Kolumne

Medienkonsum : „Warum dürfen alle anderen Kinder viel mehr?“

Natürlich war das pädagogisch nicht ganz korrekt, wenn Eltern die Kinder während der Schulschließungen auch mal dem iPad oder Handy überlassen haben. Aber für Ruhe und Erleichterung hat es schon gesorgt, gibt unsere Kolumnistin Sandra Garbers zu. Jetzt fragt sie sich, wie sie das wieder einfangen kann. Und wie sie gegen dieses „Alle Kinder dürfen aber viel mehr und bekommen immer dies oder das!“ ankommt. Auf der Suche nach dem richtigen Weg aus dem Erziehungsschlamassel hat sie eine überraschende Entdeckung gemacht.

Sandra Garbers
Kind mit Handy
Während der Corona-Zeit ist der Medienkonsum gestiegen.Für Eltern ist es nicht leicht, den Konsum jetzt wieder zurückzuschrauben.
©Tobias Hase/dpa

Es war so einfach, so bequem. Eine Stummschalttaste fürs Kind. Ein Zaubersatz: „Na klar kannst du jetzt ein bisschen iPad spielen.“ Und ich beantworte eine halbe Stunde lang oder auch gern noch ein bisschen länger mal keine Fragen wie „Mama, warum bist du kein Plastik-Beißer?“ oder „Mama, möchtest du ein Porsche sein? Dann hättest du eine ,Sport Plus‘-Taste …“ Kein Rechnen im Zahlenraum bis 20, keine Erklärungen, wie Chromatografie funktioniert. Kommt Kinder, spielt ein bisschen „The Room“. Ich mache derweil mal etwas nur für Erwachsene.

Schlechtes Gewissen? Kaum, denn es waren und sind besondere Zeiten, und irgendwie müssen die Kinder ja für die digitale Zukunft fit gemacht werden. Statt eklige Schleimexperimente zu machen, viel zu waghalsige Trampolin-Überschläge zu üben und Gartenerde-Rasenflecken-Dreck auf der Jeans zu sammeln, bewegten sich die Kinder mehr und mehr im sicheren und sauberen virtuellen Raum. So hatten wir sie unter Kontrolle – und merkten gar nicht, wie wir allmählich die Kontrolle verloren. Trampolin sprangen die Kinder auch noch. Aber nicht mehr so oft.

Wir hatten nicht aufgepasst – und die Kinder waren wie entfesselt.

Jetzt haben wir den Schlamassel. Der Bauch des Zweitklässlers wölbt sich ein wenig überm Hosenbund, Langeweile ist schwerer zu ertragen oder in tolle Spiele umzuwandeln, wenn man weiß, dass die Spannung nur einen Mausklick entfernt ist. Und als wir eines Tages den Online-Seitenverlauf der Zehnjährigen kontrollierten, sahen wir, dass sie nachts heimlich Videos schaute. Lernvideos, immerhin, aber wir hatten die ganze Sache mit dem Suchtfaktor grundlegend unterschätzt. Man kann sich die Erleichterung der Zehnjährigen nicht vorstellen, als sie endlich erwischt wurde. Wir hatten nicht aufgepasst – und die Kinder waren wie entfesselt.

Nun haben wir den Rückwärtsgang eingelegt, so etwas wie „Vorwärts in die Vergangenheit“. Besonders gern erzähle ich den Kindern von Studienergebnissen, nach denen nicht nur der Bauch durch übermäßiges Computerspielen wächst, sondern auch die Brüste. Bei Jungs! Östrogenausschüttung durch zu viel Spannung! Die Kinder gucken erst erschreckt, lachen dann, und der Sohn schlägt vor, ich könne es doch auch mal mit zu viel Computerspielen probieren. Es gibt neuerdings eine strikte (meistens) Zeitbegrenzung, danach werden die gefährlichen elektrischen Dinger einkassiert.

Wir bewegen uns im Eltern-Kosmos, wo die unterschiedlichsten Ansichten zu Spielzeug, Süßigkeiten, Fernsehgucken und Erziehung überhaupt aufeinanderprallen.

