Kolumne

Quereinstieg : Wie Magie und Handwerk zusammenkommen

Nicht erst seit Corona wird offensichtlich, wo überall im bundesdeutschen Lehrbetrieb es Lücken und Lecks gibt. Es fehlt an vielem: an Breitband-Internet in allen Räumen, an Tablet- Rechnern und – vor allem – an Lehrkräften. Schließlich nützt die beste Technik nichts, wenn die Menschen fehlen, die an und mit ihnen lehren. Die meisten Bundesländer setzen auf den Quereinstieg, um den Mangel an ausgebildeten Lehrkräften auszugleichen. Die Hamburger Lehrerin und Schulportal-Kolumnistin Ulrike Ammermann probiert mit neuen Kolleginnen und Kollegen Formen der Zusammenarbeit aus.

Ulrike Ammermann
Eier mit Gesichtern
Eier sehen menschlichen Gesichtern in der Grundform erstaunlich ähnlich. Das lässt sich auch im Kunstunterricht nutzen.
©iStock

Digitale Bildungsangebote haben viele Vorzüge – wir wissen aber, dass sie den Präsenzunterricht nicht ersetzten können. Lernen ist neben vielem anderen eben auch eine emotionale und soziale Tätigkeit. Wir lernen besser, wenn uns ein echter Mensch dazu Erklärungen gibt; wenn wir das, was wir verstanden haben, selbst einer anderen Person erklären. Wir lernen besser, wenn wir soziales Feedback erfahren.

So weit, so schön. Nur fehlt es leider gerade an diesen Menschen: Wir haben nicht genug ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer. Da die Ausbildung an Universität und Schule für Menschen mit Abitur oder einer anerkannten alternativen Hochschulzulassung fünfeinhalb bis sieben Jahre dauert, ist klar: Neue Lehrerinnen und Lehrer gibt es nicht auf Knopfdruck. Bis sie fertig ausgebildet sind, haben die Lernenden von heute bereits die Schule verlassen.

Abhilfe versprechen Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger. Menschen, die in ihrem Studium Fachwissen erworben haben, denen aber die Befähigung zum Lehramt fehlt. Oder Menschen, die in einem anderen Land unterrichten dürfen, aber nicht die deutschen Abschlüsse haben.

Manchmal kann anerkannte Könnerschaft magische Momente erzeugen

Den Vorwurf, den ganzen Lebenslauf im Bildungssektor zugebracht zu haben, kann man Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern jedenfalls nicht machen. Oft haben sie in ihrem ersten Berufsleben in der freien Wirtschaft gearbeitet – als Ingenieurinnen und Ingenieure, Banker oder Journalistinnen, wie die Autorin.

Oder als Comiczeichner, wie mein reizender Kollege Pablo. Pablo hat bildende Kunst an der Universität im spanischen Valencia studiert, er spricht akzent- und fehlerfrei Deutsch, fließend Spanisch und zeichnet lange, komplexe Bildergeschichten mit vielen überraschenden Details. Alles Dinge, von denen Schülerinnen und Schüler profitieren können. Manchmal kann anerkannte Könnerschaft magische Momente erzeugen.

Neulich zum Beispiel habe ich ein paar davon miterlebt. Ich sortierte unsere kleine Klassenbibliothek, während Pablo ein paar Gesichter an die Tafel zeichnete. Auf Zuruf. „Ein wütendes Gesicht!“, „Nein, Herr Zapatero, lieber ein Mädchen, das sich freut!“ Die Jungs und Mädels überschlugen sich mit immer neuen Wünschen. Pablos Kreidestriche flitzten mühelos über die Tafel.

Meine Sechstklässler waren restlos begeistert. So wie es im alltäglichen Unterricht fast nie gelingt. Und diese Begeisterung nahmen sie tatsächlich mit in ihre eigenen Versuche, zu zeichnen.

Meine Sechstklässler waren restlos begeistert. So wie es im alltäglichen Unterricht fast nie gelingt. Und diese Begeisterung nahmen sie tatsächlich mit in ihre eigenen Versuche, zu zeichnen. Am Anfang jedenfalls. Aber je weniger ihre eigenen Versuche den rasch hingeworfenen Gesichtern des Lehrers glichen, desto mehr ließ ihr Eifer nach. „Wie machen Sie das bloß, Herr Zapatero?!“ Alyssa, unsere Klassenbeste, fand es schwer erträglich, etwas nicht hinzubekommen.

