Erfahrungsberichte : Wie Lehrkräfte und Schüler das Lernen auf Distanz erleben

Seit mehr als einer Woche sind die Schulen in Deutschland geschlossen. Lehrkräfte und Kinder, Jugendliche und Eltern müssen sich auf eine völlig neue Situation einstellen. Wir haben Lehrerinnen und Lehrer, die regelmäßig für das Schulportal schreiben, befragt, wie sie diese Zeit erleben und welche Erfahrungen sie gemacht haben. Eine Schülerin und ein Schüler aus der Klasse unseres Schulportal-Kolumnisten Matthias Förtsch berichten ebenfalls, wie sie das Lernen auf Distanz erleben.

Wie kommen die Schülerinnen und Schülern trotz Schulschließung zu ihren Aufgaben? Und wie können die Lehrkräfte den Kontakt halten? Lehrerinnen und Lehrer und Jugendliche berichten aus ihren Erfahrungen.
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Beteiligungsplattform “aula” wird zum digitalen Klassenraum

Dejan Mihajlović, Realschullehrer in Baden-Württemberg: An meiner Schule haben wir seit knapp fünf Jahren eine digitale Plattform, die im Rahmen des Beteiligungskonzepts „aula“ eingeführt wurde. Seit der Schulschließung nutzen wir einfach die dortigen digitalen Klassenräume zur Kommunikation von Aufgaben, Fragen und anfallenden Informationen. Ursprünglich wurde „aula“ konzipiert, um Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, ihre Ideen, wie das Schulleben verbessert werden könnte, einzubringen, zu planen und darüber abstimmen zu lassen.

Der Wechsel auf Fernlehre erfordert natürlich einige Umstellungen, sowohl seitens des Kollegiums als auch bei Klassen. Schließlich sind abrupt feste Strukturen entfallen. Die Ausgangslage, ob und welche technische oder fachliche Unterstützung bei alldem zu Hause gewährleistet werden kann, ist sehr unterschiedlich. Das zu berücksichtigen sehe ich als größte Herausforderung. Eine Chance sehe ich darin, dass Lehrende und Lernende einander in neuen Rollen begegnen und erleben, und ich hoffe, dass positive Erfahrungen auch über diese Zeit hinaus wirken.

Wenn der Kontakt zu den Familien schwer möglich ist

Sabine Czerny, Lehrerin an einer Grundschule in Bayern: Ich unterrichte derzeit auch sogenannte Sprachlernkinder der ersten und zweiten Klasse. Es ist sehr schwierig, überhaupt mit ihnen in Kontakt zu kommen – die Familien verstehen und sprechen kein Deutsch. Schon am Schuljahresanfang habe ich mich bemüht, für jede Familie einen Dolmetscher zu finden; über diese versuche ich nun, eine Kommunikation zu ermöglichen. Die Eltern sind jedoch meist nicht oder nur schwer erreichbar. E-Mail haben sie meistens nicht, abgesehen davon, dass die meisten auch in ihrer eigenen Sprache nicht lesen und schreiben können.

WhatsApp in Kombination mit einem Übersetzungsprogramm mit Sprachausgabe über ein zweites Gerät ginge technisch. Das ist bei den meisten auch das einzige genutzte Programm, im Normalfall dürfte ich es dennoch aus Datenschutzgründen nicht nutzen – nun habe ich mir einen Zweit-Account angelegt. Teils liegen zudem nur veraltete Telefonnummern oder Nummern von Verwandten oder Nachbarn vor. Oft ist auch das Telefon ausgeschaltet, niemand geht ran oder antwortet auf Text- oder Sprachnachrichten.

Das selbstständige Lernen ist für diese Kinder noch sehr schwierig, da sie lernunerfahren in die Schule gekommen sind und zu großen Teilen mit dem „Vormachen – Nachmachen“ noch überfordert sind. Auch jetzt entwickelt sich in diesen Familien erst allmählich der Wert von Bildung – so erledigten bis zum Halbjahr zumindest die Hälfte der Kinder einigermaßen vollständig die Hausaufgaben. Wie gerne würde ich sie zumindest per Videochat unterstützen, aber bislang ist an so etwas nicht zu denken. Befreundete Kolleginnen und Kollegen, die ähnliche Schülergruppen unterrichten, haben wie ich die große Sorge, dass bei einigen dieser Kinder in den nächsten Wochen nichts geübt wird und sie eher bereits Gelerntes wieder vergessen.

Alle Klassen beginnen den Tag mit einer Videokonferenz

Philippe Wampfler, Lehrer einer Kantonsschule, dem Schweizer Pendant zu einem Gymnasium, in Zürich: Die Schulschließung Mitte März hat mich nicht ganz unvorbereitet erwischt – ich habe damit gerechnet. Das war hilfreich: Die ersten Tage war ich sehr produktiv, habe an der Schule Lösungen gesucht und Kolleginnen und Kollegen unterstützt. Es fühlte sich an, als hätte ich mich die letzten Jahre auf genau diesen Moment vorbereitet. Auf einmal waren alle pragmatisch und an Lösungen interessiert.

