Prävention : Wenn junge Menschen sich radikalisieren

Islamismus ist an Schulen zunehmend ein Problem. Die Organisation Violence Prevention Network, eine der größten Initiativen im Kampf gegen islamistische Radikalisierung, bietet Schulen Projekte zur Prävention an.

Es gibt verschiedene Anzeichen, die auf eine Radikalisierung von jungen Frauen oder Männern hindeuten können.
©Getty Images

Gülcan* ist 17 Jahre alt, türkischstämmig und besucht eine Oberschule in Hessen. Ihrer Lehrerin fällt auf, dass das Mädchen sich verändert. Gülcan trägt plötzlich nur noch pechschwarze Kleidung mit einem Gesichtsschleier – „Nikab“ heißt diese Form der Verschleierung, bei der die Augen frei liegen und nicht, wie bei der Burka, von einem Netz bedeckt werden. Auch gegen ihren Freundeskreis schottet sich Gülcan zunehmend ab. Zu Hause verschlechtert sich das ohnehin schwierige Verhältnis zu ihrer alleinerziehenden Mutter: Gülcan wirft der Mutter vor, nicht religiös zu leben. Immer häufiger äußert Gülcan ihre Sympathie für die Ausreise junger Leute in Kriegsgebiete des „IS“.

Gülcans Veränderungen hängen offensichtlich mit ihrer neuen Freundin Selma zusammen, einer jungen Frau, die von einer Salafistin zur radikalen Dschihadistin geworden ist. Selma gibt Gülcan offenbar das, was sie in der eigenen Familie nicht zu finden scheint: Geborgenheit, Akzeptanz und Verständnis. Durch Selma lernt Gülcan die neue extremistisch-salafistische Szene kennen und tritt zum Islam über. Heimlich heiratet sie schließlich einen Salafisten, den sie im Internet kennengelernt hat.

In Deutschland gehören mehr als 40.000 Menschen zur islamistischen Szene

Die Geschichte von Gülcan ist kein Einzelfall. Laut Verfassungsschutz gehören in Deutschland etwa 43.000 Menschen der islamistischen Szene an (Stand: 2017). Starken Zuwachs haben die Salafisten, eine besonders konservative Strömung des Islam. In Deutschland gibt es inzwischen etwa 11.000 Salafisten. Die Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass der politische Salafismus den Nährboden bildet für Radikalisierungsprozesse bis hin zum Terrorismus.

Gülcans Lehrerin hat die Veränderungen an ihrer Schülerin bemerkt, weiß zunächst aber nicht, wie sie damit umgehen soll. Auf der Suche nach Hilfe stößt sie auf die Angebote des Violence Prevention Network (VPN), eine der größten Organisationen im Kampf gegen Radikalisierung. Die Arbeit dieser Organisation beruht auf drei Säulen: Prävention, Intervention und Deradikalisierung.

Zu den VPN-Präventionsangeboten gehören auch Workshops für Schülerinnen und Schüler. Dabei geht es vor allem darum, deren Wissen über den Islam, aber auch über Demokratie und Menschenrechte zu erweitern und frühzeitig mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Schulen können zum Beispiel einen interreligiösen Workshop buchen, mit Exkursionen zu unterschiedlichen Gotteshäusern.

Zuerst wird die Lebensgeschichte der Jugendlichen aufgearbeitet

Gülcans Lehrerin bucht einen solchen Workshop. Während dieser Veranstaltung gelingt es der VPN-Trainerin, Gülcan in einer ruhigen Minute ihre Telefonnummer zu geben und ihr zu sagen, dass sie sie anrufen könne, wenn sie Probleme habe.

Zum Team der Nichtregierungsorganisation Violence Prevention Network gehören sozialpädagogische und psychologische Fachkräfte, Imame sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Wenn Jugendliche äußern, dass Andersdenkende in die Hölle kommen, oder alte Freunde als ,Ungläubige‘ bezeichnen, sollten die Erwachsenen aufmerksam werden.
Cornelia Lotthammer, Violence Prevention Network

„Wir gehen davon aus, dass jeder Mensch die Chance hat, sich zu verändern. Wichtig ist, dass er lernt, wie er das schaffen kann. Dabei helfen wir ihm“, sagt die Sprecherin von Violence Prevention Network, Cornelia Lotthammer.

