Lernstandserhebung in Hamburg : Bundesweit einmalige Daten zeigen Lernverluste durch Corona

Mit besonderem Interesse schauen die Länder auf Hamburg, denn hier haben die Lernstandserhebungen „KERMIT 3“ in der dritten Jahrgangsstufe schon vor den Ferien stattgefunden. Jetzt liegen die Ergebnisse vor. Der Test entspricht den Vergleichsarbeiten VERA 3 in anderen Bundesländern. Diese hatten allerdings die Lernstanderhebungen in den dritten Klassen im vergangenen Schuljahr ausgesetzt und wollen die Defizite durch Corona erst zum Schuljahresbeginn erfassen. Die Hamburger Ergebnisse könnten bereits Hinweise darauf geben, wie groß die Lernrückstände durch die Corona-Pandemie sind. Das Schulportal sprach mit Martina Diedrich, Direktorin des Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) in Hamburg, das für die Vergleichstests verantwortlich ist.

Heft und Stifte
Die Lernstandserhebung KERMIT 3 in Hamburg hat kurz nach dem zweiten Lockdown stattgefunden.
©Lars Rettberg (Die Deutsche Schulakademie)

Deutsches Schulportal: Was genau wurde in Hamburg mit den Vergleichsarbeiten KERMIT 3 getestet?
Martina Diedrich:
Wir haben in allen dritten Klassen vor den Sommerferien unter anderem die mathematischen Kenntnisse und das Leseverstehen der Kinder getestet. Die Tests werden in Hamburg jedes Jahr an den Schulen verpflichtend im Mai durchgeführt, in diesem Jahr fiel der Zeitraum genau auf das Ende der Schulschließungen und die Rückkehr der Kinder in die Schulen. Die Tests haben dieselben Kompetenzen abgefragt wie in den Vorjahren. Auf diese Weise sind die jüngsten Ergebnisse gut vergleichbar mit jenen in den Schuljahren vor der Pandemie.

Martina Diedrich
Martina Diedrich
©Privat

Welche Rückschlüsse lassen sich daraus auf die Lernrückstände durch die Corona-Pandemie ziehen?
Wir können sehr viel deutlicher als noch im letzten Jahr die Spuren der Pandemie erkennen. Beim Leseverstehen erreichen die Kinder im Durchschnitt etwas weniger Punkte als noch vor zwei Jahren. Damals hatten wir einen Mittelwert von 473 Punkten, 2021 erreichten die Schülerinnen und Schüler 455 Punkte. Dieser Lernverlust von 18 Punkten ist pädagogisch eigentlich nicht bedeutsam, aber er kann auf eine Tendenz hinweisen, die wir im Auge behalten sollten.

Auffällig ist beim Leseverständnis eine Verschiebung der Ergebnisse je nach sozialer Zusammensetzung der Schülerschaft an den Schulen. Bei Schulen, die nach dem Hamburger Sozialindex in sehr herausfordernden Lagen sind, haben wir einen etwas größeren Teil der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards im Lesen nicht erreichen. Aber auch an den Schulen in privilegierteren Lagen gibt es Verschiebungen. Hier erreichen beim Lesen in diesem Jahr deutlich weniger Schülerinnen und Schüler als sonst die höchste Kompetenzstufe. Im vergangenen Jahr hatten an diesen Schulen 70 Prozent den höchsten Standard erreicht, in diesem Jahr nur noch 61 Prozent. Diese Verschiebung ist sogar stärker ausgeprägt als die in den sozial stark belasteten Schulen. Das heißt, auch wenn sich der Mittelwert kaum verändert, sehen wir Effekte durch die Pandemie.

