Inklusion auf dem Land : Eine Schule geht dahin, wo die Schüler sind

Inklusion im ländlichen Raum steht vor besonderen Herausforderungen. Schulen in abgelegenen Regionen haben oft nicht das nötige Fachpersonal. Die Schülerinnen und Schüler müssen weite Wege zurücklegen, um die Förderung zu bekommen, die ihnen zusteht. Bei der „Schule ohne Schüler“ in Schleswig-Holstein ist das anders. Lehrkräfte des Förderzentrums Schleswig-Kropp fahren jeden Morgen dorthin, wo die Kinder leben, um sie in der wohnortnahen inklusiven Schule zu begleiten. Das Schulportal sprach mit Lars Krackert, dem Schulleiter des Förderzentrums.

Blick auf die Stadt Schleswig an der Schlei
Die Lehrkräfte des Förderzentrums in Schleswig arbeiten an den Schulen im Umland, verteilt auf einer Fläche von 700 Quadratkilometern.
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Schulportal: Eine „Schule ohne Schüler“ – das klingt zunächst paradox. Was genau ist darunter zu verstehen?
Lars Krackert: Genau genommen müsste es „Schule ohne Schüler im eigenen Hause“ heißen. Tatsächlich haben wir 320 Schülerinnen und Schüler, allerdings verteilt auf 23 Regelschulen. An diesen Schulen haben die Kinder einen wohnortnahen inklusiven Schulplatz, trotzdem fühlen wir uns als Förderzentrum für sie verantwortlich. Früher mussten die Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarfen sehr lange Wege zurücklegen, um in das Förderzentrum zu kommen. Jetzt kommen die Lehrkräfte zu ihnen. Insgesamt besteht unser Kollegium aus 50 Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen. Einige arbeiten an mehreren Schulen in der Region, andere sind nur an einer Schule tätig.

Existiert das Förderzentrum also eher abstrakt als Verwaltungseinheit?
Nein, wir sind organisiert wie andere Schulen auch. Wir nutzen gemeinsam mit einer Kita und dem Jugendaufbauwerk ein Gebäude. Dort haben wir eine Lehrerlounge, Postfächer, Materialsammlungen, eine Bibliothek, Schulungsräume und auch Unterrichtsräume, in denen temporäre Intensivkurse mit den Schülerinnen und Schülern stattfinden können. Wir haben auch eine Schulkonferenz und eine Elternvertretung.

Lars Rackert
Schulleiter Lars Krackert
©privat

Dass Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen im Zuge der Inklusion zwischen mehreren Schulen hin- und herpendeln, ist in vielen Regionen Realität. Häufig wird das als Sparmodell kritisiert. Ihre Schule dagegen hat 2014 sogar den Jakob Muth-Preis für inklusive Schulen erhalten. Wie unterscheidet sich Ihr Konzept von herkömmlichen Ansätzen?
Das Besondere ist, dass das Förderzentrum eine eigene Schulleitung hat, die für den Einsatz der Lehrkräfte zuständig ist und deren Interessen vertritt. Dadurch ist es beispielsweise nicht möglich, dass die Schulleitung vor Ort die Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen als Vertretungskräfte oder zur Abdeckung des regulären Unterrichts einsetzt. Das passiert ja leider angesichts des Lehrermangels sehr oft.

Nicht selten werden die eigentlichen Fördermaßnahmen dadurch auf null heruntergefahren. Durch unser Modell ist sichergestellt, dass die Fachkräfte immer für die förderbedürftigen Kinder da sind. Das Förderzentrum bietet bei Bedarf zusätzlich Sprachintensivmaßnahmen für Schülerinnen und Schüler oder auch eine Erziehungshilfeberatung für die Eltern. Und die Fachkräfte können jederzeit auf die Expertise ihrer Kolleginnen und Kollegen zurückgreifen. Die 50 Lehrkräfte sind für ganz unterschiedliche Förderbedarfe spezialisiert. Diese Expertise würde verloren gehen, wenn die Lehrkräfte an den jeweiligen Schulen angegliedert wären.

Wie schaffen Sie es, dass dieser Austausch auch wirklich stattfindet, wenn die Lehrkräfte an ganz verschiedenen Standorten arbeiten?
Das ist tatsächlich nicht einfach. Die Lehrkräfte sind auf einer Fläche von 700 Quadratkilometern verteilt. Wir haben auch 18 Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter in der Ausbildung. Der Austausch ist da sehr, sehr wichtig. Wir haben vier Konferenzen im Jahr, zwei ganztägige und zwei halbtägige. Die Konferenzen bieten Zeit für einen intensiven Austausch. Hier können Fallbesprechungen oder auch Supervisionen durchgeführt werden. Darüber hinaus gibt es Arbeitskreise zu verschiedenen Themen, wie zum Beispiel Erziehungshilfe oder digitale Medien. Diese Expertengruppen treffen sich regelmäßig, unabhängig von den Konferenzen. Und wir veranstalten gemeinsame Kochabende oder Schifffahrten, damit die Kolleginnen und Kollegen auch auf einer privaten Ebene in den Austausch kommen und sich kennenlernen. Über eine geschützte Online-Plattform können sie darüber hinaus jederzeit miteinander in Kontakt treten, wenn sie eine Frage oder eine Anregung haben. Auch für die Schulleitung ist es herausfordernd, mit allen Kontakt zu halten. Ich besuche die Kolleginnen und Kollegen häufig vor Ort und hospitiere im Unterricht. Dadurch kenne ich die Schulen und die Bedingungen dort gut.