Zuerst wird die Lebensgeschichte der oder des Jugendlichen aufgearbeitet. „Gemeinsam erkunden wir, was bisher passiert ist und wo die Ursachen für Probleme liegen könnten.“ Solche Gespräche lassen ein Vertrauensverhältnis entstehen. „Viele erzählen uns dann, dass noch nie jemand mit ihnen so über ihr Leben gesprochen hat“, sagt Lotthammer.

Gülcans Geschichte ist typisch dafür, wie Jugendliche sich radikalisieren. Cornelia Lotthammer nennt weitere Anzeichen, die für eine Radikalisierung sprechen: „Wenn Jugendliche äußern, dass Andersdenkende in die Hölle kommen, oder alte Freunde als ,Ungläubige‘ bezeichnen, sollten die Erwachsenen aufmerksam werden.“ Auch wenn Jugendliche sich von den Eltern zurückziehen, ständig auf salafistischen Seiten im Internet surfen oder plötzlich ihre bisherige Lebensweise, Hobbys oder Musik verteufeln und radikale religiöse Ansichten vertreten, seien das Alarmsignale.

Gülcan meldet sich per WhatsApp bei der Beraterin

Gülcan meldet sich tatsächlich einige Tage später per WhatsApp bei der Beraterin von Violence Prevention Network. Sie habe eine positive Veränderung in ihrem Leben gewollt, aber das Gefühl gehabt, alleine nicht da rauszukommen, sagt sie später. Durch regelmäßige Treffen wird die Beraterin zu einer Vertrauensperson für Gülcan. Sie kann ihr Antworten auf ihre Fragen geben, insbesondere bezüglich des Themas Ausreise. So distanziert Gülcan sich mehr und mehr von Selma.

Die Mitarbeiterin initiiert auch Gespräche mit Gülcans Schule und mit Personen aus Gülcans sozialem Umfeld wie Mitschülerinnen oder Mitschülern. Das alles trägt dazu bei, Gülcan mental zu stabilisieren. Der Konflikt in ihrem Elternhaus kann ebenfalls geschlichtet werden. Heute ist Gülcan reflektierter und kritischer – vor allem will sie nicht mehr so stark von jemanden abhängig sein.

* Name der Schülerin geändert

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Eine Auswahl von Präventionsangeboten für Schulen:

  • Violence Prevention Network (VPN) hat neun Beratungsstellen in sechs Bundesländern, darunter in mehreren deutschen Städten wie etwa Stuttgart, München, Frankfurt, Kassel, Dresden, Erfurt und Berlin. Die für jedes Bundesland gültige Telefonnummer des Netzwerkes findet man im Internet. Zu den Angeboten von VPN gehören Beratungen von Eltern, Fortbildungen sowie Workshops an Schulen.
  • Der Verein für Demokratie und Vielfalt in Schule und beruflicher Bildung (DEVI) begleitet und berät seit mehr als zehn Jahren Berufsschulen und Oberstufenzentren bei ihrem Engagement gegen Rechtsextremismus, „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, Diskriminierungen und religiös begründeten demokratie- und menschenrechtsfeindlichen Einstellungen. Projektorte sind in Berlin, Brandenburg und Hamburg.
  •  Die Organisation ufuq.de (ufuq: arabisch für „Horizont“) ist ein anerkannter Träger der freien Jugendhilfe und in der politischen Bildung und Prävention zu den Themen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus aktiv. Ufuq bietet bundesweit Beratungen und Fortbildungen für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Schulen, Bildungseinrichtungen, Verwaltungen und Behörden an. Zum Angebot von ufuq.de gehören auch Workshops für Jugendliche zu Themen wie Religion, Rassismus und religiös begründeter Extremismus.
  • Das Angebot meet2respect ist ein Projekt des gemeinnützigen Vereins „Leadership Berlin – Netzwerk Verantwortung“. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter organisieren Begegnungen und Unterrichtsbesuche von Imamen und Rabbinern, Pfarrern und Imamen oder Muslimen und der LGBTI-Bewegung (Lesben, Schwule, Transsexuelle). Gemeinsam sprechen sich die Beteiligten für Respekt sowie gegen Gewalt und Diskriminierung aus.