Kolumne

Integration von geflüchteten Kindern : Sieben Dinge, die sich für Vorbereitungsklassen ändern sollten

Grundschullehrerin Sabine Czerny unterrichtet in Bayern in einer Deutschklasse zugewanderte Kinder ohne Deutschkenntnisse. In ihrer Kolumne für das Schulportal beschreibt sie sieben Dinge, die sich für solche Vorbereitungsklassen ändern müssten, damit das Ziel der Integration in die Regelklassen erfolgreich gelingen kann.

Sabine Czerny
Kinder im Klassenraum, am Fenster eine Friedenstaube
Das Hauptmerkmal einer Deutschklasse oder Willkommensklasse ist maximale Heterogenität.
©Friso Gentsch/dpa

In der letzten Kolumne hatte ich ausgeführt, warum es für zugewanderte Kinder ohne Deutschkenntnisse besser ist, zunächst eine Deutschklasse (in anderen Bundesländern auch Sprachlernklasse, Willkommensklasse, Integrationsklasse oder Vorbereitungsklasse) zu besuchen. Das Hauptargument war, dass all diese Kinder in der deutschen Sprache Analphabeten sind und Lesen und Schreiben sowie einen Grundwortschatz erlernen müssen – Inhalte, die eine Klassenlehrkraft nicht „nebenher“ unterrichten kann.

Deutschklassen, so wie ich sie kennengelernt habe, sind aber nicht so aufgestellt, dass dieses Ziel verlässlich erreicht werden kann; es braucht ein anderes Set-up. In diesen Klassen müsste zudem darauf hingearbeitet werden, dass die Kinder den Anschluss an die Regelklassen schaffen. Denn: Gelingt dies nicht, benötigen sie meist jahrelang zusätzliche Förderstunden und bleiben dennoch oft unter ihren Möglichkeiten oder werden „mitgezogen“, bis ihre Schulpflicht endet und sie teils als Analphabeten, teils ohne Abschluss die Schule verlassen – mit all den Problemen, die das für die betroffenen Kinder, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes mit sich bringt.

Erinnern wir uns: Das Hauptmerkmal einer Deutschklasse ist maximale Heterogenität. Das liegt in der Natur der Sache, wenn Kinder zwischen 6 und 10/11 Jahren, die aus der ganzen Welt zuziehen, im Jahr fortlaufend in eine Klasse gegeben werden. Die Heterogenität ist aber nicht das Problem, sondern dass bei dem bestehenden Set-up keine intensive Individualisierung möglich ist.

Was brauchen Deutschklassen, um zur Integration beitragen zu können?

1. Anerkennung des tatsächlichen Bedarfs

Meine Erfahrung zeigt, dass das Alter eines Kindes nichts über dessen Lernstand aussagt. In meine Klasse gehen mehrere 10-jährige Kinder, die bei ihrer Ankunft auch in ihrer Muttersprache keine Mengen bis 10 bestimmten konnten oder in ihrem bisherigen Leben so wenig gesprochen haben, dass sie Laute nicht verständlich modulieren können. In all der Zeit, in der ich jetzt mit ausländischen Kindern arbeite, hatte ich genau drei Kinder, die auf dem Lernstand der deutschen Kinder ihres Alters waren, alle anderen lagen mindestens ein, wenn nicht gar zwei, drei oder noch mehr Jahre zurück, wenn sie überhaupt schulische Erfahrung hatten. Das heißt, viele Kinder müssen nicht nur Deutsch lernen, sondern weit mehr. Neben Fachlichem mangelt es vor allem an Arbeitshaltung, Arbeitsmethoden und Arbeitstechniken.

