Kolumne

Vertretungslehrkräfte : Lehramtsstudierende – die Rettung in der Pandemie?

Nach dem zweiten Corona-Lockdown gibt es an den meisten Schulen erst einmal Wechselunterricht mit geteilten Klassen. Um aber gleichzeitig eine Lerngruppe im Präsenzunterricht und die andere beim Lernen zu Hause zu betreuen, reicht das Personal an den Schulen meist nicht aus. In der Not werden Lehramtsstudierende an Schulen als Vertretungslehrkräfte ins Spiel gebracht. Klingt theoretisch nach einer guten Lösung: Die Schulen bekommen zusätzliches Personal, die Studierenden sammeln wichtige Praxiserfahrungen. Und wie sieht es in der Realität aus? Hanin Ibrahim und Claudius Baumann, zwei Lehramtsstudierende aus Berlin, die zur studentischen Initiative „Kreidestaub“ gehören, sehen das Modell in ihrer Kolumne eher kritisch. Für das Schulportal schreiben Mitglieder von Kreidestaub regelmäßig Kolumnen, in denen sie Schule aus der Sicht von Studierenden betrachten.

Hanin Ibrahim und Claudius Baumann
Lehramtsstudierende an Schulen Puzzleteile, die nicht zusammenpassen
In der Corona-Pandemie Lehramtsstudierende an Schulen zu schicken, passt nur, wenn sie bei ihren Aufgaben auch gut betreut werden.
©Getty Images

Bald nach Beginn der Corona-Pandemie im vergangenen Jahr wurde der Ruf nach kleineren Lerngruppen und Wechselunterricht in Schulen laut. So sollte das Ansteckungsrisiko verringert und eine Rückkehr zum Präsenzunterricht ermöglicht werden. Auch jetzt ist dieser Ruf wieder zu hören. Allerdings ist das Szenario des Wechselunterrichts schwierig umzusetzen. Der Grund: Es gibt nicht genügend pädagogisches Personal. Der Lehrkräftemangel zeigte sich schon vor der Corona-Krise an vielen Schulen deutlich, und nun sind zusätzlich diejenigen Lehrkräfte, die selbst zur Risikogruppe gehören, vom Unterrichten in Präsenz freigestellt.

Nun wird eine Personengruppe ins Spiel gebracht, die in Berlin schon seit Jahren als Helferinnen und Helfer in der Not im Rahmen der sogenannten Personalkostenbudgetierung, kurz PKB, umworben und eingesetzt wird: Lehramtsstudierende. Eine Option, die häufig als Win-win-Situation beschrieben wird: Lehramtsstudierende bekämen einen Praxisbezug, den sie in der Ausbildung oft vermissen, und die Schulen würden mit motiviertem und flexibel einsetzbarem Personal versorgt.

Lehramtsstudierende an Schulen – eine Win-win-Situation?

Auf den zweiten Blick werden jedoch Schwierigkeiten sichtbar, die wir aus unserer Perspektive als Berliner Lehramtsstudierende in folgenden Bereichen sehen:

Pandemiebedingt verloren zwar viele (Lehramts-)Studierende ihre Nebenjobs, und einige wären sicher dankbar über eine solche kurzfristige Verdienstmöglichkeit. Die Besetzung von Vertretungsstellen an Schulen sollte jedoch nicht einfach nur aus der finanziellen Not heraus erfolgen – vielmehr wäre hier der Staat gefordert, Studierende in dieser ohnehin herausfordernden Situation stärker finanziell zu unterstützen.

Für Schülerinnen und Schüler ist es sicherlich vorteilhaft, wenn ihnen der Einsatz von Studierenden Präsenzunterricht im Wechselmodell ermöglicht. Aber es muss auch die Frage nach der Qualität gestellt werden.

Besonders für Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger ist das komplexe Zusammenspiel aus fachlicher, fachdidaktischer und pädagogischer Planung und Durchführung von Unterricht mit hohem zeitlichen Aufwand und Unsicherheiten verbunden. Bei der Übernahme von Vertretungsstunden kommen weitere Herausforderungen hinzu, die die Studierenden binnen kürzester Zeit selbstständig angehen müssen. Sie kennen weder das Kollegium noch die Lerngruppe und müssen sich in die Abläufe an der Schule erst einarbeiten.

