Ukrainische Kinder an Schulen : „Integration braucht ein System, das maximal flexibel ist“

Welche Lernsettings sind erfolgreich, wenn es um die Integration von geflüchteten Kindern und Jugendlichen geht? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Werkstatt „Willkommen, Ankommen, Weiterkommen“ der Robert Bosch Stiftung seit 2018. In Kooperation mit dem hessischen Bildungsministerium beraten Best-Practice-Schulen andere Schulen dabei, gute Strukturen für Schülerinnen und Schüler mit Fluchterfahrung zu etablieren. Das Schulportal sprach mit Stefan Brömel, Projektleiter der Werkstatt und Leiter des DaZ-Zentrums der Fridtjof-Nansen-Schule in Flensburg, darüber, was sich bei der Integration bewährt hat, was nicht und was sich mit den geflüchteten Schülerinnen und Schülern aus der Ukraine jetzt ändert. Brömel ist Mitglied der gemeinsamen Initiative der Robert Bosch Stiftung und der Bertelsmann-Stiftung zur Unterstützung der Schulen bei der Aufnahme ukrainischer Schülerinnen und Schüler.

Dieser Inhalt wird im Rahmen einer gemeinsamen Initiative der Robert Bosch Stiftung und der Bertelsmann Stiftung bereitgestellt. >> Mehr erfahren

Eine Schülerin, die aus der Ukraine stammt und gelb-blau lackierte Fingernägel hat, nimmt am Unterricht teil.
Viele Schulen können auf bewährte Konzepte zurückgreifen, wenn es um die Integration geflüchteter Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine geht.
© Foto: Marijan Murat/dpa

Deutsches Schulportal: Sie beraten Schulen, wenn es darum geht, passgenaue Lernsettings für geflüchtete Kinder zu entwickeln. Spüren Sie einen steigenden Beratungsbedarf von Schulen seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine
Stefan Brömel: Ja, das ist sehr stark zu spüren. Gerade die Unterstützung bei der Entwicklung von geeigneten Strukturen ist jetzt an den Schulen gefragt. In den vergangenen Jahren stand ja bei den Schulentwicklungsprozessen eher die Digitalisierung im Vordergrund.

Die meisten Schulen fangen nicht bei null an. Es gibt Erfahrungen, etwa mit Willkommens- oder Vorbereitungsklassen, die mit der Fluchtbewegung 2015 entstanden sind. Welche Lernsettings haben sich bewährt und können jetzt hilfreich sein bei der Integration ukrainischer Schülerinnen und Schüler?

Stefan Brömel
©Privat
Ich selbst bin Lehrer und Leiter des DaZ-Zentrums der Fridtjof-Nansen-Schule. DaZ-Zentren heißen in Schleswig-Holstein die Vorbereitungsklassen für Kinder, die Deutsch als Zweitsprache lernen. Wir haben an unserer Schule ein teilintegratives Modell entwickelt, das sich in der Vergangenheit sehr bewährt hat und auch jetzt sehr gut geeignet ist für die Aufnahme ukrainischer Schülerinnen und Schüler. Damals und heute sind die Voraussetzungen ähnlich: Die Schülerschaft, die bei uns aufgenommen wird, ist sehr heterogen. Alter, Herkunftsländer, Bildungsbiografien, Alphabetisierungsstände und vieles mehr sind unterschiedlich. Hinzu kommt, dass es das ganze Jahr über neue Aufnahmen an der Schule gibt, nicht nur zum Schuljahresbeginn. All das braucht ein System, das maximal flexibel reagieren kann. 

Jede Form von Gleichschritt ist unmöglich. Gleichzeitig ist Effizienz gefragt, damit Lehrkräfte nicht überlastet werden. Wir können nicht bei jeder Schülerin und jedem Schüler neu überlegen, wie wir vorgehen. Wir brauchen ein Repertoire an Materialien und Methoden, die den individuellen Bedarfen entsprechen.

Wie schaffen Sie eine Organisationsstruktur, die so flexibel auf die Bedarfe der Schülerinnen und Schüler eingehen kann?
Der teilintegrative Ansatz ist für uns sehr zentral. Wir unterrichten die Schülerinnen und Schüler nicht in reinen Vorbereitungsklassen für einen festgelegten Zeitraum – sie werden zwar auch bei uns im DaZ-Zentrum in der deutschen Sprache fit gemacht, aber sie werden auch von Anfang an einer Regelklasse zugeordnet.

Wir haben es teilweise mit Schülerinnen und Schülern zu tun, die verunsichert sind und denen es guttut, zunächst in diesem sicheren Hafen des DaZ-Zentrums zu sein – gemeinsam mit anderen, die in ähnlichen Situationen sind, und mit Lehrkräften, die darauf vorbereitet sind. Wir haben aber auch Schülerinnen und Schüler, die sehr stabil und fast abenteuerlustig sind, die ab der ersten Woche in ihrer Regelschulklasse den Sportunterricht oder den Werkunterricht sehr gut besuchen können. In einem teilintegrativen System kann ich auf diese unterschiedlichen Bedarfe flexibel reagieren. Das ist für uns ein wichtiges Learning aus 2015. Eine reine Vorbereitungsklasse kann nur den geschützten Raum bieten – die komplette Integration in eine Regelklasse ist das andere Extrem. Deshalb ist aus meiner Erfahrung das teilintegrative Modell das beste System.

