Abschlussjahrgang : „Hoffentlich bekommen wir ein ganz normales Schuljahr“

Swenja und Leon haben gerade die neunte Klasse einer Gemeinschaftsschule in Halle abgeschlossen. Nach den Sommerferien starten sie in ihr letztes Schuljahr. Sie sind dann der nächste Abschlussjahrgang. Welche Hoffnungen und Ängste begleiten sie dabei? Wie erleben sie – nach mehr als 16 Monaten Corona-Pandemie – die Schule und ihre Suche nach einem geeigneten Beruf? Zum zweiten Mal hat das Schulportal die beiden 15-Jährigen getroffen.

Swenja und Leon gehören zum nächsten Abschlussjahrgang
Beim zweiten Treffen im Juli 2021 haben Swenja und Leon 16 Monate Pandemie hinter sich.
©Annette Kuhn

Das Schuljahr ist geschafft. Vor Swenja und Leon liegen die Sommerferien. Und dann? Die beiden 15-Jährigen aus Halle-Neustadt besuchen die Gemeinschaftsschule Heinrich Heine und haben gerade die neunte Klasse abgeschlossen. Das nächste Schuljahr wird ihr letztes sein. Leon hat dann auch schon konkrete Pläne, wie es beruflich für ihn weitergehen könnte. Swenja wiederum ist noch auf der Suche – wie die meisten in ihrer Klasse.

Eigentlich ein normaler Zustand für 15-Jährige nach der neunten Klasse. Wer weiß schon in diesem Alter, was ein Jahr später sein wird? Nur die wenigsten Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen haben dann feste Berufsvorstellungen. Aber im zweiten Corona-Jahr lässt sich so schwer auseinanderhalten, was normal, also wie immer ist und was der Pandemie und den vielen dadurch bedingten Einschränkungen geschuldet ist. Die Unsicherheit ist groß – zu viel lief unklar in den vergangenen 16 Monaten.

Die meisten im nächsten Abschlussjahrgang wissen noch nicht, was sie werden wollen

Swenja und Leon haben jetzt ein Zeugnis mit vielen Einsen bekommen, und das hat sie ihrem Ziel nähergebracht, im kommenden Jahr den erweiterten Realschulabschluss zu schaffen. Das heißt, sie könnten dann auf die gymnasiale Oberstufe wechseln. Aber das wollen beide nicht. Ihr Ziel ist, so gute Noten wie möglich bekommen, um bessere Chancen auf dem Ausbildungsmarkt zu haben.

Swenja
Schülerin Swenja

Wir haben wahrscheinlich alle viel zu viel Zeit am Handy verbracht.

Leon
Leon

Die Einsamkeit in der Zeit der Schulschließungen war schon sehr groß.

Aber obwohl sie jetzt so ein gutes Zeugnis bekommen haben, wissen sie trotzdem nicht, ob sie wirklich genug gelernt haben. Ob sie die guten Noten vielleicht auch ein bisschen deshalb bekommen haben, weil sich Leistungen nicht so leicht beurteilen lassen, wenn man fast die Hälfte der Unterrichtszeit zu Hause verbracht hat, und weil die Lehrkräfte wegen der Situation einen Bonus gegeben haben. Leon hat daher ein bisschen Angst vor den Abschlussprüfungen im kommenden Jahr und hat sich jetzt schon für die Ferien Übungshefte besorgt.

Der nächste Abschlussjahrgang hatte viel mehr Distanzunterricht

Die jetzigen neunten Klassen waren vom zweiten Lockdown besonders betroffen. Nur die Abschlussklassen, also die zehnten Klassen und die Abiturjahrgänge, hatten trotz Schulschließungen in den meisten Bundesländern weiterhin Präsenzunterricht. Diejenigen, die ein Jahr später im Abschlussjahrgang sind – also auch Leons und Swenjas Klassen –, zählten nicht dazu. Der künftige Abschlussjahrgang steht damit vor besonderen Herausforderungen.

Das Schulportal will genau diese Jugendlichen stärker in den Fokus nehmen und begleitet daher Swenja und Leon bis zu ihrem Schulabschluss und bei ihrem Übergang ins Berufsleben. Zum ersten Mal haben wir die beiden im Februar dieses Jahres getroffen. Der zweite Lockdown dauerte da schon fast drei Monate. Wann die Schulen wieder aufmachen würden? Wussten sie da noch nicht. Ob sie die Berufspraktika, die eigentlich Anfang des Jahres vorgesehen waren, würden nachholen können? War unklar. Welche Auswirkungen der viele Distanzunterricht haben würde? Können sie bis heute nicht sagen. Solch eine Situation hat es ja zuvor noch nie gegeben.

