Medienkompetenz : Wenn kinderpornografische Inhalte im Klassenchat auftauchen

Die aktuelle Polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet bei Straftaten einen Anstieg von Minderjährigen unter den Tatverdächtigen um 35,5 Prozent. Vor allem der Besitz und die Verbreitung pornografischer Inhalte hat unter Kindern und Jugendlichen offenbar deutlich zugenommen. Hier machen Minderjährige laut der Statistik 41 Prozent aus. Oft teilen Schülerinnen und Schüler in Klassenchats oder über andere soziale Kanäle kinderpornografische Bilder und andere Inhalte, ohne zu wissen, dass dies strafbar ist. Das Schulportal hat mit Menno Baumann, Experte für Intensivpädagogik, darüber gesprochen, wie Schulen darauf reagieren können.

Handy mit Bildern, auf denen verschwommen kinderpornografische Inhalte zu sehen sind
Kinder und Jugendliche haben in der Corona-Pandemie eine größere Präsenz im Internet bekommen. Dadurch haben sie auch eher Berührung mit kinderpornografischen Inhalten.
©Silas Stein/dpa

Deutsches Schulportal: Laut der aktuellen Kriminalstatistik wurden im vergangenen Jahr mehr Kinder und Jugendliche zu Tatverdächtigen – sind Kinder und Jugendlichen aggressiver geworden?
Menno Baumann: Ich sehe das nicht so. Der Anstieg ist im Vergleich zu 2021, und da waren viele Delikte, die heute in der aktuellen Kriminalstatistik stark ausgeprägt sind, gar nicht begehbar. Ladendiebstahl war während des Lockdowns und dann mit den Abstandsregelungen kaum möglich. Auch Gewaltdelikte fanden weniger statt, weil man sich draußen kaum treffen konnte, lange Zeit kein Schulbesuch stattfand und Clubs usw. geschlossen waren. Der jetzige Anstieg bei Ladendiebstählen und Straßenkriminalität ist daher in der jetzigen Größe relativ erwartbar.

Den einzigen wirklichen Sprung sehen wir bei Körperverletzungen, allerdings spielt auch hier Corona eine Rolle, weil wir während der Pandemie viele Gewaltdelikte im öffentlichen Raum nicht sehen konnten und familiäre Gewalt kaum zur Anzeige gebracht wird, erst recht nicht, wenn sie von Kindern ausgeht. 14-Jährige üben – bezogen auf eine Zeitspanne von mehreren Jahren gesehen – heute also nicht mehr Gewalt aus als vor drei oder fünf Jahren. Nur kommt es jetzt geballt, weil wir die Kinder, die in der Pandemie in Not geraten und verhaltensauffällig geworden sind, nicht gesehen haben.

Deutlich mehr Jungen als Mädchen sind tatverdächtig

Wer sind die Tatverdächtigen? Gibt es da Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen? Aus welchem Umfeld kommen die Tatverdächtigen?
Auch wenn die Mädchen in der Kriminalstatistik langsam aufholen, haben die Jungen immer noch einen gewaltigen Vorsprung. Und welche Rolle das Umfeld spielt, ist je nach Delikt unterschiedlich. Ladendiebstahl ist bei Kindern und Jugendlichen aller sozialen Schichten relativ verbreitet und braucht eine klare pädagogische Antwort. Damit hört das meist auf.

Bei schwereren Delikten hängt es stark davon ab, wie gut ein junger Mensch ins Bildungssystem integriert ist. Je schlechter die Integration, desto höher die Wahrscheinlichkeit von Gewalt. Auch Armut und räumliche Enge sind Faktoren. Das Wichtigste ist allerdings, ob Kinder selbst Gewalt erlebt haben. Das heißt, wenn sie Erfahrungen mit familiärer Gewalt haben – sei es unter Erwachsenen oder gegen sich selbst – haben sie ein höheres Risiko, selbst gewalttätig zu werden.

Unbedarfter Umgang mit kinderpornografischen Inhalten

Besonders groß ist laut Kriminalstatistik der Anstieg bei der Verbreitung kinder- und jugendpornografischer Bilder. Wie erklären Sie sich das?
Das hängt vor allem mit der Gesetzesverschärfung von 2021 zusammen. Bis dahin wurden nur schwere Fälle von Kinderpornografie verfolgt, ansonsten fand wenig statt. Man hat nach Videos, Kassetten und CDs gesucht, aber online waren Ermittler kaum aktiv. Wenn man zu suchen beginnt, sollte man sich dann jetzt nicht wundern, wenn man etwas findet. Problem ist, dass schon Kinder, die pornografische Bilder in eine Chat-Gruppe schicken oder sie empfangen, tatverdächtig sind, wenn sie die Bilder nicht sofort löschen. Auch Lehrkräfte bringen sich in Gefahr, wenn sie zum Beispiel auf den Handys der Schülerinnen und Schüler etwas sehen und einen Screenshot machen, um den Fall zur Anzeige zu bringen. Denn der Besitz von kinderpornografischen Bildern ist immer strafbar. Das wissen viele Lehrerinnen und Lehrer nicht.

