Sportunterricht : „Die Olympischen Spiele sind für Kinder ein emotionaler Motor“

Mit einem Jahr Verspätung beginnen nun endlich die Olympischen Spiele in Tokio. Für Armin Emrich, den ehemaligen Handballnationalspieler und Bundestrainer der Männer und der Frauen, ist das ein ganz besonderes Ereignis. Immerhin war der heute 70-Jährige zweimal selbst bei Olympia als Trainer dabei. Heute bildet er Studierende und angehende Lehrkräfte für den Schulsport aus und ist viel in Schulen unterwegs. Im Interview mit dem Schulportal erklärt er, wie Schülerinnen und Schüler nachhaltig für Sport motiviert werden können, was sie beim Sport über Bewegung hinaus lernen und wie er selbst zum Leistungssport kam.

Olympische Ringe in Tokio mit Kind
Ein Jahr später als ursprünglich geplant beginnen am Freitag die Olympischen Spiele in Tokio.
©Koji Sasahara/AP/dpa

Deutsches Schulportal: Die Olympischen Spiele stehen vor der Tür – motiviert dieses Ereignis Kinder und Jugendliche zu eigener sportlicher Aktivität?
Armin Emrich: Wir haben das ja schon bei der Fußball-Europameisterschaft gesehen: Die Gesellschaft in ganz Europa atmete auf. Aus meiner Sicht waren zwar kritische Zuschauerzahlen zugelassen – aber positiv war, dass es plötzlich wieder eine Initialzündung gab, Sport zu erleben.

Solche Impulse erwarte ich auch von Olympischen Spielen. Wenn sich alle vier Jahre Tausende Athletinnen und Athleten aus der ganzen Welt in vielen verschiedenen Sportarten treffen, ist das etwas ganz Besonderes. Ich denke, auch für Kinder und Jugendliche sind die Olympischen Spiele ein emotionaler Motor, der Sportbegeisterung auslösen wird – gerade vor dem Hintergrund, dass Sport in der Schule und in den Vereinen in den vergangenen eineinhalb Jahren wegen der Corona-Pandemie kaum stattgefunden hat.

Wie können Kinder nachhaltig für sportliche Aktivität motiviert werden?
Kinder haben einen motorischen Bewegungsdrang. Je jünger sie sind, desto größer ist dieser Bewegungsdrang. In der pubertären Phase lässt das dann etwas nach. Damit sich dieser Bewegungsdrang in eine nachhaltige sportliche Aktivität entwickelt, spielen viele Faktoren eine Rolle: das Freizeitverhalten, das Elternhaus, die medialen Steuerungen, aber natürlich ist auch die Schule ein wichtiger Baustein. Alle Kinder gehen in die Schule – das heißt: Hier können alle einen Zugang zu Sport finden.

Wir bräuchten eine tägliche Sportstunde in der Schule.

Gelingt das tatsächlich?
Da müsste mehr passieren. In der Grundschule ist der Schulsport mit drei Stunden im Lehrplan verankert. Das ist zu wenig. Wir bräuchten eine tägliche Bewegungszeit in der Schule. Gerade jetzt nach der Corona-Pandemie sollte man hier endlich nachbessern. Dabei geht es nicht um tägliche Bewegung in der Pause, sondern eine tägliche Sportstunde. Auch im Ganztag sollte der Fokus viel stärker auf Sport gesetzt werden.

Ein Manko ist für mich auch, dass, vor allem in der Grundschule, Sport überwiegend von fachfremden Lehrkräften unterrichtet wird. Meist übernimmt hier die Klassenlehrerin oder der Klassenlehrer den Sportunterricht, aber die allerwenigsten von ihnen sind Lehrkräfte für Sport. Dabei ist der Schulsport in den unteren Klassen aus meiner Sicht besonders wichtig, weil hier die wichtigsten koordinativen Grundlagen gelegt werden.

Kinder in Gestaltung des Sportunterricht stärker einbeziehen

Die Klassen werden immer heterogener – das zeigt sich auch im Sportunterricht: Viele Kinder bringen Erfahrungen mit, weil sie im Verein trainieren, andere haben wenig bis gar keinen Zugang zum Sport, andere haben vielleicht mit Übergewicht zu kämpfen. Worauf kommt es im Schulsport an, damit alle abgeholt und gefördert werden?
Lehrkräfte brauchen natürlich ein großes Repertoire an Differenzierungsmöglichkeiten, um der Heterogenität zu begegnen und Spiele so zu gestalten, dass jedes Kind zu Spielanteilen und zu Erfolgserlebnissen kommt.