Sind die Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen dann trotzdem in den Kollegien der Regelschulen integriert, oder laufen sie dort eher nebenher?
Die Lehrkräfte sind vor Ort stark eingebunden und auch gut integriert. Das ist uns wichtig. Wir versuchen deshalb, die Lehrkräfte so lange wie möglich an einer Schule zu lassen und selten zu wechseln. Diese Kontinuität ist auch für die Schülerinnen und Schüler wichtig. Eine Rotation lehnen wir ab. Die Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen arbeiten immer gemeinsam mit einer Kooperationslehrkraft. Auch hier ist der Austausch sehr wichtig. In den Kooperationsvereinbarungen ist klar geregelt, dass unsere Lehrkräfte an den Einsatzschulen beispielsweise einen festen Platz im Lehrerzimmer haben, das war anfangs nicht selbstverständlich.

Und wie gelingt es, zu den Schülerinnen und Schülern eine enge Bindung aufzubauen, wenn die Lehrkräfte oft nur wenige Stunden mit den Kindern arbeiten?
Zu Beginn hatten die Fachkräfte oft das Gefühl, dass die Energie verpufft, wenn man nur für kurze Zeit mit dem Kind im Unterricht zusammenkommt. Die Schülerinnen und Schüler selbst hatten oft den Sinn der Förderung nicht verstanden. Das haben wir geändert, indem wir stärker auf zielorientiertes Lernen setzen. Die eher formalen Förderpläne wurden abgelöst von Zielvereinbarungen, die gemeinsam mit den Kindern und Eltern in Gesprächen erarbeitet werden. In regelmäßigen Treffen wird dann auf die Entwicklung und Lernerfolge geschaut. Durch diese Gespräche wächst auch die Bindung zu den Schülerinnen und Schülern. Das kostet zwar zunächst mehr Zeit, doch die Lernerfolge haben sich dadurch stark verbessert.

Gerade im ländlichen Raum, wo es sehr kleine Schulen gibt, würde viel an fachlicher Expertise verloren gehen, wenn nicht dieser große Pool an Spezialistinnen und Spezialisten da wäre.

Wäre es nicht noch effektiver, wenn die Sonderpädagogin oder der Sonderpädagoge an der jeweiligen Schule fest angestellt wäre und so täglich mit den Schülerinnen und Schülern Kontakt hätte?
Ich würde auf jeden Fall an unserem Modell festhalten. Gerade im ländlichen Raum, wo es sehr kleine Schulen gibt, würde viel an fachlicher Expertise verloren gehen, wenn nicht dieser große Pool an Spezialistinnen und Spezialisten da wäre. Nichtsdestotrotz müsste es für eine gute Inklusion deutlich mehr Ressourcen geben. Der Landesrechnungshof in Schleswig-Holstein hatte 2017 errechnet, dass etwa 500 zusätzliche Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen für die Inklusion nötig wären. Außerdem müssten die Gemeinden unterstützt werden, wenn es darum geht, die Schulen baulich zu verändern und mit den nötigen Materialien zu versorgen. Gerade kleine Dorfgemeinschaften können diese Kosten oft nicht tragen.

Wie sieht Ihre Vision von gelungener Inklusion im ländlichen Raum aus?
Ich würde mir wünschen, dass Inklusion nicht nur den Schulen überlassen, sondern stärker als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gesehen wird. Auch der vorschulische Bereich müsste hier zum Beispiel viel stärker unterstützt werden. Da reicht es nicht, einfach zusätzliche Kita-Plätze zur Verfügung zu stellen. Toll finde ich zum Beispiel das Herforder Modell. Hier werden alle Kinder von Geburt an in den Blick genommen. Die Familien werden zu keiner Zeit allein gelassen.

Auf einen Blick

  • Das Förderzentrum Schleswig-Kropp ist Teil des Verbundes Südlicher Bereich des Kreises Schleswig-Flensburg.
  • Im Jahr 2006 fasste die Schule unter Leitung von Lars Krackert den Beschluss, eine „Schule ohne Schüler“ zu werden. Schrittweise wurden die Schülerinnen und Schüler des Förderzentrums in die wohnortnahen Regelschulen aufgenommen. Die Regelschulen wurden zu sogenannten Kooperationsschulen.
  • Seit dem Schuljahr 2013/14 unterrichtet das Förderzentrum alle seine 330 Schülerinnen und Schüler nicht mehr im eigenen Haus. Die Lehrkräfte fahren stattdessen in die wohnortnahe Schule der die Schülerinnen und Schüler.
  • Das Förderzentrum betreut Schülerinnen und Schüler mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache, soziale und emotionale Entwicklung sowie geistige Entwicklung.
  • Im Jahr 2014 wurde der Verbund einschließlich des Förderzentrums mit dem Jakob Muth-Preis für inklusive Schulen ausgezeichnet.