Kolumne

Selbstkompetenz : Der Optimierungswahn schadet unseren Kindern

Selbstkompetenz hat eine enorme Bedeutung für Lernen und Persönlichkeitsentwicklung. Doch was ist überhaupt Selbstkompetenz? Und warum ist diese Fähigkeit so wichtig für Schülerinnen und Schüler? Schulportal-Kolumnistin Sabine Czerny geht diesen Fragen nach und stellt dabei fest: Den Schulen von heute fehlt das Wissen, wie Kinder und Jugendliche sich zu gesunden, gefestigten Persönlichkeiten entwickeln.

Sabine Czerny
Schulportal-Kolumnistin Sabine Czerny ist überzeugt: „Selbstkompetenz bildet sich allein durch Erfahrung aus. Sie kann nicht ‚gelehrt‘ werden.“
Schulportal-Kolumnistin Sabine Czerny ist überzeugt: „Selbstkompetenz bildet sich allein durch Erfahrung aus. Sie kann nicht ‚gelehrt‘ werden.“
©Theodor Barth (Robert Bosch Stiftung)

Selbstkompetenz. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mir während meiner Ausbildung zur Grundschullehrerin dieser Begriff immer wieder begegnete. Selbstkompetenz galt damals als wichtigste Kompetenz und entscheidende Grundlage für gesunde soziale Fähigkeiten sowie das Vermögen, fachliche Inhalte und Kompetenzen zu verinnerlichen und sinnvoll anzuwenden. Außerhalb der theoretischen Diskussion würde man wohl einfach von einer „in sich gestärkten, authentischen, integren, gesunden Persönlichkeit“ sprechen.

Erfahrungen verhelfen zu Selbstbewusstsein, Selbstdisziplin und Selbstvertrauen

Selbstkompetenz bildet sich allein durch Erfahrung aus. Sie kann nicht „gelehrt“ werden. Wenn ein Kind die Erfahrung macht, dass es gehört wird und immer wieder selbst entscheiden kann, erfährt es Selbstwirksamkeit. Wenn das Kind die Erfahrung macht, dass es Anforderungen, denen es in seinem Erfahrungsraum begegnet, gut meistern kann, entstehen Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen. Wenn das Kind die Erfahrung macht, dass es um seiner selbst willen wertgeschätzt wird, entsteht ein gesundes Selbstwertgefühl. Wenn ein Kind echte Erfolgserlebnisse hat, entstehen Motivation, Anstrengungsbereitschaft und Selbstdisziplin.

Meine Beobachtung in meiner nun über zwei Jahrzehnte langen Tätigkeit als Lehrerin in der Grundstufe ist, dass Schulerfolg hauptsächlich mit dieser Kompetenz zu tun hat. Ich stelle immer wieder fest, dass an sich alle Kinder lernen können – auch auf sehr hohem Niveau. Was aber Kindern fehlt, ist dieses „In-sich-selbst-aufgestellt-Sein“. Das „Ich“ ist nicht ausgebildet, um all das was ihnen begegnet überhaupt aufnehmen zu können, einordnen zu können, um aus sich heraus die Kraft zu haben, sich einbringen zu können und zu wollen.

Unseren Schulen ist in ihrem Optimierungswahn des fachlichen Lernens und Prüfens der Blick auf diesen wesentlichen Aspekt verloren gegangen. Und unseren Schulen fehlt das Wissen darüber, wie Kinder und Jugendliche ihre Persönlichkeit gesund entwickeln, auch wenn vieles davon inzwischen allgemein bekannt ist.

