Kolumne

Neues Schuljahr : Mehr Freiheit wagen!

Netzlehrer und Schulportal-Kolumnist Bob Blume wünscht sich, dass Schulen angesichts der Defizite durch die Corona-Pandemie im kommenden Schuljahr individuelle Lösungen finden können, statt den Stoff durchpeitschen zu müssen. Lehrkräfte brauchen Zeit und Freiheit, um tatsächlich auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingehen zu können.

Bob Blume
Eine Mädchen klettert auf einer Kletterspinne
Schulen brauchen Zeit für Zeit für Wertschätzung, Zeit für Unterstützung, Zeit für behutsame Förderung. Zeit für Sport, für Bewegung, für gemeinschaftliche Aktionen.
©DEEPOL by plainpicture/Javier Sánchez Mingorance

Mit der schieren Anzahl von Antworten, die ich kürzlich auf einen Tweet bekam, könnte man eine neue Schule gründen. Eine Schule, die auf Empathie, Miteinander und Kreativität beruht und in der es nicht in erster Linie darum geht, so schnell es geht dem Stoff nachzujagen. Eine Utopie, die gerade dringend benötigt wird, denn das nächste Schuljahr steht bereits vor der Tür. Und es droht eine schon jetzt von der Politik ausgerufene „Normalität“, die es nicht gibt. Und nicht geben kann.

In dem Tweet fragte ich meine Follower, was aus ihrer Sicht – aus der Sicht von Lehrerinnen und Lehrern, die die jüngsten eineinhalb Schuljahre miterlebt haben – alles aus den Augen verloren wurde. Spoiler-Alarm: Der Schulstoff ist es nicht!

Es würde Seiten füllen, die Antworten aufzulisten. Auf Twitter gab es satte 100 Kommentare, weitere 200 auf Instagram. Stichworte, die die Forderungen und Wünsche der Kolleginnen und Kollegen beschreiben, waren: „mehr Partizipation der Schülerinnen und Schüler“, „Teilhabe“, „Bildungsgerechtigkeit“, „sozialer Austausch“, „Forschungsmöglichkeiten“, „kleinere Lerngruppen“, „Stärkung der Klassengemeinschaft“, „Bewegung“, „Spiele“, „Ausflüge“, „Teamarbeit“, „Miteinander“ – oder, kurz auf den Punkt gebracht: „Das pädagogische Handeln sollte im Mittelpunkt stehen.“

Es geht nicht um Druck, sondern um Möglichkeiten, loszulassen

Es wird wenig verwundern, dass all diese Dinge nicht in der Schule geprüft werden – oder vielmehr nicht geprüft werden können. Es geht nicht um Selektion, sondern um das gemeinsame Erlebnis. Es geht nicht um Druck, sondern um Möglichkeiten, loszulassen.

Oder, um es noch deutlicher zu machen und eine Antwort einzufügen, die zahlreich wiederholt wurde: Es geht um Zeit und Freiheit.

Zeit und Freiheit, das zu tun, was in den vergangenen Monaten tatsächlich zu kurz gekommen ist. Ja, es gibt sie, die nebulösen Lernlücken. Aber wie könnten wir überhaupt diagnostizieren, wo diese liegen, wenn wir nicht behutsam und aufmerksam ins Gespräch darüber kommen, wo die Schülerinnen und Schüler selbst die eigenen Defizite sehen? Was in den Monaten der Pandemie so vielen verloren gegangen ist, ist weniger das Wissen über eine grammatikalische Konstruktion, sondern das gemeinsame Erlebnis. Das Lachen und Schäkern und Miteinander-Reden.

Wenn es tatsächlich um die Kinder und Jugendlichen gehen soll und deren Bildung so wichtig ist, wie es in politischen Statements der jüngsten Zeit immer heißt, dann kann dies nur bedeuten, dass es weniger um Stoff und mehr um Freiheit gehen muss.

Wir brauchen Zeit, wieder zusammenwachsen zu können. Wenn es tatsächlich um die Kinder und Jugendlichen gehen soll und deren Bildung so wichtig ist, wie es in politischen Statements der jüngsten Zeit immer heißt, dann kann dies nur bedeuten, dass es weniger um Stoff und mehr um Freiheit gehen muss. Und um Zeit. Zeit für Wertschätzung, Zeit für Unterstützung, Zeit für behutsame Förderung. Zeit für Sport, für Bewegung, für gemeinschaftliche Aktionen. Und diese Liste ließe sich ewig fortführen.

Was wir nicht brauchen: dass alles wird wie zuvor. Oder, schlimmer: das Gleiche wie vorher, nur mit doppelter Belastung.

Schulen brauchen individuelle Lösungen statt allgemeingültige Verordnungen

In den Monaten der Pandemie haben wir gesehen, wie Standardlösungen und allgemeingültige Verordnungen dazu führen, dass Schulen immer mehr in ihrer Freiheit eingeschränkt wurden, kreative Lösungen anzubieten. Selbst wenn diese sinnvoll und sogar für andere inspirierend waren, wurden die Schulen nicht selten zurückgepfiffen. Individuelle Lösungen waren immer nur dann willkommen, wenn es um eine Umsetzung gehen sollte, die Wege zwischen Ver- und Geboten skizzieren konnten. Diese sollten dann natürlich ohne Unterstützung selbst erdacht werden. Schulen brauchen nun aber das Gegenteil davon: maximale Freiheit für individuelle Lösungen.

