Schulautonomie : Das Dilemma des politischen Pädagogen
Gute Schulen gehen eigene Wege, um besser auf lokale Herausforderungen und ihre individuelle Schülerschaft eingehen zu können. Forderungen nach noch stärkerer Autonomie für Einzelschulen werden laut. Wenn die Schulen so aber immer unterschiedlicher werden, weckt das Bedürfnisse, stets die perfekte Schule für die eigene gesellschaftliche Blase zu finden. Mitunter findet dann weniger gesellschaftliche Durchmischung statt, und es wird anspruchsvoller, sich im Schul-Dschungel zurechtzufinden. Werden dadurch manche Elternhäuser zusätzlich benachteiligt und Ungerechtigkeiten im System verstärkt?

Mir imponieren Schulen, die die volle Verantwortung dafür übernehmen, allen ihren Schülerinnen und Schülern eine gelingende Schulzeit zu ermöglichen. Diese Schulen erklären nicht ihre Lernenden für unzureichend oder sortieren unbequeme Charaktere aus, sondern suchen lieber nach kreativen Lösungen, um auch für die vermeintlich Letzten eine geeignete Ansprache zu finden. Hierfür brauchen Lehrerteams aber Freiräume auf Ebene ihrer Schule, um mit individuellen pädagogischen Maßnahmen auf die Bedarfe ihrer Schülerschaft reagieren zu können. Wenn dies gelingt – so meine Beobachtung –, kann es sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder und Jugendlichen an einer Schule glücklicher und erfolgreicher machen.
Die Erwachsenen, weil sie durch die genutzten Freiräume ihr Arbeitsumfeld stärker mitgestalten können, ihre Stärken und Neigungen gewinnbringender in ihren Beruf einbringen können und so auch in ihrer Professionalität stärker wertgeschätzt werden. Die Kinder und Jugendlichen, weil besser auf sie eingegangen werden kann, ihre individuellen Stärken eher gesehen und sie so weniger beschämt werden. Eine höhere Arbeitszufriedenheit bei den einen und höhere Lernmotivation bei den anderen.
Viele engagierte Pädagoginnen und Pädagogen fordern deshalb unter dem Schlagwort „autonome Schule“ noch weiter reichende Freiräume für schulische Selbstorganisation. Wie sehr, so schwärmen sie, würde ihre Schule erst durchstarten, wenn sie noch freier entscheiden könnten? Etwa bei der Auswahl von neuem Personal, bei Formen der Leistungsrückmeldung oder der Stundentafel. Die These lautet: Mehr Freiräume für pädagogisches Handeln lässt Schulen aufblühen.
Der Pädagoge in mir möchte sich dieser Perspektive sofort anschließen und selbst mehr Schulautonomie fordern. Er ist überzeugt, dass die pädagogische Arbeit vor Ort so besser gelingen kann!
Der politisch denkende Mensch in mir meldet jedoch Bedenken an.
Angenommen, mehr Schulen erhielten mehr Autonomie und nutzten ihre Spielräume für Schulentwicklung noch stärker. Wenn unsere These stimmt, hätten wir dann mehr gute Schulen. Aber eben auch größere Unterschiede zwischen einzelnen Schulen und eine größere Vielfalt an pädagogischen Konzepten. Was, wenn sich in diesem bunten Schulkonzepte-Dschungel bestimmte gesellschaftliche Gruppen stärker an bestimmten Schulen sammeln, weil diese jeweils ihrer Vorstellung von Pädagogik am besten entsprechen?
