Campus Rütli : „Wir können es uns nicht leisten, Kinder zu verlieren“

Die Rütli-Schule war 2006, nach einem Brandbrief der damaligen Schulleiterin, ein Symbol des Versagens der Schulpolitik. An der Hauptschule im Berliner Bezirk Neukölln herrschten damals unhaltbare Zustände. Aus der desolaten Hauptschule ist mittlerweile die Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli geworden – ein Vorzeigemodell für Schulen in herausfordernder Lage. Wie hat die Schule das geschafft? Welche Programme haben ihr dabei geholfen? Und was lässt sich daraus für das von der Bundesregierung geplante Startchancen-Programm lernen? Das Schulportal hat dazu mit Schulleiterin Cordula Heckmann gesprochen.

Schulleiterin Cordula Heckmann vom Campus Rütli
Schulleiterin Cordula Heckmann weiß, was Schulen in herausfordernder Lage brauchen.
©Imago

Deutsches Schulportal: Die einstige Rütli-Schule hat seit dem Brandbrief 2006 eine enorme Wandlung erlebt. Wie lange hat diese Entwicklung gedauert?
Cordula Heckmann: Schulen sind kein Katamaran, sie haben ein eigenes Tempo, daher lassen sich Schulentwicklungsprozesse auch nicht kurzfristig umsetzen. Man kann hier nicht pauschalisieren, aber ich denke, es braucht minimal zehn Jahre – vor allem bei einer Schule in herausfordernder Lage, die bereits in Schieflage ist.

Worauf kommt es in so einem Schulentwicklungsprozess an?
Schulen brauchen Langfristigkeit, Verlässlichkeit und Kontinuität. Wobei Kontinuität nicht Stillstand bedeutet. Kontinuität ist wichtig in den Strukturen und in der Klarheit des Ziels, das die Schule verfolgt. Die Schule muss von einem Leitgedanken getragen sein. Das Motto unserer Schule lautet: „Kein Kind geht verloren.“

Fusion zum Campus Rütli war ein aufwendiger Prozess

Wie kommt so ein Schulentwicklungsprozess in Gang?
Zunächst ist es wichtig, die eigenen Stärken zu identifizieren, um daran anknüpfen zu können. Das spielte bei uns zum Beispiel bei der Fusion eine wichtige Rolle. Wir mussten uns erst einmal davon lösen, dass es nicht um die einzelne der damals drei Schulen ging, sondern wir mussten herausfinden, wer welche Kompetenzen hat und einbringen kann.

Ähnlich war es beim jahrgangsübergreifenden Lernen. Das gab es schon in den Jahrgängen 1 bis 3. Aber wir haben gemerkt, dass es in den vierten Klassen ruckelte. Daher haben wir uns entschlossen, das jahrgangsübergreifende Lernen auf die Klassen 4 bis 6 auszuweiten. Aber da mussten wir erst mal hinkommen.

Am Anfang steht immer die Kontroverse. Und es erfordert viel Mut und Bereitschaft, das Experimentierfeld zu eröffnen. Gut ist, wenn man sich nicht gleich festlegt, sondern offen an ein Thema herangeht und auch die Möglichkeit zulässt, dass so ein Schritt auch wieder umkehrbar ist, wenn es nicht funktioniert.

Welche Programme haben Ihnen geholfen, aus der problembelasteten Rütli-Schule die erfolgreiche Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli zu machen?
Die drei großen Programme, die uns zur Verfügung standen bzw. stehen, waren das Programm „Ein Quadratkilometer Bildung“ der Freudenberg Stiftung, das Berliner „Bonus-Programm“ und das „Programm Berlin-Challenge“.

Das Entwicklungsbudget aus dem Programm „Ein Quadratkilometer Bildung“ betrug 1,5 Millionen Euro und war auf zehn Jahre festgelegt. Über das „Bonus-Programm“ bekommen Schulen jährlich bis zu 100.000 Euro, wenn sie einen Anteil von 75 Prozent Kindern aus armen Familien haben. Über das „Programm Berlin-Challenge“ bekommen wir eine Summe von 250.000 Euro, um konkrete Entwicklungsprojekte umzusetzen. Der Erfolg des Campus Rütli wäre ohne diese Budgets nicht möglich gewesen.

Campus Rütli hat von verschiedenen Förderprogrammen profitiert

Was waren die unterstützenden Faktoren bei diesen Programmen?
Der große Vorteil an diesen drei Programmen war und ist, dass sie pädagogische Spielräume eröffnen. Das heißt, wir konnten und können mit dem Geld passgenau arbeiten. Es war damit möglich, von unserer Situation, von unseren Schülerinnen und Schülern aus zu denken, statt vorgestanzte Ideen umzusetzen.