2. Mindestens eine Zweitlehrkraft

Die Klassenstärke ist derzeit auf 20 Kinder gesetzt, die von einer Lehrkraft allein unterrichtet werden. Zwanzig Kinder mit einem Lernstand zwischen Kindergarten und 4. Klasse. Zwanzig Kinder, die alle kein Deutsch verstehen und sprechen, sodass man alles zeigen und vormachen muss. In der Regel einzeln, weil jedes Kind auf einem anderen Stand ist. Was daher zwingend benötigt wird, ist mindestens eine Zweitkraft. So könnte zumindest gewährleistet werden, dass in den individualisierten Arbeitsphasen der Rest der Klasse betreut wird und aufkommende Fragen aufgefangen werden können, während die Lehrkraft – dann hoffentlich ungestört – mit einzelnen Kindern Gearbeitetes bespricht, Hausaufgaben einfordert und Neues erklärt: einem Kind das Multiplizieren näherbringt, einem anderen die Wortarten und wieder einem anderen die Hand führt, sodass es lernt, vier Bleistifte abzuzählen und eine Zahlvorstellung aufzubauen.

3. Maximal 12 Kinder in einer Sprachlerngruppe

Die Gruppengröße muss auf maximal 12 Kinder herabgesetzt werden. Das sind an sich immer noch zu viele Kinder, damit wirklich jedes Kind jeden Tag ausreichend sprechen üben kann und schnell Fortschritte in der deutschen Sprache macht, würde aber gewährleisten, dass jedes Kind etwa zweimal pro Woche Zeit mit der Lehrkraft alleine hat und seine individuellen Aufgaben, Fehler und Fortschritte mit ihr besprechen kann. Viel Zeit ist das dennoch nicht, insbesondere wenn man bedenkt, dass man sich ja nicht einfach mit Worten verständigen kann, sondern viel über Gestik und Vormachen läuft bzw. mithilfe von Übersetzungsprogrammen, die eine Sprachausgabe haben. Die Stillarbeitsphasen sind maximal 30 bis 40 min lang, länger ist die Aufmerksamkeitsspanne von Kindern nicht. Während dieser Zeit kann man mit etwa drei Kindern individuell arbeiten.

4. Die Stundentafel anpassen

Wenn es das Ziel ist, dass Kinder schnell Deutsch lernen und den Anschluss an die Regelklasse schaffen sollen, sind insbesondere Deutsch und Mathematik intensiv zu fördern – Fächer, deren Inhalte auf vorher Gelerntes aufbauen. In allen anderen Fächern gibt es immer wieder neue, zum Teil voneinander unabhängige Themen, sodass man jederzeit einsteigen kann. Wichtig ist eine Tagesplanung, die die Kinder trotz der hohen Belastung, die allein beim Sein in einer fremdsprachigen Umgebung entstehen, gut und hoffentlich mit Freude durchhalten. Für diese Rhythmisierung eignen sich die Bereiche Musik, Malen und Basteln und Sport gut. Des Weiteren benötigen sie eine grundlegende integrierende Bildung, die z. B. das Lesen der Uhr, die Verkehrsregeln, Verhaltensformen, Feste und Bräuche aufgreift. Und es ist absolut unabdingbar, Arbeitstechniken und Arbeitsformen zu erlernen sowie eine Arbeitshaltung zu entwickeln. Das benötigt mehr Zeit und Aufmerksamkeit, mehr Rückmeldung und Kommunikation mit dem Lehrer, als man vermuten möchte, und lässt sich nicht in eine bestimmte Stunde packen, für die die Lehrkraft im Wochenplan bereits den exakten Inhalt angeben muss. Die Führung einer Deutschklasse erfordert ein hohes Maß an Flexibilität und Spontaneität, denn die Klassenzusammensetzung und damit auch das gesamte Arbeiten in der Klasse ändern sich fortlaufend mit jedem neu hinzukommenden Kind. Es wäre daher sinnvoll, keine Fächer auszuweisen, sondern lediglich die genannten Elemente als inhaltliche Vorgabe zu geben.

