„Was ist los mit Jaron?“ : Lehrkräfte im Umgang mit sexuellem Kindesmissbrauch stärken

Die digitale Fortbildung „Was ist los mit Jaron?“ will für das Thema sexueller Kindesmissbrauch sensibilisieren und konkrete Handlungsempfehlungen im Umgang mit Betroffenen geben. Das Angebot des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs steht schulischem Personal bundesweit kostenlos zur Verfügung. Das Schulportal hat sich die Lehrerfortbildung angeschaut.

In jeder Schulklasse sind ein bis zwei Kinder von sexuellem Missbrauch betroffen. So lauten jedenfalls die Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO. Sie geht davon aus, dass 18 Millionen Minderjährige schon mal sexuelle Gewalt erlebt haben oder aktuell erleben. In Deutschland wären das nach dieser Schätzung eine Million Kinder und Jugendliche unter 18 Jahre – fast jedes 13. Mädchen oder jeder 13. Junge.

Aber nur ein Bruchteil der sexuellen Übergriffe wird tatsächlich gemeldet und verfolgt. Das Dunkelfeld ist groß, vor allem weil die Vorfälle meist nicht sichtbar werden. Das hat mehrere Gründe: Sexuelle Gewalt findet häufig im häuslichen Umfeld und zunehmend auch im digitalen Raum statt. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen teilen sich oft nicht mit – weil sie sich schämen, weil sie eingeschüchtert werden, weil sie das Erlebte nicht in Worte fassen können.

Sensibilisieren wollen wir gerade auch für auffällige oder rebellierende Jugendliche, die häufig Abwehrreaktionen auslösen statt den notwendigen Hilfereflex.
Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs

Umso wichtiger sei es, dass es für Betroffene einen Schutzraum gibt, um sich zu öffnen. Schule spiele dabei eine wichtige Rolle. „Lehrerinnen oder Schulsozialarbeiter sind täglich in Kontakt mit ihren Schülerinnen und Schülern – sie können Veränderungen wahrnehmen, belasteten Kindern und Jugendlichen Gesprächsangebote machen und ihnen Zugang zu Hilfe ermöglichen“, so Johannes-Wilhelm Rörig, der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), der sein Amt im Auftrag der Bundesregierung ausübt.

Zwei Versionen von „Was ist los mit Jaron?“

Dazu müsste das Personal an Schulen  aber auch wissen, wie sie sich bei einem Verdacht verhalten können. Oder überhaupt erst lernen, Signale richtig zu deuten. „Sensibilisieren wollen wir gerade auch für auffällige oder rebellierende Jugendliche, die häufig Abwehrreaktionen auslösen statt den notwendigen Hilfereflex.“

Noch seien Lehrkräfte auf solche Situationen kaum vorbereitet, so die Einschätzung von Lehrer Bob Blume, der die Fortbildung „Was ist los mit Jaron?“ selbst getestet hat und auf seinem YouTube-Kanal vorstellt. Er sei selbst überrascht gewesen, dass so viele Kinder betroffen sind, sagt er im Gespräch mit dem Schulportal: „Das war mir gar nicht so klar – und ich halte es für sehr wichtig, dass das Thema stärker in die Schulen getragen wird.“

Fortbildung als „Serious Game“

„Was ist los mit Jaron?“ soll dabei helfen. Die digitale Fortbildung will Lehrerinnen und Lehrern sowie Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern Basiswissen und Handlungssicherheit dazu vermitteln, wie Kinder vor sexuellem Missbrauch geschützt werden können. Und sie will die Pädagoginnen und Pädagogen überhaupt erst mal dafür sensibilisieren, Betroffene im schulischen Kontext zu erkennen.

Entwickelt wurde der Grundkurs von Expertinnen und Experten der Prävention für den UBSKM in Kooperation mit den Kultusministerien der Länder. Es gibt eine Version für Grundschulen und eine für weiterführende Schulen. Beide sind ähnlich gestaltet, thematisieren aber altersspezifische Situationen und berücksichtigen die unterschiedlichen Entwicklungsstadien von Kindern und Jugendlichen.

Was ist los mit Jaron Serious Game Klassenzimmer
In der Online-Fortbildung „Was ist los mit Jaron?“ werden virtuell verschiedene Fallbeispiele aus dem Schulalltag gezeigt.
©UBSKM
Was ist los mit Jaron? Sprechblasen
An einigen Stellen müssen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fortbildung für eine Handlungsoption entscheiden.
©UBSKM
Lehrer im Gespräch mit Schüler Animation
Es ist wichtig, offen Gesprächsbereitschaft zu signalisieren, ohne die möglicherweise Betroffenen zu drängen.
©UBSKM
Lehrerin im Gespräch mit Mädchen im Rollstuhl Animation
Den Betroffenen fällt es oft schwer, sich mitzuteilen, weil es zu den Täterstrategien gehört, ihre Opfer einzuschüchtern.
©UBSKM

Hintergrundwissen zu Täterstrategien

Die Fortbildung ist als „Serious Game“ gestaltet, also als animiertes Computerspiel mit ernstem Inhalt und Wissensvermittlung. In einer virtuellen Umgebung durchlaufen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer fünf verschiedene Fallbeispiele aus dem schulischen Alltag, die verschiedene Aspekte des Themas beleuchten. Sie sind Beobachter und schlüpfen zum Teil selbst in die Rolle der Lehrkraft: In verschiedenen Momenten werden sie selbst aufgefordert, sich für eine Handlungsoption zu entscheiden. Je nachdem wie sie sich entscheiden, kann sich die Situation auch unterschiedlich entwickeln. Zu jeder Option gibt es auch Kommentare, die zeigen, welche Konsequenzen oder welchen nächsten Schritt welches Verhalten nach sich ziehen kann.