Lehren, ein Kunsthandwerk

Unterricht ist Handwerk, im besten Fall plus ein bisschen Magie und Charisma. Als Lehrerin muss ich mir genau überlegen, mit welchem Lerngegenstand ich meine Schülerinnen und Schüler konfrontiere. Und, wichtiger noch: Auf welche Frage wollen wir eine Antwort finden? Man kann halt nicht „Gesichter unterrichten“. Wohl aber die Frage: Wie zeichne ich ein Kindergesicht? Dazu muss ich mir überlegen, welche Details unbedingt notwendig sind, damit wir ein Bild als Gesicht erkennen. „Augen, Nase und Mund“ würden meine Schülerinnen und Schüler rufen. Klar, das weiß schließlich jedes Kind! Das Ergebnis würde vermutlich trotzdem grotesk aussehen. Zu große Augen, Nase und Mund zu dicht daneben.

Wie eine Unterrichtsstunde so zu planen ist, dass jedes Kind eine Antwort findet, ein Ergebnis, das es in der eigenen Lernbiografie ablegen kann, lernen Lehramtsanwärterinnen und -anwärter in Deutschland meist in anderthalb Jahren im Referendariat. Pablo muss sich das nun nebenher erarbeiten. Viele Nachmittage und Samstage wird er in Fortbildungen verbringen müssen. Für den Anfang planen wir gemeinsam Unterricht. „Was genau sollen unsere Schülerinnen und Schüler lernen?“ Pablo und ich schreiben ein extragroßes Blatt Papier mit unseren Ideen voll: „Sie sollen die Angst verlieren, dass ihr Bild ‚nicht richtig‘ aussieht“, „Tricks und Kniffe“, „Gefühle: Wut, Überraschung, Freude, Liebe, Angst zeichnen können“, „Gefühl für Proportionen“, „Hilfslinien“.

Für den Anfang werden die Schülerinnen und Schüler Eier zeichnen

Das Gute am Brainstorming zu zweit ist: Die Ideen fliegen nur so hin und her. Und: Pablos Erfahrungen mit der Arbeit in kreativen Teams bringen frischen Wind in die Sache. Wir verteilen unsere Ideen auf mehrere Unterrichtsstunden. Dann überlegen wir, wie das jeweilige Ziel erreicht werden kann. Pablo fällt ein Trick aus dem Studium ein: Mit links zu zeichnen gibt einem unmittelbar das Gefühl, nichts mehr zu können. Wir versuchen es beide. Das hilft uns bei der Suche nach Techniken, wie wir unsere Unzulänglichkeiten überwinden können.

Für den Anfang werden Pablos Schüler Eier zeichnen. Sie haben richtig gelesen: Eier. Die sehen menschlichen Gesichtern in der Grundform nämlich erstaunlich ähnlich, zeigt mir Pablo. Im nächsten Schritt sollen unsere Schülerinnen und ihre Klassenkameraden sich auf einer von Pablos Zeichnungen anschauen, wo im Gesicht Augen, Nase und Mund zu finden sind. Dafür zeichnet Pablo ein Arbeitsblatt: ein Gesicht, in dem nur die wichtigsten Details zu erkennen sind. Aufgaben: Finde heraus, wie weit die Augen vom Haaransatz entfernt sind. Wie nah stehen die Augen beieinander? Wo ist die Nase? Und wie weit davon entfernt der Mund?

Mit ihren Antworten können die Kinder vielleicht selbst Hilfslinien ziehen. Und dann irgendwann ein eigenes Gesicht zeichnen. Eines, das jedenfalls „gut genug“ ist. Dafür hat Pablo ebenfalls einen Trick parat: Goofy und Lucky Luke sind schließlich auch nicht schön. Jede Schülerzeichnung soll einen eigenen Namen und ein paar Charaktereigenschaften bekommen, die zu ihren Unzulänglichkeiten passen.

Trockenes Handwerk eines Comiczeichners. Aber so wird’s auch wieder was mit der Magie.

 

Zur Person

  • Ulrike Ammermann ist Journalistin und Lehrerin.
  • In Münster und Lyon hat sie Germanistik und Geschichte studiert. Nach ihrem Volontariat beim Deutschen Fachverlag arbeitete sie viele Jahre lang für die internationale Reisepresse. Außerdem ist sie Autorin mehrerer Reisebücher, von Reportagen und Berichten für verschiedene Magazine.
  • Wenn sie gerade nicht an Texten arbeitet, begleitet sie an einer Hamburger Stadtteilschule Jugendliche beim Erlernen der französischen Sprache. Außerdem unterrichtet sie die Fächer Geschichte, Deutsch und PGW (Politik, Gesellschaft, Wirtschaft).
  • Sie lebt mit Mann und Kind in Hamburg.