Fördern wir damit eine Entwicklung in Richtung einer zunehmend versprengten Gesellschaft, in der fast jede Gruppe in ihrer wohligen Blase mit den passenden Schulen bleibt? Und der Rest in den Restschulen? In Schweden und Großbritannien, wo schon vor einiger Zeit stärker autonom verwaltete, aber staatlich finanzierte Schulen eingeführt wurden, hat man die Erfahrung gemacht, dass sich vor allem die gut gebildeten und ökonomisch starken Elternhäuser erfolgreich auf einem vielfältigen Bildungsmarkt bewegen und längst nicht alle profitieren. Verstärkt eine größere Autonomie für Einzelschulen und Kollegien also gesellschaftliche Ungerechtigkeiten und die Fragmentierung des Schulsystems? Schon heute beobachten wir schließlich auch in Deutschland zunehmende Tendenzen gesellschaftlicher Spaltung im Bildungsbereich. Von der ohnehin im mehrgliedrigen Schulsystem strukturell angelegten gesellschaftlichen Spaltung ganz zu schweigen.
Sollten wir uns nicht stattdessen lieber für „die eine Schule für alle“ einsetzen, in der sich unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen begegnen und die Milieus sich durchmischen? Wäre das nicht die Schule für die Demokraten?
Was soll ich denn nun fordern?
Ich glaube, dass die Forderung nach mehr Autonomie von Einzelschulen nicht unbedingt im Widerspruch zu Ansprüchen von Bildungsgerechtigkeit steht. Wir sollten aber mögliche negative Folgeeffekte mit bedenken. Wir sollten uns fragen, wie ein Ja zu größerer Schulautonomie aussehen kann, das positive Effekte für die pädagogische Arbeit ermöglicht, aber negativen Effekten gesellschaftlicher Segregation vorbeugt. Dabei sollte uns klar sein: Viele gute Schulen machen noch kein gutes Schulsystem. Es braucht auch sinnvolle flankierende schulpolitische Steuerungsmaßnahmen. Wir Pädagoginnen und Pädagogen sollten in unserem Streben nach guten Lösungen für den Einzelnen auch über unsere Schule hinaus blicken und nicht das große Ganze aus dem Blick verlieren.
Mein Ja zu mehr Schulautonomie bekommt deshalb ein flankierendes „Aber nur, wenn“:
- Aber nur, wenn Schulen im Gegenzug verpflichtet würden, alle Schülerbewerbungen anzunehmen (ggf. nach bestimmten Quoten).
- Aber nur, wenn Schulen die Möglichkeit verwehrt würde, schwierige Schülerinnen und Schüler der Schule zu verweisen und sie den gewonnenen Freiraum stattdessen dazu nutzen müssten, kreative pädagogische Problemlösungen für jeden Einzelfall zu entwickeln. Nach dem Motto: „Die, die da sind, sind genau die richtigen.“
- Aber nur, wenn Schulen mit hohen Anmeldezahlen ihre Plätze verlosen müssten und sich nicht ausschließlich ihre Lieblingsfamilien (sogenannte „Konzepteltern“) an die Schule holen könnten.
- Aber nur, wenn Schulen bessere und umfangreichere Unterstützungssysteme erhielten, damit negative Entwicklungen schneller erkannt und ihnen besser vorgebeugt werden kann. Das Mehr an Wettbewerb der Ideen und Konzepte dürfte nicht zu wachsenden Unterschieden in der Qualität der Schulen führen. Stattdessen sollten alle Schulen von der Innovationskraft Einzelner lernen können, indem gute Lösungen systematisch in die Breite gebracht werden.
Die Gesellschaft, in der ich leben will, misst den Erfolg ihres Bildungssystems an mindestens zwei Dimensionen: daran, wie vielen einzelnen Menschen ein hoher individueller Lernerfolg ermöglicht wird, aber auch daran, wie sehr durch eine gesellschaftliche Durchmischung ein demokratisch-solidarischer Gemeinsinn und ein Verständnis für fremde Perspektiven kultiviert wird.
Das klingt ein bisschen nach der Binsenweisheit, dass gute Pädagogik eine gute Balance aus Individualisierung und Gemeinschaft finden muss. Für gute Schulsysteme gilt vermutlich Ähnliches: Sie müssen eine gute Balance aus Individualisierung für Einzelschulen und verbindlichen gemeinsamen Standards finden.