Die Zahl der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen ist allerdings auch gestiegen, weil sie seit Corona noch mal deutlich präsenter im Internet sind. Und mit dem, was sie dort finden, gehen sie oft sehr unbedarft um. Es entspricht teils auch altersspezifischem Humor, Nacktbilder lustig zu finden – das war vor 30 Jahren im Bio-Buch der Klasse 6 nicht anders – und diese dann herumzuschicken, ohne sich darüber Gedanken zu machen, dass das eine Sexualstraftat sein kann. Aber das ist natürlich nicht lustig. Hier brauchen wir viel mehr Medienkompetenz.

Wir brauchen eine altersentsprechende Vermittlung von Medienkompetenz ab der ersten Klasse.

Wie sollten Lehrkräfte damit umgehen, wenn kinderpornografische Inhalte im Schulkontext auftauchen?
Mein Ansatz ist klar: Wir brauchen eine Bildungsoffensive und müssen bei Kindern sehr früh Sensibilität aufbauen. Gerade in der Schule ist Social Media wie ein doppelter Boden. Wir brauchen daher eine altersentsprechende Vermittlung von Medienkompetenz ab der ersten Klasse. Es muss Thema des Schulunterrichts sein, dass die Verbreitung von Nacktbildern keine Bagatelldelikte sind, dass hinter jedem Foto ein Opfer steht, dass für sein Leben lang gezeichnet sein kann, wenn die Bilder durchs Netz gehen. Kinder und Jugendliche müssen die Spielregeln sozialer Medien früher und besser kennen. Das ist Teil der sozialen Erziehung.

Beratungsstellen in den Schulen sind sinnvoll

Was können Schulen über den Unterricht hinaus machen?
Einige Schulen machen gute Erfahrungen mit Beratungsdiensten, die sie extra für Probleme in Chatgruppen einrichten. Das sind Lehrkräfte oder Fachkräfte der Sozialarbeit, an die sich Schülerinnen und Schüler rund um die Uhr wenden können, wen sie etwas Irritierendes auf Social Media gesehen oder erlebt haben. Es gibt zwar nicht rund um die Uhr eine Beratung, aber Kinder und Jugendliche können ihr Anliegen gleich loswerden und bekommen dann schnell eine Antwort, wie sie damit umgehen können.

Der Schule bietet so eine Beratungsstelle außerdem die Chance, schnell eingreifen zu können, wenn in Chat-Gruppen Dinge passieren, die nicht passieren sollten. Das betrifft ja nicht nur kinderpornografische Inhalte, sondern zum Beispiel auch Rechtsradikalismus. Die Schule kann dann schneller intervenieren, auf die Eltern zugehen und die Klassenlehrkraft unterstützen. Oft wird in der Klasse über solche Vorfälle nicht gesprochen, weil die Lehrerin oder der Lehrer damit allein überfordert ist.

Erwachsene unterschätzen oft, wie isoliert Kinder und Jugendliche sind, wenn sie sich dieser Welt völlig entziehen.

Welches Wissen brauchen die Lehrkräfte oder Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in diesen Beratungsstellen?
Sie müssen zum einen die Rechtslage genau kennen. Und sie sollten gut über Social Media und die verschiedenen Kanäle Bescheid wissen. Wenn sie keinen Zugang dazu haben und nicht wissen, wie TikTok funktioniert, können sie auch nicht beraten. Der Rat: „Schalt das Ding doch einfach ab!“, bringt nichts, denn Erwachsene unterschätzen oft, wie isoliert Kinder und Jugendliche sind, wenn sie sich dieser Welt völlig entziehen.

Aber sie brauchen keine große fachliche Beratungskompetenz. Denn wenn ein Kind kommt, das Opfer eines Übergriffs geworden ist oder das Täterstrukturen zeigt und fasziniert davon ist, kinderpornografische Inhalte weiterzugeben, dann sollten sie ohnehin unbedingt Fachpersonal hinzuziehen.