5. Finanzierung der notwendigsten Arbeitsmaterialien

Derzeit scheitert es teilweise an 40 Euro, ob ein Kind den Anschluss schafft oder nicht. Das ist in etwa der Betrag, den erfahrungsgemäß die Arbeitshefte kosten, die ein Kind benötigt, um ein Schuljahr in Mathematik und Deutsch aufzuholen. Für den grundlegenden Erwerb von Schrift, Sprache und Wortschatz würde ich noch einmal so viel rechnen. Mehrere Schuljahre aufzuholen ist sehr gut möglich, wenn sich das Lernen auf das tatsächlich Wesentliche konzentriert und – wenn Kinder Arbeitshefte haben, in denen sie selbstständig und fleißig arbeiten können. Die Eltern verfügen aber oft nicht über ausreichend Geld, häufig haben die Kinder nicht einmal die notwendigsten Materialien wie Stifte, Schere und Kleber, einen Schulranzen oder gar eine tägliche Brotzeit. Vieles habe ich also selber gezahlt, mehrere Male eine Stiftung erfolgreich angefragt oder auch Sachspender gefunden. Aber das kann keine Dauerlösung sein, die Finanzierung grundlegender Arbeitsmaterialien für Migrations- und Flüchtlingskinder muss unkompliziert, unaufwendig und ohne Zeitverlust möglich sein. Wir reden hier von 50-150 Euro pro Kind für die am dringendsten benötigten Arbeitsmaterialien, die es einer guten Zukunft näherbringen.

6. Bericht zum Austritt statt Notenzeugnis und flexible Verweildauer

Bisher ist in der Deutschklasse vorgesehen, Noten zu geben und reguläre Zeugnisse zum Halbjahr und Schuljahresende auszustellen, jeweils bezogen auf den Lernstand der Jahrgangsstufe, dem das Kind altersgemäß angehört, und unabhängig von seinem Eintrittszeitpunkt in die Deutschklasse. Das ist aufgrund der extremen Heterogenität und der Klassengröße weder fachlich noch organisatorisch machbar und zudem pädagogisch höchst fragwürdig. Nicht nur ist der Lernstand selbst gleichaltriger Kinder aufgrund von z. B. späterer Einschulung im Herkunftsland, verlorener Schuljahre durch Krieg und Flucht oder qualitativ schlechterer Schulbildung sehr unterschiedlich – was bringt also der Vergleich? Darüber hinaus sind die Kinder aber gerade aus Kriegsgebieten geflüchtet oder haben zumindest ihre Heimat, ihre Familie und Freunde zurückgelassen und sind mit dem Leben, der Geschwindigkeit und den Anforderungen und Aufgaben in Deutschland häufig überfordert, abgesehen davon, dass sie nichts verstehen und weder lesen noch schreiben können – welchen Sinn machen hier Noten? Insbesondere wenn der Lernfortschritt auch davon abhängt, wie viel der wenigen zur Verfügung stehenden Zeit die Lehrkraft mit diesem Kind individuell verbracht hat? Weit sinnvoller wären Lernstandstests in Mathematik und Deutsch, wenn das Kind bestimmte Lernschritte abgeschlossen hat, Lernstandsrückmeldungen an Kind und Eltern und ein Bericht über das Kind, seinen Lernstand und weiterführende Empfehlungen für die aufnehmende Lehrkraft, wenn das Kind in die Regelklasse übertritt. Für die Kinder ist derzeit ein Besuch der Deutschklasse für ein Jahr ab Eintritt vorgesehen. Meines Erachtens sollte das flexibel gehalten werden: Für manche Kinder ist es sinnvoll, schon nach wenigen Monaten zu wechseln, andere, gerade auch ältere Kinder, die weit mehr aufzuholen haben, benötigen länger. Zudem sollte überlegt werden, ob die Altersgrenze für die weiterführenden Schulen nicht zumindest um ein Jahr angehoben wird, damit auch die Kinder, die z. B. in ihrem Land später eingeschult wurden und hier aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse ein Jahr wiederholen, auch die Möglichkeit haben, auf eine dieser Schulen zu gehen, und ihnen nicht nur die Mittelschule bleibt.

