Buch-Tipp

Bildungsgerechtigkeit : „Über den Tellerrand der Schule schauen“

30 Jahre hat Wilhelm Kelber-Bretz als Lehrer an einer Stadtteilschule in Hamburg-Wilhelmsburg gearbeitet. Daneben hat er sich in vielen Bildungsprojekten im Stadtteil engagiert. Jetzt ist er pensioniert und hat ein Buch über das Lehrersein, über die aus seiner Sicht notwendige Verzahnung von Schule und Stadtteil und über Wege zu mehr Bildungsgerechtigkeit geschrieben. Bücher von Lehrkräften, die auf das Bildungssystem schimpfen und die ungleichen Bildungschancen bemängeln, gibt es viele. Das Buch von Wilhelm Kelber-Bretz ist anders. Aus ihm spricht vor allem Leidenschaft, Kreativität und die Überzeugung, dass es anders gehen kann. Wie? Dazu nennt er konkrete Beispiele und Projekte.

Buchcover Wilhelm Kelber-Bretz
„Bildungsgerechtigkeit - zwischen Anspruch und Wirklichkeit: 30 Jahre pädagogische Arbeit auf den Hamburger Elbinseln", Verlag Tredition, 204 Seiten, 11,99 Euro.

Lehrersein – das bedeutete für Wilhelm Kelber-Bretz viel mehr, als Schülerinnen und Schüler zu unterrichten. Darum hat er in den 30 Jahren als Lehrer für Mathematik und Sport im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg auch außerhalb der Schule viele Bildungsprojekte im Kiez initiiert und umgesetzt. „Über den Tellerrand der Schule schauen“, nennt er das. Jetzt hat sich der engagierte Lehrer aus dem Berufsleben verabschiedet und ein Buch über seine langjährige pädagogische Arbeit auf den Elbinseln geschrieben.

Wilhelmsburg war Anfang der 90er-Jahre ein abgeschriebener Stadtteil, manchmal auch als „Ghetto“ abgestempelt. Hier wohnte man, weil man es musste, weil die Mieten günstig waren, weil man anderswo kaum eine Chance hatte. Die Kinder und Jugendlichen, die hier zur Schule gingen, wuchsen nur selten über ihr Viertel hinaus. Damit wollte sich Kelber-Bretz aber nicht abfinden.

Schule stärker mit dem Stadtteil vernetzen

Er kennt, wovon er schreibt. „Ich komme selbst aus bildungsfernen Verhältnissen“, schreibt er. Sein Vater war Bäcker, die Mutter Hausfrau, er besuchte die Realschule. Dabei wäre es wohl auch geblieben, wenn sich sein damaliger Klassenlehrer nicht für ihn starkgemacht und ihn nach der Mittleren Reife zum Abitur gedrängt hätte. Den Einsatz seines Lehrers beschreibt Kelber-Bretz in seinem Buch als Impuls, selbst Lehrer zu werden und sich für benachteiligte Kinder einzusetzen. Es ist darum sicher auch kein Zufall, dass Kelber-Bretz dann als Lehrer ausgerechnet in Wilhelmsburg und nicht in einem sozioökonomisch besser aufgestellten Stadtteil Hamburgs gelandet ist.

Wilhelmsburg war Kelber-Bretz aber anfangs fremd, gibt er zu. Die Schülerschaft war schon vor 30 Jahren sehr heterogen, der Anfang als Lehrer für ihn schwierig. Er habe eine Zeit gebraucht, um „herauszufinden, was eigentlich hinter den Fassaden steckte“, schreibt er in seinem Buch – hinter den Fassaden der Schülerinnen und Schüler und hinter den Fassaden von Wilhelmsburg.

Wilhelm Kelber-Bretz hat viele Bildungsprojekte angestoßen

Anders als die allermeisten Kolleginnen und Kollegen fuhr er nach dem Unterricht nicht gleich nach Hause, raus aus Wilhelmsburg, sondern blieb, um den Kiez kennenzulernen und bald auch Anknüpfungspunkte zu finden, Bildungsprojekte außerhalb der Schule zu initiieren.

Kelber-Bretz gründete den Kinderzirkus „Willibald“ und die Wilhelmsburger Lesewochen. Er war lange Geschäftsführer des lokalen Bildungsnetzwerks Forum Bildung Wilhelmsburg und macht sich bis heute dafür stark, mit lokalen Projekten die Chancen armer und bildungsferner Kinder zu verbessern. In seinem Buch fasst er die wichtigsten Erkenntnisse aus dieser Arbeit zusammen. Für ihn ganz wichtig ist dabei, dass Veränderungen nicht von oben herab kommen, sondern dass die Menschen vor Ort aktiv mit eingebunden werden.

Mehr Entwicklungsmöglichkeiten für junge Lehrkräfte

Anschaulich erzählt der pensionierte Lehrer von vielen Situationen und Begegnungen in der Schule und im Stadtteil. Er beschreibt die wachsenden Herausforderungen im Lehrerberuf und formuliert klare Forderungen, damit es besser läuft. So mahnt er ein neues Arbeitszeitmodell an, eine bessere Lehrerversorgung insbesondere für Schulen in schwieriger Lage, eine Verbesserung der pädagogischen Qualität der Ganztagsschule und mehr Entwicklungsmöglichkeiten für junge Lehrkräfte, „zum Beispiel durch mehr pädagogische und didaktische Eigenständigkeit und frei disponible Zeiten“. Nur so könnte es für sie auch attraktiv sein, in einer Schule in sozial schwieriger Lage zu arbeiten.

Nach 30 Jahren im Beruf verlassen viele Lehrkräfte die Schule frustriert. Aus Wilhelm Kelber-Bretz’ Buch aber spricht noch immer die Leidenschaft für diesen Beruf und die Überzeugung, etwas bewirken zu können. Mit seinem Buch will er keinen Schlussstrich ziehen, sondern einen Ausgangspunkt für viele weitere Diskussionen zum Thema Bildungsgerechtigkeit setzen.

  • Mit dem Verkauf des Buches werden Projekte des Wilhelmsburger Bildungsfonds unterstützt.