Kolumne

Kreidestaub : Wieso im Studium der Blick in die Praxis so wichtig ist

Das Lehramtsstudium enthält nur wenige praktische Anteile. Mit vielen Fragen und Herausforderungen werden angehende Lehrerinnen und Lehrer erst konfrontiert, wenn sie selbst an einer Schule arbeiten. Studierende sehen das als Manko, weil sie sich auch schon während des Studiums mit Schulentwicklungsprozessen auseinandersetzen möchten. Die studentische Initiative „Kreidestaub“ will hier gegensteuern. Mit praktisch orientierten Projekten ermöglicht sie Studentinnen und Studenten Einblicke in die Arbeit von Schulen. Dazu gehört das Format „Lernreise“, bei dem Lehramtsstudierende jedes Semester durch Deutschland reisen, verschiedene Schulen besuchen und sich deren Arbeit genauer ansehen. Die Berliner Lehramtsstudentin Hanin Ibrahim war bei einer solchen Lernreise dabei und beschreibt hier, wie sie dieses Projekt erlebt und was es ihr gebracht hat. Für das Schulportal werden Mitglieder von Kreidestaub künftig regelmäßig Kolumnen schreiben und dabei Schule aus der Sicht von Studierenden betrachten.

Hanin Ibrahim
Kreidestaub Plakat
Beim Projekt „Lernreise" der Initiative Kreidestaub fahren Lehramtsstudierende in Schulen, um vor Ort zu erleben, was gute Schule ausmacht.
©Kreidestaub e.V.

Was macht gute Schule aus? Was lässt sich an schulischen Strukturen verändern? Und wie funktioniert das eigentlich: Schule entwickeln? Das sind Fragen, die mich als angehende Lehrerin auch im vorletzten Semester noch umtreiben. Fragen, die in Gesprächen mit Kommilitoninnen und Kommilitonen aufkommen, für die aber im Regelstudium kein Platz vorgesehen ist. Im Austausch hörte ich immer wieder von den „Lernreisen“ der Initiative Kreidestaub. Das klang so spannend, so empowernd, dass ich diese Erfahrung auch machen wollte. Ich lechzte förmlich danach, endlich Schulluft schnuppern zu dürfen, denn im Berliner Lehramtsbachelor ist nur ein sechswöchiges Hospitationspraktikum vorgesehen. In meinem fünften Bachelorsemester schaffte ich es dann, mir die Zeit für solch eine Lernreise freizuschaufeln.

Das Projekt hatten Studierende 2013 initiiert, um während des vorwiegend theoretischen Studiums praktische Eindrücke zu ermöglichen: Eine Gruppe von Studierenden setzt sich ein Semester lang damit auseinander, was gute Schule ausmachen könnte. Anschließend wird eine zweiwöchige Lernreise geplant und durchgeführt. Hierfür müssen Schulen herausgesucht und angefragt, eine sinnvolle Reiseroute zurechtgelegt, der Transport geklärt und Übernachtungsmöglichkeiten gefunden werden – all das mit möglichst wenigen finanziellen Ausgaben. Während der Schulbesuche werden Gespräche mit Schulangehörigen geführt. Jeder Termin wird dabei vor- und nachbereitet, und nach der Lernreise treffen sich unterschiedliche Gruppen, die im selben Semester unterwegs waren, tauschen sich aus und reflektieren ihre Erlebnisse.

Es geht ja vor allem darum, einen Perspektivwechsel vorzunehmen und eigene Vorstellungen zu hinterfragen.

Inzwischen gehen jedes Semester Studierende aus deutschlandweit 18 Standorten auf Lernreise. Sie sprechen mit unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren des Schulsystems, die auf dem Campus nicht anzutreffen sind, und stellen die Fragen, die an der Universität keinen Raum finden. Sie suchen gemeinsam nach Antworten und sehen, wie Schule anders funktionieren kann.

Wir waren zehn Studierende in meiner Lernreisegruppe und trafen uns alle zwei Wochen freitags für vier Stunden in der Uni. Als wir uns damit beschäftigten, was staatliche von privaten Schulen unterscheidet und was „Montessori“ oder „Waldorf“ bedeutet, stellte ich fest, wie wenig ich eigentlich über Schule wusste. Ich erfuhr, dass es Schulnetzwerke und Schulpreise gibt, und mir tat sich eine ganz neue Welt auf. Sechs unterschiedliche Schulen in vier Bundesländern konnten wir für unser Vorhaben begeistern:  Mit zwei voll bepackten Autos ging es von Berlin aus nach Essen, Münster, Bielefeld, Sylt, Rostock und zuletzt nach Beeskow.

Kreidestaub Zettel auf dem Tisch
Bei der Lernreise geht es auch darum herauszufinden, wie Schulentwicklungsprozesse ablaufen.
©Kreidestaub e.V.