Sie wollen keine „Corona-Generation“ sein

Swenja und Leon vor der Gemeinschaftsschule Heinrich Heine
Leon und Swenja beim ersten Treffen im Februar 2021 mitten im Lockdown.
©Annette Kuhn

Swenja und Leon waren im Schuljahr 2020/21 in der 9. Klasse einer Gemeinschaftsschule in Halle. Sie hatten viel Distanzunterricht, Praktika wurden abgesagt, Berufsmessen gab es höchstens virtuell. In einem Jahr machen sie ihren Abschluss, aber Berufsorientierung ist so nur schwer möglich. Das Schulportal hat die beiden Jugendlichen seit Februar 2021 begleitet.

Leon wusste aber schon im Februar, dass er am liebsten bei der Feuerwehr arbeiten möchte und welche Ausbildungen dahin führen können. Noch vor dem zweiten Lockdown hatte er zwei Praktika in Aussicht: als Kfz-Mechatroniker und direkt bei der Feuerwehr. Beide wurden abgesagt – wegen Corona. „Aber das in der Kfz-Werkstatt konnte ich jetzt noch vor den Sommerferien nachholen“, erzählt er. Noch lieber als eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker würde er nach der Schule eine Sanitäter-Ausbildung machen. Das wäre noch dichter dran an seinem Traumberuf. Dem ist er ohnehin schon nähergekommen, weil er inzwischen auch bei der freiwilligen Jugendfeuerwehr ist. „Wenn jetzt wieder wegen Corona alles dichtmachen muss, wäre es für mich das Schlimmste, dort nicht mehr hingehen zu können“, sagt er.

Der 15-Jährige ist mit seinen Gedanken oft bei der Zukunft, also bei der Zeit nach der Schule. Vielleicht hat sich das durch die Corona-Pandemie sogar verstärkt: Während der Schulschließungen hat er einen eigenen Tagesrhythmus entwickelt und gelernt, sich selbst zu organisieren: morgens erst mal Sport, dann die Aufgaben. Der Wechselunterricht danach habe weniger gebracht.

Wechselunterricht weniger effektiv als Distanzunterricht

Swenja teilt die Erfahrung mit dem Arbeitsaufwand, dennoch fand sie es gut, als der Wechselunterricht wieder losging. „Ich habe im Distanzunterricht viel zu viel Zeit allein verbracht.“ Selbstständiger sei sie in dieser Zeit aber schon geworden.

Der Tübinger Bildungsforscher Richard Göllner glaubt daher, dass ältere Schülerinnen und Schüler von der besonderen Situation sogar profitieren konnten: „Sie mussten auf einmal sehr viel eigenverantwortlicher ihre Lernprozesse organisieren und managen. Vor allem mussten sie einen Lernweg finden, der zu ihnen passt. Dabei haben sie viel über sich selbst und ihr Arbeitsverhalten gelernt“, sagte er kürzlich in einem Interview mit dem Schulportal.

Wir haben kaum einen Schüler nach der Pandemie so zurückbekommen, wie wir ihn mit der Pandemie entlassen haben.
Mandy Rauchfuß, Schulleiterin der Gemeinschaftsschule Heinrich Heine in Halle

Mandy Rauchfuß, die Schulleiterin der Gemeinschaftsschule Heinrich Heine, glaubt aber nicht, dass dies für alle gilt: „Ja, es gibt diese Schülerinnen und Schüler, die während der Pandemie profitiert haben, die ihre Lernprozesse selbstständig organisieren konnten, aber für die meisten war es doch eine Belastung.“ Es fehlten die nötige Unterstützung und die Gemeinschaft. „Wir haben kaum einen Schüler nach der Pandemie so zurückbekommen, wie wir ihn mit der Pandemie entlassen haben.“ Da sei jetzt viel Aufbauarbeit nötig.

Mehr als 60 Prozent der abgesagten Berufspraktika nachgeholt

Ihr Ziel für das kommende Schuljahr ist daher, vor allem die Schülerinnen und Schüler aus dem nächsten Abschlussjahrgang das ganze Jahr über zu unterstützen. „Mit sporadischen Ferienkursen ist es nicht getan“, glaubt die Schulleiterin. Darum wird sich das Kollegium am Ende der Sommerferien zu einer schulinternen Fortbildung zusammenfinden und gemeinsam überlegen, welche Fördermaßnahmen jetzt nötig sind und wie sie sich umsetzen lassen. Und sie wird viele Lehramtsstudierende an die Schule holen, die zum Beispiel auch Arbeit in Kleingruppen ermöglichen.

