer Herkunft, individuell gefördert werden.“ So werden die Schülerinnen und Schüler der Waldparkschule Heidelberg zum Beispiel nicht in ein starres Leistungssystem wie die Schularten Hauptschule, Realschule oder Gymnasium gesteckt, sondern auf drei Niveaustufen in einer Klasse unterrichtet. Die Kinder und Jugendlichen können in den einzelnen Fächern auf unterschiedlichen Niveaus arbeiten und zwischen den drei Stufen wechseln.
Der Ruf der Schule habe sich spür- und messbar zum Positiven verändert. So sind unter anderem aktuell die Anmeldezahlen für die neuen fünften Klassen sehr hoch. Die kontinuierliche Schulentwicklung hat sich bezahlt gemacht – die Waldparkschule gehört zu den Preisträgern des Deutschen Schulpreises 2017. Mathias Peitz ist stolz: „Wir arbeiten nicht mehr an einer Brennpunktschule – sondern an einer Schule, die ‚mehr als Schule‘ ist.

Auf einen Blick

Kai Hermann, Horst Rieck, Christiane F.: „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“,
Carlsen Verlag, Hamburg, 368 Seiten, 9,99 Euro
https://www.carlsen.de