Wichtig ist auch eine gute Begleitung. Das Programm „Ein Quadratkilometer Bildung“ hat uns zum Beispiel einige Tagungen in der Uckermark ermöglicht, die die Freudenberg Stiftung moderiert hat. Das war sehr wichtig, weil man auch mal auf Distanz zur eigenen Schule gehen muss, wenn man neue Ideen entwickeln will. In der Schule verharrt man oft auf seinen Positionen und in den Problemen.

Und die Laufzeit ist ein weiterer wesentlicher Faktor. „Ein Quadratkilometer Bildung“ war auf zehn Jahre angelegt. Diese lange Laufzeit war gerade am Anfang unseres Entwicklungsprozesses sehr wichtig. Für „Berlin-Challenge“ haben wir uns 2022 beworben und müssen das Geld innerhalb von circa zwei Jahren ausgeben. Das ist ein sehr kurzer Zeitraum – aber ich denke, wir haben inzwischen Übung und können auch damit umgehen. Wir haben gelernt, Prozesse zu steuern, strategisch zu denken und schnell in die Umsetzung zu gehen. Wenn eine Schule damit keine Erfahrung hat, ist eine kurze Laufzeit schon sehr herausfordernd. Das „Bonus-Programm“ ist fortlaufend, solange man die Voraussetzungen erfüllt. Das ist allerdings auch ein Problem.

Inwiefern?
Das „Bonus-Programm“ ist an den Sozialindex gekoppelt. Die 100.000 Euro bekommen Schulen nur, wenn sie einen Anteil von 75 Prozent lernmittelbefreiter, also armer Kinder haben. Durch die Gentrifizierung des Stadtteils, die bei uns in den Jahrgängen 1 bis 6 die Schülerschaft verändert hat, da mehr Kinder bildungsnaher Eltern unsere Grundstufe besuchen, liegt der Anteil mittlerweile schon darunter. Allerdings ist der Anteil von Schülerinnen und Schülerinnen aus armen Familien ab der 7. Klasse noch immer sehr hoch. Diese Familien brauchen weiterhin viel Unterstützung.

Wir haben über das „Bonus-Programm“ eine Elternbegleiterin eingestellt, die wir aber nicht mehr finanzieren können, wenn wir die Unterstützung durch das „Bonus-Programm“ nicht mehr haben. Das heißt, wir können diese Familien dann nicht mehr in der Qualität unterstützen wie heute.

Das wiederum kann zu Problemen führen. Natürlich müssen Gelder fair und nach Bedarf verteilt werden, aber wenn das Geld wegfällt, lassen sich erfolgreiche Strukturen nicht immer aufrechterhalten. Wir brauchen mehr Nachhaltigkeit in der Förderung.

Programme sollten langfristig angelegt sein. Tatsächlich löst aber oft ein Programm das andere ab, und das ist mit hohem Aufwand verbunden, denn es gibt jedes Mal wieder eine neue Fördergrundlage.

Wie lässt sich dieses Problem lösen?
Schulen in kritischer Lage brauchen vor allem eine langfristige Unterstützung. Programme sollten langfristig angelegt sein. Tatsächlich löst aber oft ein Programm das andere ab, und das ist mit hohem Aufwand verbunden, denn es gibt jedes Mal wieder eine neue Fördergrundlage. Es ist gut, wenn Schulen über ein festes, verlässliches Budget verfügen, mit dem sie auf die Bedarfe ihrer Schülerinnen und Schüler eingehen können.

Damit Schulen dazu in der Lage sind, braucht es eine Professionalisierung der Schulleitungen. Je mehr Freiheit und Autonomie Schulen haben, desto mehr müssen Schulleitungen etwas von Organisationsentwicklung, Teambildung und Prozesssteuerung verstehen.

Schulleitung ist nichts für Angsthasen, weil man ständig Entscheidungen treffen, Menschen überzeugen und mitnehmen muss. Damit sich mehr Menschen für diese verantwortungsvolle Position interessieren, muss der Beruf aber attraktiver werden. Vor allem brauchen Schulleitungen mehr Zeit für Schul- und Unterrichtsentwicklung. Dafür bräuchte es eine Entlastung von Verwaltungstätigkeiten, zum Beispiel durch Verwaltungsleiterinnen und Verwaltungsleiter in der Schule – zumindest ab einer bestimmten Größe.

Schulleitungen in einem Quartier vernetzen

Wie sollte die Zusammenarbeit zwischen Schulleitungen und Schulverwaltung bei der Umsetzung von Förderprogrammen aussehen?
Natürlich muss eine Schule, die stärker eigenverantwortlich arbeitet, ein Controlling haben, damit Standards eingehalten werden. Dafür sollte die Schulaufsicht zuständig sein. Sie sollte die Schulleitung kritisch begleiten, ohne jemanden an den Pranger zu stellen, wenn etwas mal nicht läuft. Es sollte immer um eine Weiterentwicklung und Verbesserung gehen – dabei passieren auch Fehler! Wir müssen hier mutiger sein.

