Kolumne

Medienkompetenz : Computerspiele – nur Unterhaltung oder auch pädagogisch relevant?

Im Alltag der Schüler:innen haben sich längst Begriffe wie „cheaten“ (schummeln) oder „sus“ (suspekt) etabliert – Begriffe aus der Spielewelt. Dies zeigt, wie tief Gaming bereits mit der Jugendkultur verwurzelt ist und sich zum festen Bestandteil des Alltags der Heranwachsenden entwickelt hat. Zwei Studierende der Initiative „Kreidestaub“, Maren Hahn und Thorsten Fahrbach, sind keine Gamer:innen. Sie finden es aber wichtig, dass sich Lehrkräfte für diese digitale Welt öffnen und darin auch für den schulischen Kontext einen Mehrwert entdecken. Für das Schulportal schreiben Mitglieder:innen von Kreidestaub regelmäßig Kolumnen und betrachten dabei Schule aus der Sicht von Studierenden.

Thorsten Fahrbach und Maren Hahn
Mädchen vor iPad, auf dem Display Computerspiele
Computerspiele haben einen zweifelhaften Ruf. Aber können Kinder über Gaming auch Kompetenzen aufbauen?
©iStock

Bei dem immensen Konsum der neuen Medien, „kann man von Kindern nicht erwarten, dass sie aufpassen oder sich auf langweilige Schulfächer konzentrieren, wenn ihr Nervensystem überreizt ist, ihr Geist durch gesunden Schlaf nicht erfrischt wird, ihre Verdauung gestört ist“. So beschrieb die Kinderärztin Mary Preston im Jahre 1941 die Folgen des Konsums von Radiosendungen.

Heute befinden sich zwar kaum noch Radios in den Zimmern von Kindern und Jugendlichen, dafür haben nach Ansicht mancher Pädagog:innen neue Schreckgespenster in den Alltag Heranwachsender gefunden: Games.

Schon lange sind Computerspiele nicht mehr an den PC gebunden – für die Gaming-Branche hat sich der App-Markt mittlerweile als das mit Abstand lukrativste Geschäft etabliert. Dabei kann auch nicht mehr vom Gamer als dem klischeehaft männlichen, introvertierten Problemschüler gesprochen werden. Mehr als 80 Prozent der Jugendlichen aller Geschlechter geben an, mindestens einmal pro Woche ein digitales Spiel zu nutzen. Gaming ist längst im Alltag und in der Lebensrealität aller Jugendlichen angekommen.

Pädagogische und didaktische Potenziale von Computerspielen entdecken

Viele Schulen verschließen sich jedoch dieser Lebenswelt. Wenn das Thema Gaming aufkommt, ist schnell die Rede von „Killer-Games“ – zu denen jedoch bis heute keine klare Studienlage existiert. Und auch das Suchtpotenzial von Games steht oft im Fokus von Eltern und Lehrkräften. Dieses kann für manche Schüler:innen ein reales Problem sein, aber man sollte Games nicht darauf reduzieren, und Schule sollte sich auch anderen Perspektiven öffnen. Daher bietet der Verein Kreidestaub Bodensee e. V. seit 2020 das studentisch selbst organisierte Seminar „EduGaming – Zocken für den Unterricht“ an der Universität Konstanz an.

Im Rahmen des Seminars erarbeiten Lehramtsstudierende aller Fächer die pädagogischen und didaktischen Potenziale digitaler Spiele. Auf der einen Seite wird dabei der Pool an didaktischen Werkzeugen mit einem neuen Medium erweitert, und wir erhoffen uns, so die Aufmerksamkeit der Schüler:innen gewinnen zu können. Zum anderen will das Seminar auch dafür sensibilisieren, welche Bedeutung die digitale Welt für die Kinder und Jugendlichen hat und welche Kompetenzen sie durch Computerspiele auch erlangen können.

Gerade in der Pandemie förderten Computerspiele den Austausch zwischen Schüler:innen

Während der Schulschließungen durch die Corona-Pandemie war es Eltern und Pädagog:innen wichtig, trotz des Distanzunterrichts auch die sozialen Kompetenzen der Schüler:innen weiterhin zu fördern. Sicherlich gelang dies auch vielen Lehrkräften. Die Kinder und Jugendlichen fanden daneben ihren ganz eigenen Weg, um im sozialen Austausch miteinander zu bleiben, zum Beispiel mit dem Spiel „Among Us“. In diesem Spiel geht es darum, durch gemeinsame Diskussionen den Verräter auf einer Raumstation zu identifizieren. An vielen Schulen organisierten sich die Schüler:innen selbstständig über die Kommunikationsplattform „Discord, um diese digitale Abwandlung des Spieleklassikers „Werwölfe“ gemeinsam zu spielen, und stärkten so ihre sozialen und kommunikativen Kompetenzen auch über die Distanz hinweg.

