Forschendes Lernen : „Was ist daran eigentlich Mathe?“

Ob Fußball-Europameisterschaft, Klimawandel oder der Schulweg – in allem steckt Mathematik. Tatsächlich aber scheint vielen Schülerinnen und Schülern der Matheunterricht weit weg von ihrer Lebenswelt. Dies zu ändern und damit Kindern und Jugendlichen mehr Freude an der Mathematik zu vermitteln ist Ziel der „Mathe.Forscher“. Das Programm unterstützt Lehrkräfte darin, forschendes und entdeckendes Lernen in den Mathematikunterricht zu bringen. Wie das in der Praxis aussieht, hat sich das Schulportal in einer Grundschule in Heidelberg angesehen.

Zwei Kinder vor einem Glas mit Flummis
Lorena und Moritz versuchen bei dem Programm „Sternstunden der Mathematik" an ihrer Grundschule herauszufinden, wie viele Flummis in dem Glas sind.
©Annette Kuhn

Ungewohntes Treiben herrscht an diesem Vormittag in der Wilckensschule in Heidelberg. Die Türen der Klassenräume stehen offen – die meisten Kinder der Grundschule sitzen in kleinen Gruppen auf dem Gang, umgeben von Holzleisten. Mit ihnen versuchen sie, eine „Leonardobrücke“ zu bauen. Das ist eine Bogenkonstruktion, bei der Holzteile, im rechten Winkel zueinander, so verkeilt werden, dass die Brücke ohne ein Fixiermittel hält.

Die Idee zu dieser Brücke geht auf Leonardo da Vinci zurück, daher auch ihr Name. Efekan und Henry sind mit großem Eifer dabei. Der zehnjährige Efekan sagt: „Es ist toll, dass wir heute so viel ausprobieren können.“ Auch als die Brücke kurz danach in sich zusammenbricht, verliert er nicht die Lust, sondern fängt mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern einfach noch mal von vorne an.

Das Programm „Mathe.Forscher“ gibt es seit zehn Jahren

„Sternstunden der Mathematik“ heißt das Programm an diesem Tag in der Wilckensschule. Ein ganzer Tag nur für die Mathematik – aber kein einziges Matheheft oder Mathebuch wird an diesem Tag aus dem Schulranzen geholt. Stattdessen setzen sich die Kinder an verschiedenen Stationen auf spielerische und forschende Weise mit mathematischen Fragen auseinander. Sie legen Formen und bauen Körper mit verschiedenen Materialien, sie schätzen Mengen und Größen, sie probieren aus, verwerfen, versuchen es noch mal.

„Mathe mit Herz, Hand und Hirn“ lautet die Beschreibung des Projekts, das auf forschendes und entdeckendes Lernen setzt. Dahinter steckt die Initiative „Mathe.Forscher“, die Lehrkräfte an Grund- und Sekundarschulen darin unterstützt, einen anderen Zugang zur Mathematik zu vermitteln.

Mit Mathe.Forscher wollen wir Kindern und Jugendlichen zeigen, wo sie Mathematik in ihrem Alltag und in ihrem Lebensumfeld finden.
Claudia Abjörnson, Programmleiterin der „Mathe.Forscher“
Zwei Kinder bauen eine Brück aus Holzleisten
Beim Programm „Mathe.Forscher" bauen die Viertklässler Efekan und Henry eine Leonardobrücke.
©Annette Kuhn
Flur in der Wilckensschule
Bei den „Sternstunden der Mathematik" findet der Unterricht auch im Schulflur statt.
©Annette Kuhn

Das Programm gibt es seit zehn Jahren – gegründet von der Stiftung Rechnen und heute finanziert von der Klaus Tschira Stiftung. Mitentwickelt und begleitet wird es von Didaktik-Experten verschiedener Hochschulen.

„Mit Mathe.Forscher wollen wir Kindern und Jugendlichen zeigen, wo sie Mathematik in ihrem Alltag und in ihrem Lebensumfeld finden. Das baut Berührungsängste ab und macht Mathematik begreifbar“, erklärt Claudia Abjörnson, Programmleiterin der „Mathe.Forscher“ und geschäftsführender Vorstand der Stiftung Rechnen das Ziel. Sie führt weiter aus: „Wenn die Schülerinnen und Schüler dann durch das Verstehen von mathematischen Zusammenhängen und deren Nutzen in der Praxis Erfolgserlebnisse haben, bleiben sie auch dran und sind in der Lage, ihre Rechenkompetenz nachhaltig zu verbessern.“

Matheunterricht ohne Heft und Buch

Inzwischen machen bundesweit 30 Schulen bei „Mathe.Forscher“ mit, die meisten im Rhein-Neckar-Raum. Die Lehrkräfte der beteiligten Schulen haben spezielle Weiterbildungen besucht, um die Projekte in ihrer Schule umzusetzen und Elemente daraus im Regelunterricht zu etablieren. Außerdem vernetzen sie sich mit anderen Schulen, tauschen Wissen und Material aus und entwickeln neue Projekte.

