Kolumne

Einmaleins : Wie Kinder mathematisch denken lernen

Vier Hände mit fünf Fingern – was wie eine einfache Malaufgabe aussieht, erregt in den sozialen Netzwerken regelmäßig die Gemüter. Grundschullehrerin Sabine Czerny erklärt in ihrer Kolumne, warum es nicht ausreicht, das Ergebnis zu kennen. Letztlich entscheidet sich an dieser Frage oft, ob Kindern Mathematik leichtfällt oder ob sie schnell zu der Überzeugung kommen, Mathe nie zu lernen.

Sabine Czerny
Kinderhand
Wer will, dass Kinder denken lernen, muss ihnen zumuten, Dinge und Sachverhalte genau zu erfassen.
©iStock

In regelmäßigen Abständen erregt ein Tweet auf Twitter große Aufmerksamkeit und Entrüstung, so auch vor einigen Tagen wieder.  Abgebildet sind z.B. vier Hände, an denen jeweils fünf Finger zu sehen sind. Die Lehrkraft hat nach der zugehörigen Malaufgabe gefragt und das Kind antwortet mit 5 x 4.

Regelmäßig ist die Entrüstung groß, dass die Lehrkraft dies als falsch wertet und es beginnt in der Regel ein Lehrerbashing, angefangen von „inkompetent“ über „pädagogisch katastrophal“ bis hin zu Vorwürfen,  man würde so kleine Kinderseelen zerstören und die nächste Marie Curie verhindern. Und regelmäßig wird darauf verwiesen, dass den Kindern auf diese Weise die Freude an der Mathematik genommen und das Selberdenken unterbunden werde, weil nur stupides Nachmachen gefordert sei.

Genau das Gegenteil ist der Fall. Eltern sollten froh sein, wenn ihr Kind eine Lehrkraft hat, die auf diese Unterscheidung Wert legt. Das Kind lernt nämlich nicht nur die mathematischen Grundlagen genau und präzise, sondern erwirbt für sein Leben noch weit wichtigere Fähigkeiten. Und das führt letztendlich erst dazu, tatsächlich selbst denken zu lernen, kreativ zu sein, kombinieren zu können und komplexe Sachverhalte verstehen und lösen zu können.

Denken heißt auch unterscheiden und sinnvoll zusammenfügen zu können

Kreativität ist nicht Chaos, Kreativität ist nicht Zufall, Kreativität ist ein bewusster Schöpfungsvorgang. Und Kreativität braucht eine Basis, die man in sich trägt und aus der heraus man tätig wird, mit klarer Intention. Denken heißt vor allen Dingen auch unterscheiden und sinnvoll zusammenfügen zu können. Denken heißt auch, zu wissen was man tut und erklären zu können, warum etwas so ist, wie es ist – also Zusammenhänge erfassen und aufzeigen zu können.

Denken heißt auch, zu wissen was man tut und erklären zu können, warum etwas so ist, wie es ist.

Bei unserer Malaufgabe ist die Lösung ganz eindeutig und klar. Und es wäre sehr wichtig, dass Kinder (und auch Erwachsene) die Unterscheidung verstehen und nicht alles in einen Topf werfen. Denn gerade das Unterscheiden, das Kategorisieren, das präzise Erfassen und Benennen sind die Grundlagen z.B. für Forschung in der Medizin oder Berechnungen im Straßenbau. Das haargenaue Arbeiten ist die Grundlage für nicht einstürzende Brücken. Wenn eine Brücke 8 m lang und 4 m breit sein soll, ist es eben nicht das gleiche, wenn sie dann 4 m lang und 8 m breit gebaut wird – eventuell hängt sie damit nämlich in der Luft.

Wer bei der angegebenen Malaufgabe argumentiert, 4 x 5 sei das Gleiche wie 5 x 4, liegt falsch. 4 x 5 hat das gleiche Ergebnis wie 5 x 4, aber das hat 2 x 9 + 2 auch, 2 x 10 ebenso wie 6 x 3 + 2, dennoch würde hier niemand auf die Idee kommen, dass das „gleich“ ist.

4 x 5 und 5 x 4 sind zwar sogenannte Tauschaufgaben, aber das bezieht sich letztendlich auf das Ergebnis, nicht auf den Sachverhalt an sich. Beim Fliesenlegen würde man für ein 4 x 5 m großes Zimmer die gleiche Anzahl von Fliesen kaufen können, wie bei einem Zimmer von 5 x 4 m. Im Beispiel von der Brücke merkt man aber sofort, dass man eben nicht einfach die Zahlen auswechseln kann, sobald sie für sich eine Bedeutung haben.

Schauen wir uns das Beispiel mit den Händen noch einmal genau an. Vier Hände also mit je fünf Fingern. Bei der Multiplikation heißen die beiden Zahlen Faktoren, wenn es keiner Unterscheidung bedarf: 4 x 5 = 5 x 4 = 20, 4 und 5 sind hier Faktoren. Sobald es aber einer Unterscheidung bedarf, nennt man die Zahlen Multiplikator und Multiplikand und beide haben eine unterschiedliche Bedeutung. Der Multiplikand besagt, wie viele Elemente in der Menge sind, um die es geht. Der Multiplikator sagt, wie oft es diese Menge gibt. Im Fall der Hand ist die Menge 5 und die Anzahl der Mengen 4. Das lässt sich auch sehr leicht herausfinden, wenn man alle Mengen abdeckt bis auf eine, also in dem Fall eine Hand. Ein mal fünf heißt es dann. Deckt man eine weitere Hand auf, sind es zwei mal fünf und so weiter. Das Entscheidende bei der Multiplikation ist, dass die Menge immer gleich ist.