Für jede Schule war ein Tag eingeplant, der meist mit einem Gespräch mit der Leitung begann und nach Hospitationen mit einer Nachbesprechung endete. Vor der Reise war ich ein wenig skeptisch, ob solch ein kurzer Besuch genug Aussagekraft hat. Aber man bekommt schon an dem einen Tag viel mit. Und es geht ja vor allem darum, einen Perspektivwechsel vorzunehmen und eigene Vorstellungen zu hinterfragen. Der Fokus liegt bei den Lernreisen darauf, Schule als pädagogische Handlungseinheit zu begreifen. Welche Eckpfeiler des Schulkonzepts sind im Schulalltag sichtbar? Wie laufen Schulentwicklungsprozesse ab, und wer darf dabei partizipieren? Wir besuchten eine Grundschule mit Inklusionsschwerpunkt, eine Montessorischule und eine Werkstattschule in privater Trägerschaft, eine Laborschule, eine staatliche Gesamtschule und ein staatliches Gymnasium.

Schule muss nicht so aussehen, wie ich sie als Schülerin erlebt habe.

Gleich an unserer ersten Station wurde mir eine Dimension von Schule bewusst, die mir vorher nie als besonders relevant erschienen war: die Architektur. Für jede der Schulen hielt ich fest, was für Räume es gab und wie sie aussahen. Ich hatte vorher nie Schulen gesehen, an denen es mehrere oder offene Lehrerzimmer gab. Ich hatte noch nie etwas von „Trainings-“ oder „Snoezelenräumen“ gehört, ehe ich davorstand. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass Klassenräume nicht zwingend durch Wände voneinander getrennt sein müssen. Mir erschloss sich, welche Strukturen durch Räumlichkeiten vorgegeben und dadurch erst ermöglicht werden. Wieso gibt es in vielen Schulgebäuden so wenige Bänke? Wo kann gemeinsam geübt werden? Für selbstständiges Lernen braucht es Sitzgelegenheiten auch außerhalb der Klassenräume. Für einen gleichberechtigten Austausch braucht es flexibel anzuordnende Sitzelemente. Themenräume ermöglichen projektbezogenes statt allein auf Fächer ausgerichtetes Lernen.

Die Reise gab uns Einblicke in die Möglichkeiten und die Grenzen schulischer Organisation. Wir hörten, wie eine Schule vor dem Aus gestanden hatte und dass das Kollegium durch Zusammenhalt und Engagement die Erarbeitung und Umsetzung eines neuen pädagogischen Lernkonzepts erreichen konnte. Wir sahen Schulen, die so gestaltet waren, dass Kindern mit unterschiedlichsten Bedürfnissen gemeinsames Lernen ermöglicht wurde. Es waren nicht in erster Linie die Lehrpläne, sondern die Lernenden, die im Mittelpunkt standen.

Durch die Lernreise konnte ich mir Wissen aneignen, das mir sonst verborgen geblieben wäre.

Schule muss nicht so aussehen, wie ich sie als Schülerin erlebt habe. Um nicht einfach die eigenen Erfahrungen zu reproduzieren, sind Einblicke in verschiedene Schulen unverzichtbar. Schule geht anders, wenn Kollegium und Leitung das wollen. Wie will ich als Lehrerin (nicht) sein? Wie kann Schule gestaltet werden? Was für Fächer sind umsetzbar? Lernreisen regen dazu an, den gedanklichen Rahmen zu sprengen. Deshalb sind sie so wertvoll.

Durch die Lernreise konnte ich mir Wissen aneignen, das mir sonst verborgen geblieben wäre. Dieses Wissen, die Möglichkeiten, Fragen zu stellen, Schulkonzepte zu besprechen und deren Umsetzung zu sehen, sich mit den eigenen Vorstellungen und Haltungen auseinanderzusetzen, all das sollte nicht das Resultat unbezahlter ehrenamtlicher Arbeit oder das Privileg derjenigen Studierenden sein, die neben Uni und Hilfskraftstelle Zeit dafür finden. Es sollte Bestandteil des regulären Lehramtsstudiums sein, damit mehr Lehrerinnen und Lehrer sich trauen, Schule anders zu denken.

Zur Person

  • Hanin Ibrahim ist Lehramtsstudentin an der Freien Universität Berlin. Sie schreibt seit Januar 2020 den Newsletter der Initiative Kreidestaub und hat dort 2019 das Format „Themenstunden“ mit ins Leben gerufen. Bei dem Format bieten externe Expertinnen und Experten ein- bis zweitägige Workshops zu bildungspolitisch relevanten Themen an, die im Studium bislang fehlen.

Zu Kreidestaub

  • Kreidestaub e. V. ist eine deutschlandweite studentische Initiative mit Sitz in Berlin. Ihr Ziel ist die Verbesserung der Lehrkräftebildung. Seit 2013 vernetzt sie junge Menschen, die den Anspruch haben, „gute Schule” zu machen. Sie entwickelt und initiiert vor allem praktisch orientierte Projekte, durch die die Lehrkräftebildung wirkungsvoll ergänzt werden kann.
  • Die Lernreise ist eines dieser Projekte, „Let’s Play Schule“ ein anderes. Dabei führen Lehramtsstudierende an einer Schule eine Projektwoche zu den UN-Nachhaltigkeitszielen durch, während das Kollegium sich in dieser Zeit der Schulentwicklung widmet. Weitere Formate behandeln Themenkomplexe wie Inklusion oder pädagogische Haltung.