Und wie sieht es in Mathematik aus?
Hier gibt es erstaunlicherweise recht wenige Veränderungen. Vor zwei Jahren lag der Mittelwert bei 450 Punkten, im letzten Jahr bei 442 und in diesem Jahr bei 456 Punkten. Wir sehen eine leichte Zunahme der Kinder, die die Mindeststandards nicht erreicht haben, nämlich um zwei Prozentpunkte. Ähnlich sieht es bei der Leistungsspitze aus. Innerhalb der sozialen Belastungsgruppen liegt die deutlichste Verschiebung bei einer Zunahme der lernschwachen Kinder um 5 Prozentpunkte in den Schulen mit niedrigem Sozialindex. Insgesamt sind die Einbußen im Bereich Leseverstehen aber deutlich auffälliger als im Bereich Mathematik.

Wie erklären Sie sich das? Liegt das an dem hohen Engagement der Eltern während des Homeschoolings?
Das Engagement der Eltern während der Schulschließung kann nicht hoch genug geschätzt werden. Aber wir wissen auch, dass nicht alle Kinder zu Hause die gleichen Bedingungen haben. Vor allem in den Schulen in sozial herausfordernden Lagen wäre ich persönlich über einen noch größeren Unterschied nicht überrascht gewesen.

Möglicherweise liegt es eher an den Rahmenbedingungen bei der Testdurchführung. Die Vergleichsarbeiten wurden direkt nach den Schulschließungen geschrieben, als die Kinder wieder in die Schule zurückkehrten. Denkbar ist es, dass die Lehrkräfte unter diesen besonderen Umständen mehr Hilfestellung geleistet haben, um den Kindern ein frustrierendes Erlebnis zu ersparen. Vielleicht ist es aber auch so, dass Kinder, die bereits ein gewisses Zahlenverständnis haben, Mathematik ganz gut selbstständig weiter lernen können. Hier können wir im Moment nur spekulieren.

Das müsste dann doch aber auch für das Leseverständnis gelten?
Tatsächlich sind wir davon ausgegangen, dass Kinder, die gut lesen können, diese Fähigkeit auch in der Pandemie weiter ausbauen, allein deshalb, weil sie viel und gern lesen. Daher hat uns der Lernverlust in den hohen Kompetenzstufen an Schulen in sozial wenig belasteten Lagen überrascht. Wahrscheinlich gab es während der Pandemie doch weniger Leseanlässe für die Kinder. Untersuchungen zeigen ja auch, dass der Medienkonsum während der Schulschließungen stark gestiegen ist. Wir wissen zudem aus diversen Studien, dass das Lesen als Freizeitbeschäftigung nicht mehr eine so große Rolle spielt.

Hat sich die Kluft zwischen Kindern aus bildungsfernen und bildungsnahen Familien während Corona verstärkt?
Das kann man so noch nicht sagen. Die Gruppe der Schülerinnen und Schüler, die den Mindeststandard nicht erreichen, ist in allen Belastungsgruppen tendenziell gestiegen. Das heißt, wir sollten alle Kinder in den Blick nehmen. Es deutet sich aber an, dass die Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern stärker betroffen sind.

Wie sieht es in den anderen Jahrgangsstufen mit den Lernrückständen aus? Gibt es auch schon Ergebnisse der Vergleichsarbeiten in den achten Jahrgangsstufen?
In den anderen Jahrgangsstufen waren die Tests KERMIT 2, 8 und 9 im vergangenen Schuljahr freiwillig. Die Schulen können die Lernstandserhebungen jetzt zu Beginn der nächsten Jahrgangsstufe nachholen und wir unterstützen die Schulen bei der Auswertung. Verpflichtend sind die Tests in den fünften und siebten Klassen, die immer zu Beginn des Schuljahres durchgeführt werden. Hier erhoffen wir uns noch mehr Erkenntnisse zu den Lernrückständen durch die Pandemie.