Ich arbeite an einem Gymnasium, das „Office 365“ nutzt. Alle Lernenden und Lehrenden haben ein Konto. So findet der Unterricht primär auf „Teams“ statt. Alle Klassen beginnen den Tag mit einer Videokonferenz. Sie hat eine soziale Bedeutung: Man startet gemeinsam in den Tag, nimmt einander wahr.

In den einzelnen Fächern ist es den Lehrpersonen freigestellt, wie sie mit Klassen interagieren. Viel läuft über Videokonferenzen, aber auch über schriftliche Aufträge. Ich achte darauf, Gruppenarbeiten einzusetzen, welche die Schülerinnen und Schüler dazu bewegen, miteinander in Kontakt zu bleiben. Wichtig sind auch Projekte, bei denen ich nicht jeden Lernschritt überwache.

Zur Unterhaltung  gibt es Zeichentutorials

Ulrike Ammermann, Lehrerin eines Gymnasiums in Hamburg: Alles beginnt mit unserem Skiurlaub – leere Pisten und für die Kinder kleine Gruppen in der Skischule. Am letzten Tag erreicht mich die Frage einer Kollegin, ob ich denn nach der Rückkehr aus dem Risikogebiet Italien unterrichten solle. Kurz danach werden die Schulen geschlossen. Die erste Zeit versuche ich, meine Fünftklässler telefonisch zu erreichen. Wir bereiten ihnen Wochen-Arbeitspläne vor, die sie mit ihren Büchern in der Schule abholen. Nicht jede Schülerin, jeder Schüler ist digital ausgestattet.

Auch hinter den Kulissen rumpelt es. Unser Dokumentenaustausch-Programm lässt mich nicht ins System, der E-Mail-Dienst schmeißt mich regelmäßig raus. Irgendwann kann ich den Oberstufenschülern ihre Arbeitspakete mit Linklisten und „Prezi“-Präsentation per Mail schicken.

Die ersten Nachfragen kommen spätabends. Morgens meldet sich Leon aus der Fünften. Ihm ist langweilig, und außerdem hat er schon alle Aufgaben gemacht. Bei näherem Hinsehen gibt es doch noch einiges zu tun. Zur Unterhaltung schicke ich ihm Zeichentutorials. Die bekommt auch Mehmet, dessen Bücherpaket noch fehlt. Daraufhin erreichen mich Bilder von lustigen Waschbären. Ich revanchiere mich mit einem gezeichneten Elefanten, dessen Hals zu dick geraten ist. Aber, hey, wir wachsen alle mit unseren Aufgaben.

In der ersten Woche gab es nur Aufträge für die Hauptfächer

Matthias Förtsch, Lehrer an einem Gymnasium in Baden-Württemberg: „Stell dir vor, es ist Schule, und keine(r) geht hin“ – diese Perspektive haben wir in unserem Projekt „Zeitgemäß Lernen“ zum Glück schon vor fast zwei Jahren aufgemacht. Wir wollten Schule neu denken, auch mal losgelöst vom institutionellen Rahmen. Jetzt, in der Corona-Pause, wird deutlich, welche Bedeutung der Selbstständigkeit und Verantwortungsübernahme beim Lernen zukommt, wie formelles und informelles Lernen ineinandergreifen (müssen). Viele unserer Schülerinnen und Schüler kennen „Office 365“ mit den Apps „OneNote“ und „Teams“ richtig gut, sind es gewohnt, kollaborativ zu arbeiten, sich auf diesem Wege Feedback zu geben und zusätzliche Quellen zu suchen. Was wir jetzt mehr nutzen, ist die Videochat-Funktion, um den direkten Kontakt besser zu halten.

In der ersten Phase war uns wichtig, alle Menschen in dieser schwierigen Situation ankommen zu lassen, das heißt: Nur die Lehrkräfte der Hauptfächer verteilten in der ersten Woche Aufträge. Wir haben zudem den Fokus zunächst auf Wiederholung, Vertiefung und auf projektartiges Arbeiten gelegt. Ich als Klassenlehrer initiiere einmal pro Woche einen Videochat mit der Klasse für die Seelenhygiene, für das Erzählen aus dem Alltag, Koordination der Aufgaben der Fachlehrer und Fachlehrerinnen und vieles mehr. Alle dürfen auch zur Ruhe kommen. Ab der zweiten Woche kommen Aufträge der anderen Fächer dazu, aber auch hier behutsam, mit maximal zwei Drittel der Unterrichtszeit als Zeitvorgabe.

Ein Glück im Unglück: In den drei Jahren zuvor ist es uns gelungen, ca. 40 Prozent des Kollegiums mit auf den Weg zu zeitgemäßen Lernformen (im Sinne der „4K-Skills“) zu nehmen, jetzt innerhalb einer Woche 100 Prozent. Ausnahmslos alle Kolleginnen und Kollegen bewegen sich jetzt auf der Plattform. Das bedeutet natürlich auch Begleitung, Unterstützung, Tutorials … Bei ansonsten so düsteren Aussichten sind das Überstunden voller Freude, dass sich etwas bewegt.