Bekommen trotzdem alle Schülerinnen und Schüler eine spezielle Deutsch-Förderung in den DaZ-Klassen, auch jene, die von Anfang an in die Regelklasse gehen?
Ja, jede Schülerin und jeder Schüler bekommt einen individualisierten Stundenplan. Am Anfang steht da möglicherweise nur DaZ drin, schon in der zweiten Woche können dann Kunst oder Sport in der Regelschulklasse hinzukommen. Andere brauchen für diesen Schritt drei Monate, weil es ihnen damit nicht gut geht. Jedes Fach, das in der Regelschulklasse hinzukommt, ist ein Experiment. Wichtig ist der enge Austausch mit der jeweiligen Fachlehrkraft, um zu schauen, wie es dem Kind damit geht. Möglicherweise ist es für einige manchmal zu früh, dann nehmen wir die Schülerin oder den Schüler wieder zurück in die DaZ-Gruppe.

Gibt es eine festgelegte Dauer, die die Schülerinnen und Schüler maximal in dem DaZ-Zentrum bleiben?
Nein, darauf verzichten wir bewusst. Es gibt jene, die nach sechs Monaten das DaZ-Zentrum verlassen und nur noch punktuell zum Beispiel zur Unterstützung vor Arbeiten oder bei Hausaufgaben zurückkommen, und andere, die drei Jahre brauchen, bis sie an diesem Punkt sind. Dass wir nicht mit festen Fristen und Zeiten arbeiten, ist für uns auch ein weiteres Learning seit 2015. Es gibt leider immer noch Bundesländer, die an solchen starren Regelungen festhalten.

Gibt es aus Ihrer Sicht weitere Erfahrungen seit der Fluchtbewegung 2015, die nicht wiederholt werden sollten
Unsere Erfahrung zeigt zum Beispiel, dass Vorbereitungsklassen, die räumlich abgekapselt sind, nicht gut funktionieren. Es gab anfangs Schulen, die zum Beispiel getrennte Pausenzeiten für Vorbereitungsklassen eingerichtet haben. Das hat sich als kontraproduktiv erwiesen, weil diese Klassen dann immer als Fremdkörper wahrgenommen wurden. Wichtig ist auch, dass die aufnehmenden Regelklassen vorbereitet werden. Nicht immer wissen dort die Schülerinnen und Schüler, was in den Herkunftsländern passiert und warum die Menschen flüchten. Für all das ist ein Konzept nötig. Es reicht nicht, mit viel gutem Willen einen Stuhl mehr im Klassenzimmer aufzustellen.

Bei der Weiterentwicklung von Deutsch als Zweitsprache in Vorbereitungsklassen hat sich seit 2015 sehr viel getan, aber leider gibt es an vielen Schulen bisher zu wenig Bewegung beim sprachsensiblen Fachunterricht in Regelklassen.

Wo gibt es aus Ihrer Sicht noch Entwicklungsbedarf bei den Integrationskonzepten?
Bei der Weiterentwicklung von Deutsch als Zweitsprache in Vorbereitungsklassen hat sich seit 2015 sehr viel getan, aber leider gibt es an vielen Schulen bisher zu wenig Bewegung beim sprachsensiblen Fachunterricht in Regelklassen. Hier muss dringend etwas passieren. Die Kinder, die damals ankamen, sitzen jetzt im Fachunterricht der Regelklassen und zu viele können nicht ausreichend folgen, weil  sich das Bewusstsein für Sprachbildung noch längst nicht in allen Fächern durchgesetzt hat. Die Frage, ab wann ein Kind in die Regelklasse integriert werden kann, ist daher nicht nur von den Kompetenzen des Kindes abhängig, sondern auch von den Kompetenzen des aufnehmenden Systems.

Was ist jetzt neu angesichts der Fluchtbewegung aus der Ukraine, und wie verändert das möglicherweise auch die Konzepte?
Neu ist, die Möglichkeiten der ukrainischen digitalen Lernplattformen einzubeziehen. Dafür sind aber bestimmte Voraussetzungen nötig. Uns kommen hier die flexiblen Stundenpläne zugute und ein System, das ohnehin auf Differenzierung und Individualisierung setzt. Es müssen dafür aber auch die digitalen Voraussetzungen an den Schulen gegeben sein, außerdem muss eigenverantwortliches Lernen eingeübt werden. Es wäre natürlich auch für jedes syrische oder afghanische Kind wünschenswert, auf diese Weise zweigleisig zu fahren, aber hier gibt es dieses digitalisierte Material in der Herkunftssprache noch nicht. Vielleicht blicken wir ja in einigen Jahren mal auf 2022 zurück und sagen, wir haben damals gelernt, solche digitalen Angebote für viele verschiedene Herkunftssprachen zu schaffen.

Sollte der ukrainische oder der deutsche Unterricht bei der Stundenplangestaltung Priorität haben?
Es geht nur beides gleichberechtigt. Wir gehen mit allen Schülerinnen und Schülern so um, als würden sie für immer bleiben. Für mich gibt es keine pädagogische Alternative. Wenn ich anfange, darüber nachzudenken, wie lange die Kinder bleiben, beginne ich mit Provisorien oder in Nischen zu arbeiten. Das gibt den Schülerinnen und Schülern aber nicht die maximale Unterstützung, deshalb fahren wir zweigleisig. Niemand kann wissen, ob sie fünf Wochen oder fünf Jahre bei uns bleiben.

Zur Person

  • Stefan Brömel, Projektleiter der Werkstatt “Willkommen, Ankommen, Weiterkommen” der Robert Bosch Stiftung und des hessischen Bildungsministeriums.
  • Zudem leitet der Lehrer das DaZ-Zentrum der Fridtjof-Nansen-Schule in Flensburg.
  • Seit März 2022 ist er Mitglied der gemeinsamen Initiative der Robert Bosch Stiftung und der Bertelsmann-Stiftung zur Unterstützung der Schulen bei der Aufnahme ukrainischer Schülerinnen und Schüler.