Wie sonst lässt es sich erklären, dass die neuesten Empfehlungen in meinem Umfeld lauten, pro Halbjahr (!) gut 18 Leistungsnachweise einzufordern – auch bei den Erstklässlern, obwohl wir wissen, dass Prüfungen Angst und Stress verursachen und sich dies auf das Gehirn auswirkt? Wie sonst lässt sich erklären, dass selbst Schulanfängerinnen und Schulanfänger schon bewertete Referate und Präsentationen halten müssen, obwohl viele sich aus sich selbst heraus noch nicht sicher genug fühlen, um vor zwanzig oder mehr Menschen zu sprechen? Wie sonst lässt es sich erklären, dass die Fülle der Lerninhalte ein Vielfaches der zur Verfügung stehenden Zeit benötigen würde, so dass vieles nur kurz und oberflächlich dem Nachweis verpflichtet angesprochen wird? Und obwohl Grundlage jeder weiterführenden intrinsischen Lernmotivation das Erfolgserlebnis „Ich habe es wahrhaft erfasst!“ ist? Wie sonst lässt sich erklären, dass der Lehrplan der Kleinsten inzwischen voll ist mit Inhalten weit höherer Jahrgangsstufen, wie zum Beispiel Umfang und Fläche, Achsensymmetrie, Wahrscheinlichkeit, 3D-Installationen und Schreibkonferenzen – mit Inhalten also, die sie entwicklungsbiologisch noch gar nicht erfassen können? Ich zumindest habe während meiner Ausbildung gelernt, dass Kinder zum Beispiel die Fähigkeit des abstrakten Denkens oder auch der Selbstreflexion erst verlässlich in einem Alter von etwa zehn Jahren entwickeln, und dass sich die räumliche Wahrnehmung mit etwa zwölf Jahren ausbildet.

Vielen Kindern fehlt heute die Selbstkompetenz

Ist uns bewusst, was das alles mit unseren Kindern und Jugendlichen macht und wie gerade unsere Kleinsten ernsthaft Schaden nehmen? Zunehmend erlebe ich, dass Kinder sich selbst entfremden, orientierungslos in sich wirken, daher oft auch ohne Anstand und Haltung auftreten, kein wirklich gutes Miteinander mehr haben und sich eben auch kein gesichertes Wissen und keine fundierten Fähigkeiten mehr aneignen können. Und nein, diese Kinder sind nicht „dumm“, wie man mir immer wieder weismachen möchte – diese Kinder und Jugendlichen haben sich durch das viele „Fremdbestimmtsein“ selbst verloren. Achten Sie bei Ihren nächsten Begegnungen einmal selbst darauf: Welcher dieser Menschen ist wirklich bei sich?

Ich hoffe, ich werde richtig verstanden. Mir geht es in keinster Weise um Kuschelpädagogik oder ein verweichlichendes „Gebt den Kindern mehr Zeit!“. Ich weiß, wie glücklich Kinder und Jugendliche sind, wenn sie etwas können, wenn sie aus sich heraus gestalten und wirken, wenn sie sich als kompetent und fähig erleben. Es ist wichtig, dass unsere Kinder kompetent sind und wir sie fordern – auch fachlich! Was mir am Herzen liegt: Wir schaden unseren Kindern, wenn wir ihr Ich übergehen. Und all denen, die nur das Fachliche sehen, rufe ich zu: Der Weg zur fachlichen Kompetenz geht über die gesunde Persönlichkeit

Zur Person

  • Sabine Czerny ist seit über 20 Jahren Lehrerin und unter­richtet in einer Grund­schule im Groß­raum München eine zweite Klasse in allen Fächern. Zusätzlich gibt sie Fach­unter­richt in anderen Klassen, auch in der Mittel­schule.
  • Vor gut einem Jahr­zehnt machte Sabine Czerny bundesweit Schlag­zeilen: Weil ihre Schüler­innen und Schüler zu viele gute Noten erzielten, wurde sie straf­versetzt.
  • 2009 wurde sie mit einem Preis für Zivil­courage, dem Karl-Steinbauer-Zeichen, aus­gezeichnet. Ein Jahr später erschien ihr Buch „Was wir unseren Kindern in der Schule antun … und wie wir das ändern können“.
  • Für Das Deutsche Schulportal schreibt Sabine Czerny eine Kolumne.