Manchmal sind die Gründe für eine Verhaltensänderung von Schülerinnen und Schülern ganz andere, als man im ersten Moment vermutet.
Bob Blume, Lehrer und Blogger

Gerade das interaktive Moment hebt auch Lehrer und Blogger Bob Blume hervor: „Hier wird man wirklich zum Nachdenken angeregt.“ Gut gefallen hat ihm außerdem, dass die Fortbildung die Teilnehmenden für die Problematik „sensibilisiere, aber nicht übersensibilisiere“. Jede Situation müsse man differenziert betrachten: „Manchmal sind die Gründe für eine Verhaltensänderung von Schülerinnen und Schülern ganz andere, als man im ersten Moment vermutet.“

Die fünf Situationen werden im Anschluss noch mal nachbereitet. Dazu begeben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in einen virtuellen Seminarraum, wo die wichtigsten Punkte in der Situation noch einmal genau beleuchtet werden. Außerdem gibt es hier Hintergrundwissen zu sexuellem Kindermissbrauch, zu Täterstrategien, zu Cybergrooming oder zu einer sensiblen und altersgerechten Gesprächsführung mit Kindern und Jugendlichen.

Zu allen Aspekten steht im Seminarraum und im Download-Bereich auch weiterführendes Material zur Verfügung. Wie lange sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Seminarraum aufhalten, bestimmen sie selbst. Entsprechend kann der Kurs zwei bis vier Stunden dauern.

„Was ist los mit Jaron?“ will eine Million Lehrkräfte erreichen

Seit Ende November stehen beide Versionen von „Was ist los mit Jaron?“ online zur Verfügung. Der Kurs ist bundesweit als halbtägige Fortbildung anerkannt, allerdings müssen sich die Teilnehmenden dafür namentlich anmelden. Eine anonyme Teilnahme ist aber ebenfalls möglich. Der Missbrauchsbeauftragte will mit der Online-Fortbildung eine Million Lehrkräfte erreichen. Bis Anfang Februar haben sich rund 4.000 Nutzerinnen und Nutzer angemeldet. Die anonymen Teilnahmen können dabei nicht erfasst werden, so die Sprecherin des UBSKM.

Mit „Was ist los mit Jaron?“ will der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig Schulen auch ermutigen, ein Schutzkonzept zum Umgang mit sexuellem Missbrauch zu erarbeiten. Noch ist das keineswegs selbstverständlich an Schulen. Dabei hat Rörig dies schon 2016 angemahnt, als er die Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ ins Leben gerufen hat. Von einem standardisierten Schutzkonzept rät er allerdings ab, jede Schule müsse hier ihren eigenen Weg planen und gehen – „unter Berücksichtigung der jeweiligen Bedingungen im Land und vor Ort“.

Thema muss mehr Raum in der Lehrerbildung bekommen

Und Lehrer Bob Blume hofft, dass die Fortbildung auch dazu anregt, dass das Thema schon in der Lehrerausbildung mehr Raum einnimmt. In Studium und Referendariat würden angehende Lehrkräfte kaum auf den Umgang mit sexuellem Missbrauch vorbereitet werden, es gebe höchstens mal einzelne Module. Auch im schulischen Alltag wünscht er sich mehr Zeit für die pädagogische Beziehungsarbeit: „Bei der Stofffülle und dem Prüfungsdruck geht das oft unter.“ Mit der Folge, dass Lehrkräfte mögliche Verhaltensänderungen bei Schülerinnen und Schülern gar nicht wahrnehmen  und Betroffenen dann nicht helfen könnten.

Auf einen Blick

  • „Was ist los mit Jaron?“ ist eine digitale Fortbildung, die der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) zusammen mit der Kultusministerkonferenz entwickelt hat.
  • Die Online-Fortbildung ist als „Serious Game“ angelegt, also als eine Art Computerspiel mit ernstem Hintergrund und Wissensvermittlung.
  • Es gibt zwei Versionen – für Lehrkräfte und weiteres schulisches Personal an Grundschulen und an weiterführenden Schulen.
  • Die Teilnahme an der Fortbildung ist kostenlos und dauert etwa zwei bis vier Stunden.
  • Wer den Kurs absolvieren will, kann sich mit Namen und Schule anmelden, eine Teilnahme ist aber auch anonym möglich. Die Teilnahme an der Fortbildung „Was ist los mit Jaron?“ wird als halbtägige Lehrerfortbildung anerkannt.
  • Die Fortbildung läuft auf dem Desktop, sie ist nicht für Tablet und Smartphone geeignet. Als Browser werden Chrome, Firefox und Edge empfohlen.
  • Zur Fortbildung gibt es im Download-Bereich auch weiterführende Materialien.
  • Mehr zum Thema gibt es auf der Seite des UBSKM, und länderspezifische Informationen lassen sich hier