Wichtig ist dabei, die Schülerinnen und Schüler in die inhaltliche Gestaltung miteinzubinden. Man traut ihnen da viel zu wenig zu. Wenn junge Kinder draußen Fußball spielen, imitieren sie ein Spiel der Großen, passen es aber an ihre Bedürfnisse und Voraussetzungen an. Sie suchen nach Wegen, damit alle mitmachen und alle Erfolgserlebnisse haben. Sie passen zum Beispiel das Spielfeld ihrer Gruppengröße an, und sie holen sich irgendwelche Utensilien, um ein Tor in der Größe zu bauen, dass die Spieler gute Möglichkeiten haben, Tore zu erzielen, und der Torwart es schaffen kann, Bälle zu halten. Kinder haben da ein gutes Gespür für die Variablen der Spielorganisation.

Armin Emrich mit Spielerinnen der Frauen-Nationalmannschaft
Gemeinsamer Jubel: Armin Emrich als Bundestrainer der Frauen-Nationalmannschaft nach einem gewonnen Testspiel 2005 gegen Tschechien.
©Michael Heuberger
Armin Emrich 1996 bei den Olympischen Spielen in Atlanta
1996 war Armin Emrich als Trainer der Schweizer Handball-Nationalmannschaft bei den Olympischen Spielen in Atlanta dabei. Die Schweizer Tracht war die offizielle Olympia-Tracht.
©privat
Armin Emrich 1974
Armin Emrich 1974 bei einem Spiel der Deutschen Handball-Nationalmannschaft gegen Norwegen.
©privat
Armin Emrich bei der Handball EM 2006
Das Motto des Handball-Bundestrainers bei der Europameisterschaft der Frauen 2006 hat sich Armin Emrich auch aufs Trikot drucken lassen.
©Michael Heuberger

Wie kann ein differenzierter Schulsport konkret aussehen?
In Abstimmung mit den Schülerinnen und Schülern können Lehrkräfte für jedes Bewegungsfeld und jede Spielsituation Regeln und Rahmenbedingungen schaffen, die von der Norm zumindest temporär abweichen. Man kann zum Beispiel Spielsituationen für stärkere Kinder erschweren, für schwächere entsprechend erleichtern. Volleyball lässt sich auch mit einem schrägen Netz spielen, damit die Kleineren und die Größeren gleichermaßen faire Chancen im Spiel haben und sich trotzdem miteinander messen können. Wichtig ist aber immer, den Kindern verständlich zu machen, welche Überlegungen den Regeländerungen zugrunde liegen, und sie zu motivieren, selbst Vorschläge einzubringen. So wird ein Spiel zu ihrem Spiel – und so können sie Sport für sich entdecken.

Kinder können im Schulsport herausfinden, welcher Sport für sie richtig ist

Im Schulsport trifft man oft auf zwei Lager: Die einen halten es für wichtig, Schülerinnen und Schüler an verschiedene Sportarten heranzuführen und sie darin zu befähigen – die anderen wollen weg von sportlicher Leistung und vor allem Spaß an der Bewegung vermitteln. Wie ist Ihre Position?
Kinder wollen sich messen, sie wollen sich vergleichen und Erfolgserlebnisse verbuchen. Und Spaß macht etwas, in dem man Erfolgserlebnisse hat. Wir werden natürlich nicht aus jedem Kind eine Sportlerin oder einen Sportler machen. Das ist auch gar nicht das Ziel. Aber Kinder können im Sportunterricht herausfinden, welcher Sport oder welches Bewegungsfeld ihnen Spaß macht, dass Sport ihrer Gesundheit guttut oder dass eine sportliche Tätigkeit ihnen beim Stressabbau hilft. Wenn sie das entdecken, werden sie Sport auch viel eher in ihrer Freizeit und langfristig betreiben.

Kinder zum Leistungssport zu bringen ist auch nicht die Aufgabe der Schule.

Ist es sinnvoll, im Sportunterricht Noten zu vergeben?
Kinder wollen wissen, wo sie stehen, und ihre Leistung im Schulsport einordnen können. Aber wichtig sind dafür individuelle Rückmeldungen. Wenn Kinder Weitsprung üben, reicht es nicht, wenn die Lehrkraft auf eine Tabelle schaut und danach einfach eine Note gibt. Das ist für viele frustrierend und nimmt ihnen die Freude. Aber die Lehrerin oder der Lehrer kann mit den Kindern Lösungsmöglichkeiten diskutieren: Wie kannst du am besten abspringen? Wie kannst du deinen Bewegungsablauf verbessern? Noten sind wichtig für Kinder – das Feedback aber viel wichtiger.