Auch in der Wilckensschule sind zwei Lehrerinnen an dem Programm beteiligt. Sie führen an diesem Tag durch die „Sternstunden“. Der Tag beginnt für alle in der Turnhalle. Die Kinder sitzen gespannt vor einem kleinen Tisch, auf dem sich unter einem weißen Tuch eine Überraschung verbirgt. „Mathe.Forscher“-Lehrerin Kathrin Koch zieht an dem Tuch und präsentiert einen Glaszylinder, zu etwa einem Viertel gefüllt mit Flummis. Die Kinder sollen schätzen, wie viele Bälle es wohl sind. Bis zur Pause haben sie Zeit dafür.

Beim Bau des Dodekaeders unterstützen sich die Kinder gegenseitig

Immer wieder kommen in der nächsten Stunde Kinder zum Glas, schauen, beraten sich untereinander, schreiben Zahlen auf. Meist sind sie aber mit anderem beschäftigt. In den dritten und vierten Klassen bauen die Kinder nach der Leonardobrücke auch noch Körper aus Erbsen und Zahnstochern. Den achteckigen Hexaeder schaffen noch alle, der Dodekaeder mit 20 Ecken gelingt hingegen nicht jedem, aber Aufgeben ist für die meisten keine Option. Eher tun sie sich zu Teams zusammen und unterstützen einander gegenseitig.

Kinder, die in Mathematik sonst schwächer sind oder eher im Hintergrund bleiben, können hier mal glänzen.
Grundschullehrerin Kathrin Koch
Es braucht viel Geduld, um eine Katze aus Dreiecken und Vierecken zu legen.

In den ersten und zweiten Klassen spielen die Kinder, meist in Zweierteams, „Ubongo“, „Domino“ oder „Tetris“ und versuchen beim „Tangram“, aus dreieckigen und viereckigen Formen Tiere zusammenzulegen. Auch das klappt nicht immer – die achtjährige Ava zum Beispiel verzweifelt an der Katze und legt schließlich eine selbst erdachte Figur: ein Schweinegesicht.

Das „Tangram“ festigt nicht nur das räumliche Vorstellungsvermögen und die Bezeichnungen für die verschiedenen Formen – Geduld, Kreativität, Frustrationstoleranz und Teamarbeit trainieren die Kinder an diesem Vormittag gleich mit. Und ihre Lehrerin Kathrin Koch stellt fest, dass „Kinder, die in Mathematik sonst schwächer sind oder eher im Hintergrund bleiben, hier mal glänzen können und mit viel mehr Motivation dabei sind“.

Elemente der „Mathe.Forscher“ im Regelunterricht etablieren

Gerade für die Kinder in der Wilckensschule sei das eine wichtige Erfahrung, sagt auch Schulleiterin Charlotte Schönhals. Das Einzugsgebiet ist heterogen – im Süden überwiegt der soziale Wohnungsbau, am Neckar im Norden sind teure Neubauten entstanden. Etwa drei Viertel der Kinder, die die zweizügige Grundschule besuchen, haben einen Migrationshintergrund. In den Klassen gibt es eine große Spanne zwischen leistungsstarken und leistungsschwachen Kindern. Das forschende Lernen sei da eine gute Methode, die Kinder über alle Leistungsunterschiede hinweg gleichermaßen zu erreichen, und spiele dabei – auch über die „Sternstunden der Mathematik“ hinaus – eine wichtige Rolle im Unterricht an der Grundschule.

Das forschende Lernen ermöglicht einen differenzierten Unterricht. Das zeigt sich auch an diesem Vormittag. So kann zum Beispiel beim Bauen der Körper jedes Kind für sich entscheiden, welchen Schwierigkeitsgrad es sich zutraut. „Und was ist daran eigentlich Mathe?“, fragt ein Junge aus der vierten Klasse, während er für die „Leonardobrücke“ zwei Holzlatten ineinander verkeilt. Mathematik sind für ihn vor allem Rechenaufgaben im Heft. Seine Lehrerin gibt die Frage an die Kinder zurück. Und schon bald entspinnt sich zwischen ihnen fast ein Wettbewerb, Dinge zu finden, in denen Mathematik steckt.