7. Unterstützung von Verwaltungsangestellten, Leitlinien für Eltern

Last but not least: Es braucht dringend Unterstützung für die Verwaltungsangestellten und für alle organisatorischen Aufgaben, die im Zusammenhang mit den Eltern anfallen, sowie einen gewissen Freiraum im Umgang mit Regelungen aller Art. Es zeigt sich, dass in vielen Ländern Bildung nicht den gleichen Stellenwert hat wie in unserem Land und dass der Stellenwert der Kinder ein anderer ist. Neu ankommende Eltern sind es teilweise einfach nicht gewohnt, sich zu kümmern; sie rufen nicht an, wenn ihr Kind krank ist, sie informieren nicht über wechselnde Telefonnummern, sie unterschreiben Elternbriefe nicht, informieren sich nicht selbst – für vieles braucht es weit mehr Unterstützung als gewöhnlich, das kostet Zeit und Arbeitskraft. Die Kommunikation ist oft sehr schwer, es bräuchte statt halbherzig funktionierender Übersetzungsprogramme leicht und zeitnah verfügbare Dolmetscher. Letztlich haben zugezogene Kinder in Deutschland in der Regel nur dann eine Chance auf eine erfolgreiche Schulkarriere, wenn die Eltern zumindest gewisse grundlegende Aufgaben erfüllen. Was aber tun, wenn Eltern ihre Pflichten nicht annehmen? Wenn die Teilnahme an integrierenden Projekten, Veranstaltungen oder unterstützende Maßnahmen nicht möglich ist, weil die notwendige Unterschrift nicht vorliegt? Was, wenn Eltern über Monate hinweg mit ihrem Kind, das eine derart starke Sehschwäche hat, dass es Buchstaben und Zahlen nicht erkennen kann, nicht zum Augenarzt gehen? Kinder haben in unserem Land Rechte wie das Recht auf Bildung, das Recht auf ärztliche Versorgung, aber oftmals fehlt es an rechtlichen Grundlagen, um diese für die betroffenen Kinder auch einfordern zu können – zu geringfügig erscheint der Sachverhalt, und doch macht es einen so entscheidenden Unterschied im Leben eines Kindes. Zeit spielt eine ebenso entscheidende Rolle: Hilfe und Unterstützung benötigt es unmittelbar und nicht Wochen oder Monate später.

Wenn Deutschklassen sinnvoll sein sollen, müssen sie so aufgestellt sein, dass Kinder in möglichst kurzer Zeit Deutsch lernen und den Anschluss insbesondere auch in Mathematik schaffen. Das bedeutet aufgrund der großen Alters- und Lernstandsspanne eine starke Individualisierung und intensivste Förderung. Je besser die Kinder individuell unterstützt und gefördert werden, umso besser können sie in den Nachfolgejahren dem Regelunterricht folgen und umso erfolgreicher können sie die Schule durchlaufen.

Zur Person

  • Sabine Czerny ist seit mehr als 20 Jahren Lehrerin und unter­richtet in einer Grund­schule im Groß­raum München derzeit eine Deutschklasse. Zusätzlich gibt sie Fach­unter­richt in anderen Klassen, auch in der Mittel­schule.
  • Vor gut einem Jahr­zehnt machte Sabine Czerny bundesweit Schlag­zeilen: Weil ihre Schüler­innen und Schüler zu viele gute Noten erzielten, wurde sie straf­versetzt.
  • 2009 wurde sie mit einem Preis für Zivil­courage, dem Karl-Steinbauer-Zeichen, aus­gezeichnet. Ein Jahr später erschien ihr Buch „Was wir unseren Kindern in der Schule antun … und wie wir das ändern können“.
  • Für Das Deutsche Schulportal schreibt Sabine Czerny eine Kolumne.