Kolumne

Bewertung : Wenn Leistung wieder cool wird

Einsamer Streber oder unbeliebte Einserkandidatin – im Teenageralter gilt Leistung häufig als uncool. Während der Corona-Pandemie hat Lehrerin Ulrike Ammermann in ihrer Klasse einen Wandel erlebt. Wertschätzung der eigenen Arbeit durch die Lehrkraft ist wieder gefragt. Die Jugendlichen möchten, dass ihre Leistung gesehen wird, wenn sie selbstbestimmt arbeiten – das „Grundrauschen der Peergroup“ im virtuellen Raum tritt dagegen in den Hintergrund. Wie lässt sich dieser Wandel auch im Präsenzunterricht aufrechterhalten?

Ulrike Ammermann
Sich mit guten Leistungen hervortun? Unter Teenagern gilt das häufig als uncool.
©dpa

Irgendwann im Laufe eines Teenagerlebens kippt es. Die Begeisterung für die Schule schwindet – der Stolz, etwas Neues gelernt zu haben, will sich nicht mehr so recht einstellen. „Guck mal, was ich schon kann “ – Erstklässler dagegen kommen oft noch so richtig gern in die Schule und freuen sich über jeden Lernerfolg. Ein paar Jahre und etliche Enttäuschungen später sieht das oft anders aus. Unter Teenagern möchte sich manchmal keine oder keiner mehr mit der Eins im Chemietest oder den sorgfältig gemachten Hausaufgaben hervortun. Das könnte ja uncool wirken.

Unter Teenagern möchte sich manchmal keine oder keiner mehr mit der Eins im Chemietest oder den sorgfältig gemachten Hausaufgaben hervortun.

Meine Schülerin Melissa* hatte neulich für den Deutschunterricht ihre Pro-und-Kontra-Argumente sorgfältig gegeneinander abgewogen und auf drei eng beschriebenen Seiten ihre Meinung mitsamt Begründung und Beispielen aus der Praxis dargelegt. Trotzdem wollte sie ihre Hausaufgabe nicht vorlesen; sie wollte nicht mal zugeben, dass sie sie gemacht hatte. Das hätte unter den anderen Achtklässlern ja uncool gewirkt – und wer will das schon? Autsch, irgendwas haben wir als Schule ganz gehörig falsch gemacht, wenn unsere Schülerinnen und Schüler so auf ihre Fortschritte blicken. Niemand möchte ein einsamer Streber oder eine unbeliebte Einserkandidatin sein. Diesen Effekt gibt es häufig. Er kommt in Elitegymnasien genauso vor wie an Stadtteilschulen oder Gesamtschulen in sogenannten Problemvierteln.

Viele Jugendliche entwickeln in der Pandemie auf selbstbestimmte Art Spaß am Lernen

Durch die pandemiebedingte Schulabstinenz entdecken gerade viele Kinder und Jugendliche, wie gern sie die Schule eigentlich haben. Etliche Schülerinnen und Schüler entwickeln auf eine neue, selbstbestimmtere Art Spaß am Lernen. Marcel* aus der Sechsten zum Beispiel hat neulich eine eigene Präsentation auf die Beine gestellt, die mit dem, was in Büro-Etagen vorgestellt wird, gut mithalten könnte.

Im Fach Gesellschaft beschäftigen wir uns gerade mit der Geografie Deutschlands. Wie weit ist München zum Beispiel von Hamburg entfernt? Und wie kommt man da eigentlich hin? Einige der ersten Vorschläge waren ein bisschen fantastisch. „Mit einem Düsenjet“, schlug Jonas vor, das gehe am schnellsten. Lena wollte mit einem Hubschrauber reisen, so einem wie dem Rettungshubschrauber, der neulich auf dem Schulhof gelandet war. Aber dann kamen sie doch ins Nachdenken über Entfernungen und wie man die überwindet. Über die Chatfunktion unseres Konferenztools hatte ich den Schülerinnen und Schülern den Link zur Kartenfunktion von Google geschickt sowie die Links zu den Seiten der Deutschen Bahn und des öffentlichen Nahverkehrs. Was ist besser: mit dem Bus über die Autobahn oder mit der Bahn reisen? Und wie lange braucht man überhaupt für rund 800 Kilometer?

Für die Zeit nach der Pandemie wünschen sich meine Sechstklässler eine Klassenfahrt. Also haben wir Arbeitsgruppen gebildet, die verschiedene Regionen Deutschlands vorstellen sollten. Wir wollten schließlich entscheiden, wohin wir am liebsten fahren würden. Dazu teilte ich unseren virtuellen Konferenzraum in verschiedene kleinere Konferenzen auf, sodass Gruppen von drei bis vier Schülerinnen und Schülern zusammenarbeiten konnten. Nach drei Wochen sollten die Gruppen ihre Ergebnisse präsentieren.

So kam Marcels Sternstunde. Souverän führte er die Klasse von einer Präsentationsfolie zur nächsten, erklärte, dass es am günstigsten sei, mit einem Gruppenticket der Deutschen Bahn zu reisen; führte aus, wie wir in München zur Jugendherberge kämen, und erklärte, unterstützt von Elif*, welche Sehenswürdigkeiten wir besichtigen könnten. Am besten fanden die Mitschüler Elifs Vorschlag, einen Skatepark zu besuchen. Ein bisschen Fun müsse schließlich auch sein.