Im nächsten Schuljahr brauchen wir Zeit, in der es nicht darum gehen kann, den „Stoff durchzupeitschen“, damit der Vorstrukturierung des Schulbuchs Genüge getan ist. Wir brauchen Zeit, in der wir in die Tiefe und Breite gehen können, statt Fähigkeiten zu simulieren, die dann abgeprüft werden können.

„Zeit“ ist ein abstrakter Begriff. Im schulischen Umfeld bestimmt Zeit die Freiheit, als Lehrkraft  oder Schulgemeinschaft das zu tun, was notwendig, wichtig und geboten ist. Aus Freiheit erwächst Verantwortung für das eigene Handeln, denn erst dann kann verstanden werden, was wichtig ist und warum. Erst so kann ausprobiert und experimentiert werden. Das ist der Grund, warum Freiheit auch für Schülerinnen und Schüler so nötig ist.

Wenn jede und jeder die Freiheit hat, sich im Miteinander der Schule auszuprobieren, kann gelernt werden. Ohne Prüfungen! Ohne Noten! Ohne Druck!

Das Gegenteil von Freiheit ist Unfreiheit. Das ist trivial. Diese Unfreiheit zeigte sich in den vergangenen Jahren – auch schon vor der Pandemie – an jenen immer mehr und immer kurzfristiger auf die Lehrkräfte niedergegangenen Regeln und Verordnungen. Nicht wenige von ihnen hatten das Gefühl, dass über sie verfügt wurde. Dass sie keine Mitsprache hatten. Dass sie nicht so agieren konnten, wie sie wollten, weil es eine Regel gab, die es untersagte.

Und die Regeln selbst waren oftmals nicht nachvollziehbar. Man wird das Gefühl nicht los, dass die Freiheit, die viele im ersten Lockdown spürten, als noch nicht alles reglementiert war, und später das Gegenteil von Freiheit – das durchstrukturierte, enge Korsett – viele zum Nachdenken gebracht haben. Und das wurde zu einem explosiven Gemisch, das sich oftmals in den sozialen Medien Bahn brach.

Etwas tun zu müssen, von dem man weiß, dass es falsch ist, und nicht zu verstehen, warum. So entstehen Wut, Misstrauen und Frustration. Man mag das für übertrieben halten, aber nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer konnten und können nicht mehr. Wollen nicht mehr. Sie haben die Zielsetzung einer nicht näher definierten „Normalität“ satt.  Ganz so, als gebe es Corona gar nicht mehr oder als könne Corona durch einen Wink des Kultusministeriums auf die stille Treppe verbannt werden. Wieder einmal!

Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler ernst nehmen

Es zeichnet sich ab, dass im kommenden Jahr wieder der gleiche Fehler gemacht wird wie im Sommer 2020. Damals hatten Virologen und Pandemieexperten davor gewarnt, dass Corona im Herbst zurückkommen werde. Sie wurden ignoriert – die Konzepte blieben aus.

Und, Überraschung!, Corona kam zurück. Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler und Eltern werden sich wohl lange an diese Zeit erinnern. Das ewige Hin und Her zwischen Präsenz, Wechselunterricht und Fernunterricht. Immer wieder neue Regeln und Maßnahmen. Der Ministerpräsident sagt das eine, die Kultusministerin das andere. In jedem Bundesland unterschiedlich.

Und dazwischen säuseln die politisch Verantwortlichen etwas davon, dass das alles zum Wohle der Schülerinnen und Schüler geschehe. Ist das so? Geht es tatsächlich um das Wohl der Schülerinnen und Schüler?

Wenn dem so sein sollte, wenn dem wirklich so ist, dann wird es Zeit dafür, dass Schulen mehr Freiheit wagen. Aber das ist eigentlich falsch formuliert. Dass Schulen Freiheit wagen können. Oder dürfen. Dass über sie und ihre Kollegien, insbesondere über die Schulleitungen, nicht verfügt wird. Dass sie befragt und ernst genommen werden.

Und dass wir Lehrkräfte uns den Schülerinnen und Schülern widmen können. Jenen jungen Menschen, die allzu lange, ohne zu murren, alles in Kauf genommen haben, was ihnen abverlangt worden ist. Schülerinnen und Schüler haben es verdient, dass man ihre Bedürfnisse endlich ernst nimmt.

Im nächsten Schuljahr könnten wir mehr Freiheit wagen. Man muss uns nur lassen.

Zur Person

  • Bob Blume ist Oberstudienrat am Windeck-Gymnasium im baden-württembergischen Bühl und unterrichtet die Fächer Englisch, Deutsch und Geschichte. Zuvor arbeitete er an einer Realschule im Schwarzwald. 
  • Neben seiner Arbeit als Lehrer betreibt er einen Youtube-Kanalund einen Blog, in dem er über die Herausforderungen des Referendariats, die Chancen der Digitalisierung und politische Themen schreibt. 
  • Als „Netzlehrer“ ist er auf  Twitter  unterwegs und betreibt auch einen Podcast mit diesem Namen. Nebenher publiziert er für Zeitungen und veröffentlicht Texte in verschiedenen Online-Magazinen – wenn er nicht mit seiner Tochter und seiner Frau das Leben in den Offenburger Weinbergen genießt.