Habitussensibilität : „Ich kann in keiner Klasse den gleichen Unterricht machen“

Von den Lehrkräften wird zunehmend Habitussensibilität gefordert, um Bildungsungerechtigkeit in der Schule nicht zu reproduzieren. Doch wie kann das in der Praxis gelingen? Gabriel Kurz, Lehrer an einem Berliner Gymnasium, beschreibt, wie er seine eigenen Haltungen im Umgang mit den Schülerinnen und Schülern reflektiert und wo er an seine Grenzen stößt.

Auch die Schülerinnen und Schüler versuchen, sich in ihrem jeweiligen Habitus anzupassen, herauszufinden, wie der Lehrer oder die Lehrerin tickt.
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Schon im Referendariat fragte sich Gabriel Kurz: ,Was benote ich hier eigentlich‘? Als angehender Lehrer musste er zum ersten Mal mündliche Bewertungen für seine Schülerinnen und Schüler vergeben. Natürlich gab es da Kinder, die politisch viel besser informiert waren als andere, die bei jeder Frage nicht nur eine Antwort, sondern sogar schon eine Meinung parat hatten. Aber läuft man da nicht Gefahr, die Gespräche mit den Eltern am Abendbrottisch zu bewerten? Und honoriert man womöglich nicht genau die Art Gespräche, die man als Halbwüchsiger selbst mit seinen Eltern geführt hätte?

Gabriel Kurz unterrichtet heute an einem Berliner Gymnasium die Fächer Ethik, Philosophie, Politische Bildung und Geschichte. Und die Frage, die ihn schon damals beschäftigte, stellt er sich heute regelmäßig immer wieder, um sein Handeln zu reflektieren. Um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich nur das bewertet, was er den Schülerinnen und Schülern auch im Unterricht vermittelt hat – unabhängig davon, was sie von zu Hause mitbringen.

Im Studium auf das Thema Habitussensibilität gestoßen

Gabriel Kurz
Gabriel Kurz
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Während seines Lehramtsstudiums hat sich Kurz viel mit Habitussensibilität und Bildungsgerechtigkeit auseinandergesetzt. Das ist nicht selbstverständlich. Die meisten Lehrkräfte hören in der Ausbildung eine Menge zum Thema Bildungsgerechtigkeit. Kaum thematisiert wird aber, was das mit den eigenen Denk- und Handlungsmustern zu tun hat, die durch das soziale Milieu geprägt sind, in dem jemand groß geworden ist. Dabei braucht es dafür gerade in der Schule eine besondere Sensibilität, denn die sozialen Herkünfte von Lehrenden und Lernenden liegen oft weit auseinander.

Gabriel Kurz wuchs in einer süddeutschen Kleinstadt nahe der Schweizer Grenze auf. Die Region ist bis heute wohlhabend. Seine Mutter war Religionslehrerin, sein Vater Arzt. Nach der Grundschule wechselte Kurz an ein Gymnasium, wie die meisten Kinder seiner Klasse. Er begeisterte sich für Philosophie und entschied sich für ein Lehramtsstudium.

Sein Praxissemester absolvierte er an einem Gymnasium in der Region. „Armut habe ich zum ersten Mal gesehen, als ich nach Berlin kam“, erinnert er sich. Seitdem hat sich sein Blick gewandelt. Wenn er in seine Heimatstadt kommt, fällt ihm auf, dass einige Kinder dort mit dem E-Bike zur Schule fahren – das gibt es nicht an seiner Schule in Berlin .

Verschiedene Klassen mit unterschiedlicher sozialer Mischung

Kurz arbeitet im Berliner Norden an einem nachgefragten Gymnasium mit zwei sehr unterschiedlichen Einzugsbereichen. Viele Schülerinnen und Schüler kommen aus dem Stadtteil Wedding, der stark durch Migration geprägt ist. Der andere Teil kommt aus dem sehr homogenen Nachbarbezirk Pankow, in dem der Anteil der Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache vergleichsweise gering ist. In der Schule gibt es grundständige Klassen, in die besonders leistungsstarke Kinder schon nach der vierten statt, wie sonst in Berlin üblich, nach der sechsten Klasse wechseln. Daneben gibt es bilinguale Klassen Englisch-Deutsch und Klassen mit einem altsprachlichen Profil. Jede dieser Lerngruppen hat eine andere soziale Schülermischung. „Ich kann in keiner Klasse den gleichen Unterricht machen“, sagt Kurz. Die einen Kinder und Jugendlichen seien es gewohnt, sich zu Hause stets und ständig politisch zu positionieren gegenüber den Eltern, andere wiederum müssten lange ermutigt werden, überhaupt eine eigene Meinung zu äußern.