Wer argumentiert „aber mein Kind sagt, fünf Finger an vier Händen“, ändert mathematisch nichts. Die Menge bleibt dennoch fünf, die Anzahl der Mengen vier. Man macht es dem Kind nur unnötig schwer, den Zusammenhang von Verbalisierung und Term zu erkennen, weil die Verbalisierung sehr ungeschickt gewählt ist.

Die zugehörige Plusaufgabe bezieht sich auch auf Multiplikand und Multiplikator: Die Menge wird so oft addiert, wie es der Multiplikator vorgibt, in dem Fall sind es eben vier Hände mit je fünf Fingern, also 5 + 5 + 5 + 5, eben viermal die Fünf. Fehlt einer Hand ein Finger, würde man dann eben 5 + 5 + 5 + 4 rechnen, also 3 x 5 + 4, drei intakte Hände mit je fünf Fingern und eine mit nur vier Fingern.

Das Wesen des Multiplikanden und des Multiplikators zu erfassen

Es geht nicht um die Zahlen und das Ergebnis an sich, sondern es geht darum, das Wesen des Multiplikanden und des Multiplikators zu erfassen. Man sollte also froh sein, wenn sich die Lehrkraft bemüht, den Kindern das Erfassen und Denken beizubringen.

Alles andere, ehrlich gesagt, ist Auswendiglernen von Einmaleins-Aufgaben und nicht mehr. In der Regel können die Kinder dann nicht mal erklären, warum das Ergebnis gleich ist – sie haben das Ergebnis auswendig gelernt, aber nichts verstanden. Das hat dann mit Mathematik wenig zu tun und ist von echtem Denken meilenweit entfernt. Sich zu merken „Zahlen bei Plus und Mal darf ich tauschen und bei Minus und Geteilt nicht“, reicht nicht. Man muss diesen Zusatz von „solange die Zahlen keine weitere Bedeutung haben“ verstanden haben, sonst lernen Kinder nämlich tatsächlich nur mechanisch, statt wirklich mathematisch denken zu lernen. Und genau das wollen wir doch. Es geht eben nicht ums Ergebnis, sondern um das, was in der Mathematik liegt, die Zusammenhänge, die Regeln, die Kunst, die Komposition und Philosophie.

Kinder entwickeln eine Zahlenvorstellung

Kinder, die sich mit solchen Sachverhalten auseinandersetzen, lernen, genau hinzuschauen, lernen, genau zu erfassen, lernen, sich mit Bedeutungen von Dingen auseinanderzusetzen und richtig zuzuordnen. Diese Kinder denken bei der nächsten Aufgabe nach, die z.B. heißen könnte: „Male Ketten: 3 x 8“ – sind das jetzt drei Achterketten oder acht Dreierketten? Die Kinder, die die Bedeutung der Multiplikation verstanden haben, malen drei Achterketten, andere wissen mit der Aufgabe oft nicht einmal etwas anzufangen Und es kommt noch besser: Diese Kinder, die 3 x 8 verstanden haben, haben dann auch ganz schnell ein inneres Bild von 3 x 8 + 4 im Kopf, also z.B. drei Achterketten und noch vier einzelne Perlen, und können das auch leicht berechnen, wohingegen Kinder, die da nur Zahlen und Zeichen sehen, oft verzweifeln.

Letztlich entscheidet sich an dieser Frage oft, ob Kindern Mathematik leichtfällt oder ob sie schnell zu der Überzeugung kommen, das nie zu lernen.

Letztlich entscheidet sich an dieser Frage oft, ob Kindern Mathematik leichtfällt oder ob sie schnell zu der Überzeugung kommen, das nie zu lernen. Die Kinder, die sich differenziert mit so einer Aufgabe auseinandersetzen, entwickeln eine Zahlvorstellung, mit der sie fortan sehr flexibel und kreativ mit Zahlen umgehen können. Diese Kinder können rasch zu Sachsituationen die richtigen Terme finden, weil sie das Wesen der Rechenarten und den Zusammenhang von Bild und Zahl klar vor Augen haben. Sie können vorgegebene Terme erfassen und sehr schnell dechiffrieren, auch dann, wenn sie in späteren Jahren komplexer werden und weitere Rechenarten und Rechenzeichen dazukommen. Sie haben gelernt, zu strukturieren und zu erfassen und können dann damit eigenständig denkend weiterarbeiten.

Wer will, dass Kinder denken lernen, muss ihnen zumuten, Dinge und Sachverhalte genau zu erfassen, präzise zu kategorisieren und zu differenzieren, exakt zu benennen und anzuwenden. So erlauben wir ihnen, eine verlässliche Vorstellung im Kopf zu entwickeln, mit der sie fortan kreativ und komplex arbeiten und denken können.

Zur Person

  • Sabine Czerny ist seit über 20 Jahren Lehrerin und unter­richtet in einer Grund­schule im Groß­raum München eine zweite Klasse in allen Fächern. Zusätzlich gibt sie Fach­unter­richt in anderen Klassen, auch in der Mittel­schule.
  • Vor gut einem Jahr­zehnt machte Sabine Czerny bundesweit Schlag­zeilen: Weil ihre Schüler­innen und Schüler zu viele gute Noten erzielten, wurde sie straf­versetzt.
  • 2009 wurde sie mit einem Preis für Zivil­courage, dem Karl-Steinbauer-Zeichen, aus­gezeichnet. Ein Jahr später erschien ihr Buch „Was wir unseren Kindern in der Schule antun … und wie wir das ändern können“.
  • Für Das Deutsche Schulportal schreibt Sabine Czerny eine Kolumne.