Und dazu gehört auch, die Jugendlichen des Abschlussjahrgangs bei ihrer Berufsorientierung zu begleiten. Die Gemeinschaftsschule Heinrich Heine ist in diesem Schuljahr „Botschafterschule für ausgezeichnete Berufsorientierung“ geworden. Dazu gehört, dass die Schülerinnen und Schüler der zehnten Klassen eine eigene Ausstellung über Berufe für die neunten Klassen ausrichten. Und dazu gehört auch, dass möglichst viele Neuntklässlerinnen und Neuntklässler ihre Praktika noch vor den Sommerferien nachholen konnten. Bei mehr als 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler habe das geklappt.

Viele Eltern können Jugendliche nicht unterstützen

Auch bei Swenja. Sie konnte noch kurz vor den Sommerferien das ursprünglich für Anfang des Jahres geplante Berufspraktikum als Zahntechnikerin machen. Schon nach zwei Tagen war ihr allerdings klar: „Das ist nichts für mich.“ Zwar arbeitet sie gern für sich – und das hat ihr an dem Beruf auch gefallen –, aber die Arbeit selbst war ihr zu kleinteilig. „Und ein bisschen mehr Kontakt zu Menschen wäre doch schön.“

Entmutigt hat sie die Erfahrung nicht. Eher das Gegenteil ist der Fall. Es hat bei ihr einen Prozess angestoßen. Neulich war sie in der Sparkasse und hat sich gedacht: „Wäre die Bank etwas für mich?“ Sie hat gleich nach Praktika gefragt und hofft, dass das vielleicht schon in den Sommerferien klappt. Über mögliche Ausbildungen spricht sie viel mit ihrer Mutter, und die würde ihr auch bei der Bewerbung helfen.

Diese Möglichkeit haben aber nicht alle Schülerinnen und Schüler der Gemeinschaftsschule in Halle, weiß Mandy Rauchfuß. Die Stadt gehört zu den ärmsten in Deutschland. In Halle-Neustadt wohnen besonders viele Menschen ohne Job – und ohne die Kraft, ihren Kindern Mut bei der Ausbildungsplatzsuche zu machen.

Nach der Pandemie wieder soziale Kompetenzen stärken

Daher fördert die Schulleiterin die Vernetzung der Eltern untereinander: Eltern, die von freien Ausbildungsplätzen wissen und die sich in der Berufswelt besser auskennen, geben diese Infos an andere Eltern weiter. Auch Mandy Rauchfuß versucht, immer auf dem Laufenden zu bleiben und hat selbst erst in den Osterferien ein Praktikum bei einem Baubetrieb mit verschiedenen Gewerken aus dem Netzwerk der Schule gemacht. „Damit ich weiß, worauf es in der Ausbildung ankommt und dies auch den Jugendlichen vermitteln kann“, sagt sie. Schließlich gehe es auch darum, den Jugendlichen überhaupt Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zu geben und sie nach der Pandemie wieder in ihren sozialen Kompetenzen zu stärken.

Leon und Swenja wissen, dass durch die Kontaktbeschränkungen viele Freundschaften verloren gegangen sind. „Die Einsamkeit in der Zeit der Schulschließungen war schon sehr groß“, sagt Leon. Und dabei hatte er noch vergleichsweise viele Kontakte, weil er immer mit Freunden über Video gemeinsam gelernt hat. Aber er kennt auch einige Mitschüler, die in dieser Zeit fast keine Kontakte hatten und denen es auch jetzt noch schwerfällt, sich zu verabreden und wieder mit anderen zu reden. „Die würden lieber weiterzocken, als sich zu verabreden.“ Swenja stimmt zu: „Wir haben wahrscheinlich alle viel zu viel Zeit am Handy verbracht.“

Mandy Rauchfuß will trotzdem Zuversicht vermitteln, dass auch der zukünftige Abschlussjahrgang einen guten Übergang ins Berufsleben haben wird. Ihr größter Wunsch: „Hoffentlich bekommen wir ein ganz normales Schuljahr – mit allem, was dazugehört: nicht nur mit Unterricht in der Schule, sondern auch mit Jugendleben, mit Feiern, mit einem richtigen Abschluss.“ In ihrem Schulleitungsbüro hängt ein großes Bild. In geschwungenen Buchstaben steht darauf: „Happy“. Sie würde sich freuen, wenn der Jahrgang von Swenja und Leon im kommenden Sommer die Schule mit diesem Gefühl verlassen würden.