Bezüge zur Lebenswelt der Kinder herstellen

„Sternstunden der Mathematik“ ist nur ein Programmpunkt der „Mathe.Forscher“. Das Projektangebot wird ständig erweitert und modifiziert. Ein wichtiger Aspekt dabei ist immer, Bezüge zur Lebenswelt der Kinder herzustellen. So gibt es zum Beispiel ein fächerübergreifendes Projekt für die Sekundarstufe, bei dem Schülerinnen und Schüler versuchen, den Klimawandel zu berechnen. Die Forscherfragen dazu entwickeln sie dabei genauso wie die Wege der Berechnung. Ein weiteres Projekt heißt „Fußball-Mathematik“: Hier berechnen die Kinder und Jugendlichen zum Beispiel Flughöhen des Balls oder die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland bei der Europameisterschaft ins Finale kommt.

Zwei Jungen in der Schule am Tisch im Programm Mathe.Forscher
Moritz (r.) erklärt Nathan, wie das Spiel „Ubongo" funktioniert.
©Annette Kuhn
Zwei Mädchen spielen am Tisch Ubongo
Ava (l.) und Ellie spielen beim Programm „Mathe.Forscher" zusammen „Ubongo".
©Annette Kuhn
Zwei Mädchen stecken Zahnstocher in Erbsen.
Clara und Anastasia versuchen, aus Zahnstochern und Erbsen geometrische Körper zu bauen.
©Annette Kuhn
Ein Mädchen mit Lehrerin am Tisch beim Programm Mathe.Forscher
Ziel des Programms „Mathe.Forscher" ist es auch, den Kindern einen spielerischen Zugang zur Mathematik zu ermöglichen. Hier probieren sich Lorena und ihre Lehrerin Kathrin Koch beim „Tetris".
©Annette Kuhn

Auch in der Wilckensschule haben die Kinder an diesem Tag eigene Wege gesucht und gefunden, um zu Lösungen zu kommen. Sei es beim „Tangram“ oder bei der „Leonardobrücke“. Am Ende eines erfüllten Schultags haben sie nur noch eine Frage: Wie viele Flummis sind denn nun im Glas? Einfach macht es ihnen Lehrerin Kathrin Koch nicht: „Erst habe ich eine Tüte mit 90 Bällen hineingeschüttet und dann noch eine. Wie viel waren dann im Glas?“ Die Antwort ist noch ziemlich einstimmig, bei der dritten Tüte müssen dann manche doch kapitulieren. Aber enttäuscht geht keiner aus der Turnhalle: Denn jeder darf schließlich einen Gummiball mit nach Hause nehmen.

Auf dem Weg aus der Schule versuchen manche, die Sprunghöhe des Flummis durch unterschiedlich starkes Werfen zu beeinflussen. Auch das ist forschendes Lernen in der Mathematik.

Auf einen Blick

  • Das Programm „Mathe.Forscher“ wurde 2010 auf Initiative der Stiftung Rechnen ins Leben gerufen.
  • Ziel ist es, mit entdeckendem, forschendem und projektartigem Lernen Kindern und Jugendlichen einen anderen Zugang zu Mathematik zu eröffnen, der einen Bezug zu ihrer eigenen Lebenswelt hat.
  • Einen Überblick über Fortbildungen für Lehrkräfte und Projekte der teilnehmenden Schulen gibt es hier.

Mehr zum Thema

Das Schulportal befasst sich in diesem Monat in verschiedenen Beiträgen mit der Frage, wie Kinder und Jugendliche am besten Mathe lernen und welche Herausforderungen an den Unterricht gestellt werden.

  • Ein Nachhilfelehrer, der zuvor ein halbes Jahrhundert Mathematiklehrer war, erzählt, was Kinder und Jugendliche zu ihm führen und wie er ihnen die Angst vor dem Fach nimmt.
  • Camilla Rjosk und Sofie Henschel, Autorinnen des IQB-Bildungstrends 2018, zeigen in ihrem Gastbeitrag auf, welche Qualitätsmerkmale einen guten Mathematikunterricht ausmachen.
  • In einem Interview erklärt Günter M. Ziegler, Mathematikprofessor und Präsident der Freien Universität Berlin, was gute Lehrkräfte im Fach Mathematik mitbringen sollten und was mathematische Formeln mit Bildern zu tun haben.
  • Jugendliche testen verschiedene Tutorial-Angebote im Internet. Dieser Beitrag erscheint noch.
  • Wie stark beeinflusst unser Selbstkonzept das Lernen von Mathematik? Das Schulportal hat dazu die Bildungsforscherin Anke Heyder von der TU Dortmund interviewt.
  • In der neuen Folge ihres Podcasts „Schule kann mehr” sprechen der ehemalige Berliner Schulleiter Helmut Hochschild und der Radiojournalist Leon Stebe über unterschiedliche Erfahrungen mit dem Mathematikunterricht, Mathefrust und Mathelust.