Gibt es weitere Vorgehensweisen und Programme an Schulen, die Sie empfehlen?
Jedes Training, um Medienkompetenz zu vermitteln, ist hilfreich. Teilweise geht die Polizei auch selbst in die Schulen und klärt auf. Da gibt es auch Angebote für Grundschulen. Das halte ich für sehr wichtig, weil Kinder heute eine große Präsenz im Internet haben und sexuelle Gewalt gegen Kinder in der Corona-Pandemie massiv angestiegen ist. Kinder sind hier natürlich in erster Linie in der Opfer-, nicht in der Täterrolle.

Polizei sollte mehr Aufklärung in den Schulen betreiben

Das Thema Medienkompetenz an Schulen ist nicht neu. Wenn aber die Delikte zu Kinderpornografie bei Minderjährigen zunehmen, heißt das, es findet noch zu wenig Vermittlung von Medienkompetenz statt?
Es ist aus meiner Sicht noch nicht spezifisch genug. Bei Medienkompetenz in der Schule geht es viel um Spielregeln zum Umgang im Schulalltag und um Fake News, aber die Phänomene Kinderpornografie und Online-Gewalt sind noch zu wenig Thema. Und viele Materialien sind auch nicht auf dem neuesten Stand. Da geht es zum Beispiel noch um Facebook, das spielt für Kinder und Jugendliche überhaupt keine Rolle mehr. Die sind bei TikTok oder in Games unterwegs. Was im Bereich Games läuft und dort an Inhalten transportiert wird, ist auch nicht zu unterschätzen.

Und ich würde mir auch wünschen, dass die Polizei stärker Präsenz im Internet zeigt und nicht erst eingreift, wenn etwas passiert ist. Wie auf der Straße müsste sie im Internet auf Streife gehen und entsprechendes Material sofort unterbinden. Das Netz sollte viel mehr als öffentlicher Raum wahrgenommen werden.

Schule muss sich überhaupt auf einen Weg verständigen, wie sie mit Filmen und Tonaufnahmen im Kontext Schule umgeht.

Sehen Sie auch in anderen Bereichen in den Schulen einen Anstieg an Straftaten von Kindern und Jugendlichen?
Insgesamt ist Gewalt an Schulen tatsächlich rückläufig – auch wenn es coronabedingt aktuell eine hohe Dynamik gibt. Dennoch dürfen wir in der Konzentration nicht nachlassen, wir dürfen nicht sagen: „Weil Gewalt an Schulen rückläufig ist, können wir es laufen lassen.“ Die Gewalt ist deshalb zurückgegangen, weil es Präventionsprogramme gibt und die Interventionsschwelle gesunken ist. Lehrkräfte unternehmen bei Gewalt heute viel früher etwas. Das führt zu mehr Klassenkonferenzen und Anzeigen. Aber das ist eben kein Symptom für mehr Gewalt, sondern für eine erhöhte Sensibilität.

Und wir müssen auch neue Phänomene im Blick behalten, zum Beispiel inszenierte Straftaten. Das ist nicht neu, aber früher ging es noch darum, ein krasses Video zu drehen, jetzt geht es darum, Follower zu gewinnen und fame zu sein. Alles wird per Video festgehalten und gepostet. Zum Beispiel auch ein Konflikt eines Mitschülers mit einer Lehrerin. Und wenn der weiß, dass er gefilmt wird, dann traut er sich vielleicht noch etwas mehr. So was landet dann im Netz, das wiederum versucht, die Jugendlichen heute als besonders skrupellos darzustellen. Auch damit muss Schule umgehen.

Und Schule muss sich überhaupt auf einen Weg verständigen, wie sie mit Filmen und Tonaufnahmen im Kontext Schule umgeht. Dafür brauchen Schulen Konzepte und dazu müssen sie auch verstärkt in die Elternarbeit gehen. Aus meiner Sicht hängen hier viele Baustellen dran, die am besten durch Bildung bearbeitet werden können.

Zur Person

Menno Baumann
  • Menno Baumann ist seit 2015 Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner-Fachhochschule in Düsseldorf.
  • Parallel übt er eine selbstständige Tätigkeit als Sachverständiger, Berater und Referent in Kontexten des Familienrechts und der Jugendhilfe aus.
  • Zuvor hat er einige Jahre als Förderschullehrer und als Bereichsleiter bei einem großen Jugendhilfeträger in Niedersachsen gearbeitet.
  • Zu den Forschungsschwerpunkten von Menno Baumann gehört u. a. der Umgang mit herausfordernden Situationen im pädagogischen Kontext und sogenannten „Systemsprengern“, Gewaltforschung und Methoden pädagogischer Diagnostik.