Ich muss nicht so tun, als hätte ich keine eigenen Maßstäbe und Werte – ich muss sie im Gegenteil transparent und durchschaubar machen für die Kinder.

Darauf muss er sich einstellen, die Kinder „da abholen, wo sie stehen“. Kurz mag diese Phrase nicht besonders. „Es reicht ja nicht, die Kinder abzuholen, wo sie stehen – man muss auch wissen, wo man mit ihnen hinwill.“ So ähnlich habe es der Soziologe Aladin El-Mafaalani mal gesagt, das habe ihm gut gefallen. Habitussensibilität in der Schule bedeute eben nicht, sich das Muster des oder der anderen einfach zu eigen zu machen, um auf Augenhöhe zu kommunizieren. „Das würde nicht weit führen. Ich muss nicht so tun, als hätte ich keine eigenen Maßstäbe und Werte – ich muss sie im Gegenteil transparent und durchschaubar machen für die Kinder“, sagt Kurz. Auch die Schülerinnen und Schüler würden versuchen, sich in ihrem jeweiligen Habitus anzupassen, herauszufinden, wie der Lehrer tickt. „Das gehört dazu. Schule hat die Aufgabe, den Bildungsaufstieg zu ermöglichen, ohne dass sich der Schüler oder die Schülerin ständig fragen lassen muss, woher er oder sie kommt.“

Wenig Zeit für Austausch und Hospitationen im Kollegium

Was so einfach klingt, ist im Schulalltag dennoch schwer zu machen. „Am besten wäre es, wenn Kolleginnen und Kollegen regelmäßig untereinander hospitieren würden, um sich gegenseitig darauf aufmerksam zu machen, wo sie möglicherweise überzogen, ungerecht oder zu zaghaft reagiert haben.“ Sein Kollegium wäre dafür eigentlich gut geeignet, findet Kurz: „Es gibt eine relativ große Pluralität von Meinungen und Positionen.“ Diese Mischung im Lehrerzimmer verhindere, dass man die eigenen Handlungsweisen oder Haltungen als „Normalität“ verkennt und keine Abweichungen toleriert.

Doch für Austausch und Hospitationen fehlt oft die Zeit. Kurz hat deshalb gern Referendarinnen und Referendare in seinem Unterricht, die er dann nach kritischem Feedback fragen kann. Feedback holt er sich regelmäßig aber auch von seinen Schülerinnen und Schülern selbst. Dafür nutzt er ein digitales Tool vom Institut für Schulqualität (ISQ). „Das geht schnell und ist ganz effektiv“, sagt Kurz. Durch die Rückmeldungen erfährt er, ob er Aufgaben und Sachverhalte verständlich erklärt, ob seine Bewertungen als transparent und gerecht empfunden werden und ob der Unterricht an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler anknüpft.

Natürlich wäre es wünschenswert, bei allen Kindern ein genaues Bild vor Augen zu haben, wie sie zu Hause groß werden. Doch das sei nicht möglich, sagt Kurz. Im vergangenen Schuljahr habe er 400 Kinder unterrichtet – da sei es schon schwierig, sich überhaupt nur alle Namen zu merken. Kurz ist überzeugt, dass Schulen multiprofessionelle Teams benötigen, die sich austauschen. Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen etwa könnten viel besser an die Eltern herankommen und auch von den Schülerinnen und Schülern Dinge erfahren, die sie den Lehrkräften nicht anvertrauen. „Das ist eine eigene Profession, die ich als Lehrer nicht einfach mitübernehmen kann.“