„Wie war meine Vorstellung?“, wollte Marcel am Ende der Doppelstunde unbedingt von mir wissen. Auf keinen Fall wollte er eine gemeinsame Bewertung mit Elif, Mustafa* und Laura*. Das komme nicht infrage, schließlich habe er die Folien alle allein erstellt, und bloß Elif hatte Fotos und Informationen zu Sehenswürdigkeiten ergänzt; die anderen hätten gar nichts gemacht. Das gaben Mustafa und Laura auch bereitwillig zu. In der Sechsten denken die meisten noch nicht taktisch in Richtung Zeugnis und Schulabschluss. Stattdessen pflegen sie einen großen Gerechtigkeitssinn.

Auch Noten sind für viele Kinder eine Form der Wertschätzung

Ich nahm mir also die Zeit, Marcel eine Rückmeldung zu geben. Folie für Folie besprach ich mit ihm und seinen Mitschülerinnen und Mitschülern, was richtig gut gelungen war, wo er uns ausreichend informiert hatte und auch einige Kleinigkeiten, die man hätte besser machen können. Das reichte dem 12-Jährigen nicht. Welche Note das denn sei? Auf dieser Information bestand er mit Nachdruck. Und war erst zufrieden, als ich das ausführliche Feedback in eine Eins minus übersetzt hatte. Elif bekam für ihren deutlich kleineren Anteil eine Zwei minus. Und die anderen beiden Gruppenmitglieder je eine Vier minus, dafür, dass sie zumindest während der Unterrichtszeit an den  Beratungen der Arbeitsgruppe teilgenommen hatten.

Das fanden alle meine Schülerinnen und Schüler gerecht. Auch die, die den Vortrag der beiden im Plenum gehört und Feedback gegeben hatten. Noten sind eine Form von Wertschätzung. Viele Kinder fordern diese Wertschätzung in harter Währung ein, ein bisschen „Blabla“ genügt ihnen nicht: Sie wollen echte Noten.

Gruppendynamik entwickelt sich im virtuellen Raum anders

Die Pandemie bietet, trotz aller offensichtlichen Nachteile, auch ein paar Chancen, Schule in einigen Aspekten neu zu denken. Die sollten wir nutzen. Die Gruppendynamik entwickelt sich in virtuellen Räumen etwas anders als im gemeinsam genutzten Klassenzimmer. Stillere Schülerinnen und Schüler bekommen im Unterricht leichter eine Chance, zu glänzen, wenn der Klassenclown nicht später in der großen Pause vor allen darüber lästern kann. Aber auch die Lauten der Klasse zeigen oft neue Seiten. Einige, die sich im Unterricht oft nicht gut konzentrieren können, bekommen das ohne die Ablenkung ihrer Mitschüler auf einmal erstaunlich gut hin.

Jedes Kind und jeder Teenager will gesehen werden, auch mit ihren schulischen Leistungen.

Trotzdem gelingt es nicht jedem, gut zu lernen. Daran ändern auch viele Telefonate und Videokonferenzen mit Einzelnen nicht in jedem Fall etwas. Aber: Jedes Kind und jeder Teenager will gesehen werden, auch mit ihren schulischen Leistungen. Selbst diejenigen, die nicht regelmäßig ihre gemachten Aufgaben hochladen und manche Videokonferenz verschlafen, fühlen sich ignoriert, wenn ich das nicht bemerke. Auch sie wollen wissen: Wie war ich, Frau Ammermann?

Selbst wenn die Antwort „Fünf“ oder „Sechs“ lautet, ist ihnen das lieber als gar keine Antwort. Und manchmal ist die schlechte Note auch ein Einstieg in ein Gespräch darüber, warum es gerade nicht klappt. Aron* zum Beispiel hat, besonders am frühen Morgen, schrecklich viele Videokonferenzen verschlafen. Zu viele Anime-Serien und Videospiele haben ihn nachts beschäftigt. Es tat ihm nicht gut, es tat ihm leid. Er wollte viel lieber gute Noten bekommen. Zusammen mit seinem besten Freund in der Klasse haben wir uns Strategien überlegt, wie er es schaffen kann, abends rechtzeitig ins Bett zu gehen. Morgens wollte Cem* ihn per WhatsApp-Anruf wecken.

Die erste gute Note haben die beiden Neuntklässler gefeiert wie einen Meilenstein. Am Ende der Doppelstunde riefen sie am lautesten: „Welche Note war das?“ Diese Erkenntnis nehme ich als Lehrkraft aus der Pandemie mit: Meine Schülerinnen und Schüler erleben Bewertung als Wertschätzung. Je mehr, desto besser. Und jede Note ist ein Gesprächsanfang: darüber, was toll war, und darüber, was vielleicht besser werden könnte.

* Namen der Kinder geändert.

Zur Person

Ulrike Ammermann ist Journalistin und Lehrerin. In Münster und Lyon hat sie Germanistik und Geschichte studiert. Nach ihrem Volontariat beim Deutschen Fachverlag arbeitete sie viele Jahre lang für die internationale Reisepresse. Außerdem ist sie Autorin mehrerer Reisebücher, von Reportagen und Berichten für verschiedene Magazine. Wenn sie gerade nicht an Texten arbeitet, begleitet sie an einer Hamburger Stadtteilschule Jugendliche beim Erlernen der französischen Sprache. Außerdem unterrichtet sie die Fächer Geschichte, Deutsch und PGW (Politik, Gesellschaft, Wirtschaft). Sie lebt mit Mann und Kind in Hamburg.