Es wäre alles so einfach wieder in den Griff zu bekommen. Wenn wir uns im luftleeren Raum bewegten. Tun wir aber nicht. Wir bewegen uns im Eltern-Kosmos, wo die unterschiedlichsten Ansichten zu Spielzeug, Süßigkeiten, Fernsehgucken, Computerspielen und Erziehung überhaupt aufeinanderprallen. Umso heftiger, je öfter die Kinder sich gegenseitig besuchen und sehen, wie es bei den anderen läuft.

Dann kommen die schwierigen Fragen: Warum darf Niklas immer viel, viel länger mit dem iPad spielen? Warum muss Johannes noch nicht einmal das Wort „Eis“ fertig ausgesprochen haben, schon ist die Waffel mit drei Kugeln und Streuseln in seiner Hand? Warum durfte Ben mit fünf schon sämtliche „Star Wars“-Folgen schauen? Und wieso eigentlich bekommt Mio ein riesiges Lego-Schloss, wenn er es schafft, ein Buch bis zum Ende durchzulesen? Ein Kind aus der Klasse bekommt Punkte für Wohlverhalten. Also: ohne Murren Zähne putzen, Geschirrspülmaschine ausräumen, nicht mit dem Bruder streiten – bei zehn Punkten geht es ins Spielzeuggeschäft! Freie Auswahl. Können wir das nicht auch mal machen?

Wir sind die Spaßbremsen, die Nein-Maschinen, gedanklich eher im Biedermeier als beim Max-Planck-Institut anzusiedeln.

Das Schwierige an Kindererziehung ist gar nicht die Kindererziehung, sondern Erklärungen dafür zu finden, warum bei Lasse alles besser ist, obwohl er gerade weder Geburtstag noch Weihnachten hat. Das Ganze muss natürlich diplomatisch verpackt werden – bloß nicht die anderen Eltern kritisieren. Kinder sind nicht diskret, etwas würde durchsickern. Mama hat „Schwachsinn“ gesagt. Am Ende bleiben einigermaßen hilflose Versuche, nach der Art „Aber wie soll man denn merken, wann Weihnachten ist, wenn jeder Tag wie Weihnachten ist? Das ist doch langweilig!“. Zweifel bleiben. Wir sind die Spaßbremsen, die Nein-Maschinen, gedanklich eher im Biedermeier als beim Max-Planck-Institut anzusiedeln. Sind wir zu engstirnig? Oder ist die Leistung-Leckerli-Pädagogik nicht engstirnig genug? Wahrscheinlich machen wir ohnehin alle alles falsch.

Und dann geschehen sie doch, die kleinen Wunder. Der Siebenjährige konnte in den Ferien plötzlich fließend lesen. Die schwierigsten Wörter wie „Fischgrät-Pampe“ oder „Packpapier-Salat“ kamen mühelos und ohne Stocken heraus. Zuerst hatten wir keine Erklärung dafür, wie und wann das passiert sein konnte. Dabei war es ganz einfach: Der Siebenjährige hatte, als er es noch ausgiebig durfte, auf dem iPad ein Strategiespiel gespielt. Wann immer er nicht weiterkam, hatte er die Lösungshinweise gelesen. Zuerst mühsam, dann immer schneller. Dabei war es offenbar passiert. Er übersprang also die Erstleser-Bücher, holte sich stattdessen ein dickes Buch der großen Schwester aus dem Regal und läuft seither mit der Nase tief im Buch durch das Haus und ist mindestens so abgemeldet in einer anderen Welt wie vorher mit einem iPad. Vielleicht ist doch der Mittelweg das Maß der Dinge.

Zur Person

  • Sandra Garbers ist freie Autorin und lebt mit Mann, zwei Kindern, Hund und Katze in Berlin.
  • Ihre Tochter geht in die fünfte, ihr Sohn in die zweite Klasse.
  • Für die Tageszeitungen „Berliner Morgenpost“ und „Hamburger Abendblatt“ schrieb Sandra Garbers die Kolumne „Mamas & Papas“.
  • Nun blickt sie für das Schulportal aus Elternperspektive auf den Schulalltag.