Wie kommen Kinder heute zum Leistungssport?
Kinder brauchen Vorbilder, und die gibt es natürlich im Sport. Allerdings ist die Diskrepanz zwischen Breitensport und Leistungssport größer geworden, weil die Leistungen der sportlichen Idole viel schwerer erreichbar sind als früher.

Der Trend geht heute außerdem stärker zu Individualsportarten wie Schwimmen, Triathlon, Mountainbiken. Talente wollen sich heute weniger an Vereine binden und ihren Sport lieber selbstbestimmt und zu individualisierten Zeiten betreiben. Natürlich ist das nicht unbedingt förderlich für den Leistungssport, aber dafür entdecken mehr Menschen Sport für sich.

Kinder zum Leistungssport zu bringen ist auch nicht die Aufgabe der Schule. Erst einmal steht das altersentsprechende Heranführen an den Sport im Vordergrund. Der Leistungsgedanke kommt dann gegebenenfalls später.

Sport vermittelt wichtige Kompetenzen

Leistungssport ist ja mit enormen Belastungen verbunden. Sehen Sie auch positive Aspekte?
Da gibt es viele Aspekte: Im Leistungssport lernen Kinder und Jugendliche, sich auf einen Punkt zu konzentrieren, sie lernen Genauigkeit, sie müssen Tugenden wie Regelmäßigkeit, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit beherrschen. Und sie lernen, mit Stress umzugehen und aus Fehlern zu lernen. Natürlich lernen sie das in gewissem Maße im Sport überhaupt. Wir können den Kindern über den Sport sehr viele Kompetenzen mitgeben, die sie in ihrem Leben immer brauchen werden.

Im Sportunterricht wird immer wieder Leistungsbereitschaft gefördert. Die unmittelbare Rückmeldung über das Ergebnis macht im Sport die Erfahrung der eigenen Leistung und ihre Bewertung als Erfolg oder Misserfolg besonders anschaulich. Kinder lernen den Umgang mit Sieg und Niederlage. Sie lernen insbesondere Niederlagen gemeinsam zu ertragen und schöpfen daraus neue Kraft und Motivation für neue Ziele.

Wie sind Sie selbst zum Leistungssport gekommen?
An meiner Schule gab es ein Sportprofil, und ich habe mich für viele Sportarten interessiert. Handball hat mich aber am meisten begeistert. Ich habe in einem kleinen Verein angefangen, und dann gab es viele glückliche Momente, die mich bis zur Bundesliga und zur Nationalmannschaft gebracht haben. Und wenn man mal im Leistungssport drin ist und Gefallen daran findet, dann bleibt man dabei.

Was werden Sie sich bei den Olympischen Spielen auf jeden Fall anschauen?
Handball ist natürlich gesetzt. Aber ich schaue auch gern viele andere Sportarten. Bei Olympischen Spielen muss ich mich selbst kontrollieren, dass ich nicht stundenlang von einer in die andere Veranstaltung schlittere. Manchmal wird es dann anstrengend, weil man die Emotionen, die da rüberkommen, gar nicht alle aufnehmen und genießen kann.

Zur Person

  • Armin Emrich ist ehemaliger Handballspieler der deutschen Nationalmannschaft und war fast 30 Jahre lang Handballtrainer. In den 90er-Jahren war er zunächst Bundestrainer der deutschen Handballnationalmannschaft der Männer, dann Nationaltrainer der Schweizer Männer-Handballnationalmannschaft, und von 2005 bis 2009 hat er die Deutsche Handballnationalmannschaft der Frauen trainiert.
  • Als Trainer war er zweimal bei den Olympischen Spielen dabei: 1996 in Atlanta und 2008 in Peking.
Armin Emrich heute
Seine aktive Karriere als Spieler und Trainer liegt hinter ihm. Heute bildet Armin Emrich angehende Lehrkräfte an der Universität Freiburg aus.
©privat
  • Emrich ist auch Sportpädagoge und hat als Fachleiter für Sport beim Oberschulamt Freiburg im Breisgau 30 Jahre Referendarinnen und Referendare für den Schulsport ausgebildet. An der Universität Freiburg ist er zudem Lehrbeauftragter am Institut für Sport und Sportwissenschaft.