Die Ständige wissenschaftliche Kommission der KMK empfiehlt, beim Corona-Aufholprogramm in den Grundschulen vor allem auf die Basiskompetenzen in Mathematik und Deutsch zu setzen. Halten Sie das angesichts der Ergebnisse von KERMIT 3 für richtig?
Ja. Die Stäwiko begründet diese Empfehlung ja nicht damit, dass in Mathe und Deutsch die Lernverluste am größten wären. Vielmehr argumentiert sie, dass diese beiden Domänen sehr kumulativ sind. Das heißt, wenn die Grundlagen in Mathe und Deutsch fehlen, wirkt sich das auf die gesamte weitere Schulzeit in allen Fächern aus. Ich finde diese Argumentation schlüssig. Das heißt auch, dass wir möglicherweise die tatsächlichen Auswirkungen erst deutlicher über einen längeren Zeitraum sehen, also in den Lernstandserhebungen der kommenden zwei bis drei Jahre. Dann müssen wir vor allem auf die höheren Jahrgänge schauen. Die Ergebnisse von KERMIT 3 sind nur eine Momentaufnahme und sollten daher nicht zu hoch bewertet werden. In der Langform des Gutachtens hat die Stäwiko übrigens sehr deutlich gemacht, dass es jetzt nicht nur um Mathe und Deutsch gehen muss, sondern auch um die psychosoziale und psychoemotionale Verfassung der Schülerinnen und Schüler. Das geht in der öffentlichen Diskussion oft unter.

Welche Konsequenzen zieht Hamburg aus den Daten der Vergleichsarbeiten für das laufende Schuljahr? Wie gehen die Schulen jetzt damit um?
Mit Beginn dieses Schuljahres startet in Hamburg ein groß angelegtes Aufholprogramm. Bei der Lernförderung ist nun entscheidend, dass sie dort ansetzt, wo sie am dringendsten benötigt wird. Die Ergebnisse von KERMIT 3 helfen den Schulen, bestimmte Schülergruppen zu identifizieren, die einen Nachholbedarf haben. Die Tests können die individuelle Diagnostik, wo genau die Lücken sind, aber nicht ersetzen. Um zu wissen, was der oder die Einzelne genau nachholen sollte, können den Lehrkräften verschiedene einfach durchzuführende und auszuwertende Diagnostikinstrumente helfen. Einige Schulen arbeiten auch schon mit solchen Verfahren, wie zum Beispiel das Salzburger Lesescreening oder der Hamburger Rechentest HaReT. Unter Federführung unseres Instituts sind wir gerade dabei, diese individualdiagnostischen Tools in allen Bundesländern zu sammeln und allen Lehrkräften auf der länderübergreifenden Plattform SODIX/Mundo zur Verfügung zu stellen. Allerdings sehen wir da auch Lücken bei den vorhandenen Tests, was bestimmte Jahrgangsstufen und Fächer betrifft. Ich hoffe, dass wir bei der systematischen individuellen Diagnostik durch die Pandemie-Erfahrung einen großen Schritt weiterkommen. Die Lernförderung sollte Hand in Hand mit einer differenzierten Diagnostik gehen, Breitband-Screenings wie VERA oder KERMIT reichen dafür nicht aus.

Auf einen Blick

Im Rahmen der Lernstandsuntersuchung „KERMIT 3“ wurden über 85 Prozent der Hamburger Drittklässlerinnen und Drittklässler (15.201 von insgesamt 17.689) von ihren Lehrkräften mit einem landesweit gleichen Test in den Bereichen Leseverstehen, Hörverstehen, Rechtschreibung und Mathematik geprüft.

Hamburg überprüft als einziges Bundesland jedes Jahr die Lernstände aller Schülerinnen und Schüler in den Klassenstufen 2, 3, 5, 7, 8 und 9 mit landesweiten Lernstandsuntersuchungen. Die Untersuchungen sollen den Lehrkräften Hinweise auf Erfolge, Probleme und Verbesserungsmöglichkeiten bieten und ihnen bei der Verbesserung der Unterrichtsqualität helfen. Im Grundschulbereich werden vor allem die Bereiche Leseverstehen, Hörverstehen, Rechtschreibung und Mathematik geprüft, in den weiterführenden Schulen kommen weitere Kompetenzbereiche wie beispielsweise Englisch hinzu. Aufgrund der Schulschließungen konnten in der Corona-Zeit nicht alle Lernstandsuntersuchungen wie gewohnt durchgeführt werden.