Gut finde ich, wenn man, wie es in Neukölln inzwischen der Fall ist, mehr vom Sprengel aus denkt und nicht nur von der Schulart. Wir sind hier in einem Quartier, in dem sich mehrere Schulen verschiedener Schularten befinden. Wenn wir diese zusammen betrachten, weiß man mehr über die Übergänge und die Eltern – das ist wichtig! Und man kann Plattformen schaffen, um Schulleitungen in den Austausch miteinander zu bringen, damit sie Best Practice austauschen und gemeinsam Lösungen finden können. Das kann übrigens auch die Nerven beruhigen, denn als Schulleitung ist man oft sehr allein.

Wir haben doch kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem!

Was ist aus Ihrer Sicht wichtig für das geplante Startchancen-Programm des Bundes?
Ich sehe in dem Programm eine große Chance, dass sich unter dem gemeinsamen Ziel, mehr Bildungsgerechtigkeit zu erreichen, alle föderalen Bemühungen sammeln können. Das sollte das Dach sein – und alle sollten sich darauf verständigen, dass das Geld nur dafür und nicht für andere Dinge genutzt wird. Das kann man dann von der Kultusministerkonferenz bis runter in die einzelne Schule und für die einzelnen Säulen des Programms durchdeklinieren.

Und ich wünsche mir auch, dass das Programm schnell an den Start geht. Wir haben doch kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem! Wir wissen, wo die Probleme sind, wir haben das alles schon analysiert. Wir müssen jetzt schnell überlegen, wie die Verteilung der Mittel aussieht und wo wir den ersten Punkt setzen. Die Politik hat vielleicht Zeit, aber die Schülerinnen und Schüler haben diese Zeit nicht. Wir können es uns nicht leisten, Kinder zu verlieren.

Startchancen-Programm

Etwa 4.000 Schulen, also rund jede zehnte Schule in Deutschland, soll nach den Plänen der Ampel über das Startchancen-Programm mit mehr Geld und besserer Infrastruktur unterstützt werden. Darüber hinaus sollen bis zu 4.000 Stellen für die Schulsozialarbeit und eine bessere Ausstattung der Schule und der Unterrichtsräume ermöglicht werden. Gefördert werden sollen Schulen in besonders schwierigem Umfeld. Damit soll dem Problem begegnet werden, dass Bildungserfolg stark von der sozialen Herkunft abhängt. Das Programm soll eine Laufzeit von zehn Jahren haben. Der Bund will nach derzeitigem Stand eine Milliarde Euro pro Jahr geben und setzt darauf, dass die Länder dies auch tun.

Die Kultusministerkonferenz hat sich bei ihrer Frühjahrstagung im März 2023 nun darauf verständigt, wie die Fördermittel verteilt werden sollen. Bund und Länder wollen jetzt zügig die weiteren Details klären, so dass das Programm spätestens im nächsten Jahr starten kann, teilte die KMK nach dem Abschluss der Beratungen mit. Das Geld soll nicht mit der Gießkanne erfolgen, hieß es von der KMK. Stattdessen sollen fünf Prozent aller Mittel in einen Solidaritätsfonds gehen. Aus diesem bekommen dann nur die Länder Geld, die besonders viele Schulen mit Problemen haben. Das sind vor allem Bremen, Nordrhein-Westfalen und Berlin. Das restliche Geld soll nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel verteilt werden. Das Bundesbildungsministeriums sprach von einem guten Signal. Geplant ist ein Start des Programms mit dem Schuljahr 2024/25. Eine frühere Umsetzung wäre unrealistisch, hieß es nach der Sitzung der Kultusministerkonferenz. dpa

Campus Rütli

Die Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli
Die heutige Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli.
©Annette Kuhn
  • Der Campus Rütli im Berliner Stadtteil Neukölln ist 2007 entstanden. Im Mittelpunkt steht die Gemeinschaftsschule, die 2009 aus dem Zusammenschluss der ehemaligen Rütli-Schule, einer Hauptschule, der benachbarten Heinrich-Heine-Realschule und der nahe gelegenen Franz-Schubert-Grundschule entstanden ist. Zum Campus gehören außerdem die Jugendfreizeiteinrichtung MANEGE, zwei Kitas und weitere bezirkliche Einrichtungen. Darüber hinaus gibt es Kooperationen mit der Volkshochschule Neukölln, der Musikschule Neukölln und mehreren Kinder- und Jugendeinrichtungen im Kiez.
  • An der Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli lernen fast 1.000 Schülerinnen und Schüler mit Unterstützung durch etwa 150 pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Klassen 1 bis 13. In der musikbetonten Ganztagsschule lernen die Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge von 1 bis 3, 4 bis 6 und in einem Pilotprojekt von 7 bis 10 in der Sekundarstufe jahrgangsübergreifend. Die Schule vergibt alle Schulabschlüsse des Landes Berlin.