Sexuelle Gewalt : Missbrauchsvideos im Klassenchat

Es gibt immer mehr Missbrauchsdarstellungen von Kindern und Jugendlichen im Netz. Junge Menschen verbreiten die kritischen Inhalte zunehmend auch selbst.

Dieser Artikel erschien am 23.05.2023 in der Süddeutschen Zeitung
Nadja Tausche
Darstellungen von Kindesmissbrauch nehmen weiter zu. Sorgen bereiten zunehmend auch Schülerhandys (Symbolbild).
Darstellungen von Kindesmissbrauch nehmen weiter zu. Sorgen bereiten zunehmend auch Schülerhandys (Symbolbild).
©unspash

48 Kinder werden in Deutschland jeden Tag Opfer sexueller Gewalt. Das ist die traurige Bilanz von Kerstin Claus, der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, für das Jahr 2022. Insgesamt waren 17.437 Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren von Missbrauch betroffen. Die Zahlen liegen damit in etwa auf dem gleichen Niveau wie im Jahr zuvor, das geht aus der Kriminalstatistik hervor, die Claus gemeinsam mit Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), am Dienstag in Berlin vorstellte.

Stark angestiegen ist im vergangenen Jahr demnach die Zahl der Missbrauchsdarstellungen von Kindern und Jugendpornografie im Internet. Fast 49.000 Fälle wurden 2022 registriert, das ist ein Anstieg von etwa zehn Prozent. Auffällig ist, dass immer mehr junge Menschen selbst solche Inhalte verschicken. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Missbrauchsdarstellungen und jugendpornografische Inhalte besaßen, herstellten, erwarben oder weiterverbreiteten, hat sich in Deutschland seit 2018 verzwölffacht, auch das zeigt die Statistik. Ein Grund dafür: Klassenchats.

Jugendliche teilten darin vermeintlich „coole“ Fotos und Videos, erklärte die Missbrauchsbeauftragte Claus, „oft ohne zu verstehen, dass es sich um reale Gewalt handelt“. Es könne nicht sein, dass es in der analogen Welt Tausende Regeln gebe – und im Digitalen gar keine. „Uns ist nicht klar, was Kindern und Jugendlichen heute an härtester Gewalt begegnet“, sagte sie. Diese könnten damit nicht adäquat umgehen. Claus forderte deshalb, Kinder und Jugendliche für die Gefahren zu sensibilisieren: Es brauche zum Beispiel an Schulen Raum, damit sie über das sprechen könnten, was ihnen online begegne. Außerdem müsse man die Anbieter der Plattformen in die Pflicht zu nehmen, die Missbrauchsinhalte verbreiten.

Bei der Online-Darstellung von Missbrauch müsse man allerdings immer differenzieren. Es sei ein Unterschied, ob ein Missbrauchstäter ein fragwürdiges Video verbreite oder ob sich Teenager gegenseitig solche Clips schickten. Der entsprechende Paragraf 184b unterscheide nicht nach Intention – das wäre Claus zufolge aber wichtig. Um Missbrauchstätern auf die Spur zu kommen, wäre es außerdem nötig, IP-Adressen speichern zu können, sagte BKA-Präsident Münch: „In vielen Fällen ist die IP-Adresse der einzige Ermittlungsansatz.“ Würde man die Adresse auch nur wenige Wochen speichern, könne man die Aufklärungsquote auf mehr als 90 Prozent steigern.

Ganz neue Probleme entstehen im Moment durch den Einsatz künstlicher Intelligenz

Nötig ist zudem eine bessere Datenlage. Denn bei den vorgelegten Zahlen ist die Dunkelziffer nicht mit einbegriffen, die tatsächlichen Zahlen liegen wohl deutlich höher. „Die zentrale Frage können wir hier und heute nicht klären“, so Claus: „Wie groß ist das Ausmaß sexueller Gewalt in Deutschland tatsächlich?“ Ganz neue Probleme entstehen im Moment zudem durch den Einsatz künstlicher Intelligenz. Mit sogenannten Deepfakes ist es möglich, zum Beispiel das Gesicht und die Stimme der Klassenkameradin in ein pornografisches Video einzusetzen.

Um effizienter gegen sexuelle Gewalt an Kindern vorzugehen, will die Missbrauchsbeauftragte auch bei den Erwachsenen ansetzen. Die müssten wissen, wie man vorgehe, wenn man Missbrauch im eigenen Umfeld vermute: indem man die Polizei anrufe nämlich, soziale Dienste oder das Hilfetelefon beim Amt. „Jeder einzelne Erwachsene macht hier einen Unterschied.“

Nach Erkenntnissen der Missbrauchsbeauftragten findet sexuelle Gewalt in etwa 25 Prozent der Fälle innerhalb der engsten Familie statt. Weitere 50 Prozent ereignen sich im sozialen Nahraum: Dazu zählen der erweiterte Familien- und Bekanntenkreis, Nachbarn und Vereine. Bei sexueller Gewalt gehe es keineswegs immer um die tatsächliche sexuelle Präferenz, nicht alle Täter sind pädophil. „Sexuelle Gewalt ist eine Frage der Macht“, sagte Claus.