Ein solcher Unterricht bietet aber weder den Schülerinnen und Schülern einen Mehrwert noch ergänzt er das Lehramtsstudium um sinnvolle Praxiserfahrungen, da Begleitung und Reflexion gar nicht vorgesehen sind.

Häufig bekommen die Studierenden – zumindest unserer Erfahrung nach – kaum Informationen zu der Klasse, insbesondere zu pädagogischen Förderbedarfen, zum Kompetenzniveau oder zum thematischen Stand. Das Unterrichten findet ins Blaue hinein statt. Ein solcher Unterricht bietet aber weder den Schülerinnen und Schülern einen Mehrwert noch ergänzt er das Lehramtsstudium um sinnvolle Praxiserfahrungen, da Begleitung und Reflexion gar nicht vorgesehen sind.

Praxiserfahrungen brauchen Begleitung und Reflexion

Denn wenn Studierende mehr Praxisbezug für ihre Ausbildung fordern, ist damit nicht einfach irgendeine Tätigkeit in einem pädagogischen Kontext gemeint, sondern eine reflektierte Theorie-Praxis-Verzahnung. Das bedeutet, dass die Praxiserfahrungen vorbereitet, begleitet und nachbereitet werden müssen. So geschieht das beispielsweise im Praxissemester in Berlin, das wir gerade absolviert haben.

Wir waren sehr dankbar für unsere Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner an Uni und Schule bei der Planung und Durchführung unseres Unterrichts. Ohne jegliche Begleitung laufen Praxiserfahrungen während des Studiums jedoch Gefahr, reiner Selbstzweck zu werden. Wie nachhaltig ein solcher Beitrag für eine Professionalisierung der Lehramtsstudierenden ist, ist fraglich.

Die Begleitung der Studierenden ist ein Mehraufwand für das Kollegium

Wenn Lehramtsstudierende an Schulen als Helferinnen und Helfer in der Not arbeiten sollen, ist wenigstens eine rudimentäre Einführung in die schulinterne Organisation notwendig: ein Briefing zu schulischen Abläufen, die Teilhabe an schulinterner Infrastruktur – zum Beispiel durch ein Fach im Lehrerzimmer –, der Zugang zu digitalen Strukturen und Informationen zur Lerngruppe. Und sie müssen eine Ansprechperson haben, die sich wirklich zuständig fühlt. All das wäre für einen erfolgreichen Start und das Funktionieren der Nothilfe essenziell. Dabei muss aber klar sein: Diese Punkte bedeuten für die ohnehin von Überlastung geplagten Kollegien erst einmal einen Mehraufwand.

Unterm Strich bleibt von den vermeintlichen Vorteilen also nicht viel übrig: Der kurzfristige Einsatz von Studierenden als Lehrpersonal ist nur in Ausnahmefällen eine Win-win-Situation. Auch wenn die Corona-Pandemie kreative Lösungen erfordert, kann dieser Einsatz nur eine kurzfristige Antwort auf die Notsituation, aber keine wirkungsvolle Ergänzung der Ausbildung oder gar eine gelungene Theorie-Praxis-Verknüpfung sein.

Zur Person

Hanin Ibrahim
Lehramtsstudentin Hanin Ibrahim
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Claudius Baumann ist Lehramtsstudent an der Freien Universität Berlin. Er engagiert sich seit Ende 2017 für den Standort Berlin-Potsdam von Kreidestaub und hat zusammen mit Anne Wilke das Projekt Beziehung entwickelt. Er ist außerdem in verschiedenen strukturgebenden Arbeitsgruppen aktiv und Teil des Organisationsteams des Lehramtsfestivals.

Hanin Ibrahim ist Lehramtsstudentin an der Freien Universität Berlin. Sie schreibt seit Januar 2020 den Newsletter der Initiative „Kreidestaub“ und hat dort 2019 das Format „Themenstunden“ mit ins Leben gerufen. Bei dem Format bieten externe Expertinnen und Experten ein- bis zweitägige Workshops zu bildungspolitisch relevanten Themen an, die im Studium bislang fehlen.

Claudius Baumann
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Kreidestaub e.V. ist eine deutschlandweite studentische Initiative mit Sitz in Berlin. Ihr Ziel ist die Verbesserung der Lehrkräftebildung. Seit 2013 vernetzt sie junge Menschen, die den Anspruch haben, „gute Schule“ zu machen. Sie entwickelt und initiiert vor allem praktisch orientierte Projekte, durch die die Lehrkräftebildung wirkungsvoll ergänzt werden kann.