Selbst entscheiden, wann man die Aufgaben erledigt

Lucas, Schüler der Klasse 8 eines Gymnasiums in Baden-Württemberg: Natürlich ist diese Form des Lernens eine ganz andere als die, die wir alle kennen. Schließlich blieb in unser aller Schulleben bis Anfang letzter Woche eines immer gleich: Wir mussten alle immer zur Schule gehen. Daraus ergibt sich für jeden Schüler in Deutschland eine völlig neue Situation, mit der jeder erst mal für sich selbst klarkommen muss. In unserem Fall – als Schüler einer Projektklasse, die mit dem Tablet als technisches Hilfsmittel im Unterricht arbeitet – war aufgrund des Tablets schnell klar, dass wir auch weiterhin mit dem Tablet digital arbeiten würden – wie im Unterricht, nur jetzt eben zu Hause. Dafür nutzen wir auch weiter Apps wie zum Beispiel „Teams“, „OneNote“ oder auch digitale Versionen von Büchern. Die Erteilung der Hausaufgaben erfolgt dann in „Teams“.

Ich persönlich finde diese neue Art des Lernens eine sehr spannende Erfahrung. Da auch Dinge passieren, die im normalen Schulalltag nie so passieren würden, zum Beispiel Videokonferenzen mit allen Schülern, in denen wir über die neue Lernsituation sprechen oder sogar Unterricht haben. Natürlich gibt es auch ein paar negative Dinge, wie zum Beispiel den fehlenden persönlichen Kontakt zwischen Schülern und Lehrern, Unsicherheiten bei Klassenarbeiten oder die Ungewissheit, ob die Technik immer funktionieren wird!

Insgesamt denke ich aber, dass ich mit der Situation ganz gut zurechtgekommen bin und sich dadurch kein enormer Lernnachteil bei mir zeigen wird. Es gibt sogar Dinge, die mir am Homeschooling besser gefallen als beim jetzigen normalen Schulsystem, zum Beispiel, dass man weitgehend selber entscheiden kann, wann man seine Aufgaben erledigen will. Zusammenfassend möchte ich sagen, dass ich ein solches System zwar noch nicht für so ausgereift halte, um langfristig eine Alternative zu unserem Schulsystem zu sein, aber ich halte es bei einer so rasanten Entwicklung der Schule beziehungsweise der Digitalisierung für nur logisch, dass eine ähnliche Form dieses Systems irgendwann mal die Zukunft unseres Schulsystems sein wird.

Das Miteinander und der Spaß fehlen

Philline, Schülerin der Klasse 8, eines Gymnasiums in Baden-Württemberg: Es ist natürlich eine ganz andere Form des Lernens – jetzt in der Zeit, in der wir von zu Hause aus lernen müssen. Aber es ist auch eine Erfahrung fürs Leben. Als es hieß, dass die Schulen geschlossen werden und wir digital per „Teams“ weiterlernen, dachte ich erst: Das kann ja mal was werden – denn einige Lehrer haben sich noch gar nicht mit dieser Art des Lernens vertraut gemacht.

Wir haben zwar schon vorher über „Teams“ Aufgaben bekommen oder den Lehrer Sachen gefragt oder in „OneNote“ unsere Aufschriebe reingeschrieben oder auf einer Sprach-App Englisch gelernt, aber das ist kein Vergleich zu der Situation jetzt. Genauso schade ist es, keinen persönlichen Kontakt mehr zu unseren Mitschülern oder Lehrern zu haben. Ich hatte auch Bedenken, dass das mit den Aufgaben insgesamt klappt.

Das haben die Lehrer aber eigentlich ganz gut geregelt. Jeden Tag stellen sie ihre Aufgaben in „Teams“ rein, die wir dann bis zu einem bestimmten Zeitpunkt bearbeiten müssen, bei manchen Lehrern auch abgeben müssen. Ich finde es besser, wenn man die Aufgaben abgeben muss, denn wenn es heißt, man muss den Arbeitsauftrag nicht abgeben, dann machen es manche Schüler nicht. Wir haben auch ab und zu Videobesprechungen mit unserem Klassenlehrer, da wird dann besprochen, wie wir weitermachen, oder einfach darüber geredet, wie wir mit dieser Situation klarkommen. Und in den letzten Tagen war ich echt erstaunt, wie viele Lehrer jetzt digital weitermachen.

Wenn man erst mal in so einer Situation ist, in der man zu Hause bleiben muss und nicht in die Schule gehen darf, merke ich so richtig, wie schön es doch immer war, in die Schule zu gehen, und wie viel Spaß man in der Schule hat. Das Lernen macht einem dann doch Spaß, auch wenn man keine Lust auf Klassenarbeiten hat, das Miteinander – mit den Freunden lernen, erklären, reden und auch mal Spaß machen – fehlt einfach. Aber trotzdem ist es erstaunlich, dass man, auch ohne in die Schule zu gehen, mit der heutigen Technik viel lernen kann.