Spiele bieten neue Möglichkeiten, sich in der eigenen Findungsphase auszuprobieren.

Jugendliche sind seit jeher auf der Suche nach ihrer Identität und nutzen Medien, um sich Orientierung zu verschaffen. Über Jahrhunderte hinweg und bis heute boten und bieten Bücher Inspiration, den eigenen Horizont zu erweitern. Computerspiele bieten aber neue Möglichkeiten, sich in der eigenen Findungsphase auszuprobieren.

Die Spielenden tauchen in eine Welt ein, bewegen sich darin, treffen Entscheidungen und sind autonom und frei. Sie können bauen, handeln, zeichnen, fahren, fischen, fliegen, erfinden, entdecken und vieles mehr. In Games wie „Civilization“ oder „Age of Empires“ führt man eine historische Nation durch die Menschheitsgeschichte, und das kann dazu anregen, später einmal Geschichte zu studieren.

Über Avatare können Kinder und Jugendliche in neue Rollen schlüpfen

In der freien Klötzchenwelt von „Minecraft“ kann man sich ebenso als Gärtner:in und Tierzüchter:in versuchen wie auch in komplexen Stromkreisläufen seine Begeisterung für Elektronik und Physik entdecken. Der selbst erstellte Avatar im Game muss nicht dem eigenen biologischen Geschlecht entsprechen. Und in Lebenssimulationen wie „Sims“ können Biografien außerhalb der Norm ausprobiert werden. Dabei bietet das Handeln in der digitalen Welt einen Schutzraum, in dem die Jugendlichen sich entfalten können, ohne dass Konsequenzen drohen.

Als wir 2015 unser Abitur ablegten, wurde die Englisch-Prüfung reformiert. Mit einem Film neben der Pflichtlektüre sollten die Analyse- und Interpretationskompetenzen ins 21. Jahrhundert geholt werden. Damit fand der Film nicht mehr nur als Lückenfüller vor den Sommerferien seinen Weg in den Unterricht. Schon lange nutzen Deutsch-Lehrkräfte die Texte von Songs aus den Charts, und in der bildenden Kunst sind moderne Architektur und popkulturelle Werke fester Bestandteil des Curriculums.

Hinter vielen Games stehen Menschen, die für ihre Arbeit brennen und etwas Neues schaffen wollen. Menschen, die sich über die Geschichte, die Steuerung, das Design, die Musik und vieles mehr ihre Gedanken gemacht haben. Ihre Ziele sind es, bei uns als Rezipient:innen Gefühle auszulösen und uns zum Nachdenken anzuregen. Games sind auch Kunst!

Schüler:innen müssen lernen, Qualität der Computerspiele einzuschätzen

Und genauso wie bei Romanen, Lyrik, Gemälden, Filmen, Musikstücken und vielen weiteren Bereichen müssen Schüler:innen erst einmal Kompetenzen erlernen, um die Qualität einschätzen zu können und in der Lage zu sein, das Gesamtwerk interpretieren zu können. Erst dann können sie die gestalterische Schönheit von „Ori and the Blind Forest“ erkennen, bei dem man als Schutzgeist seinen Wald behüten muss. Und die Fähigkeit, im Abenteuer-Game „Life is Strange“ die Zeit zurückdrehen zu können, kann dann dazu anregen, über die Frage nach dem freien Willen und nach den Auswirkungen von Entscheidungen nachzudenken.

Es wäre ein Fortschritt, wenn wir als Pädagog:innen nicht mehr eine Unterteilung in „gute“ Hobbys wie Musizieren, Ballett und Theaterspielen und „schlechte“ Hobbys wie das Zocken machen würden.“

Der Einsatz von Tablets allein führt nicht zu gutem E-Learning, genauso wie der Einsatz von Games nicht automatisch zu gutem, zeitgemäßem Unterricht verhilft. Und nicht an jeder Schule und in jedem Unterricht ist der Einsatz von Games möglich. Aber es wäre ein Fortschritt, wenn wir als Pädagog:innen nicht mehr eine Unterteilung in „gute“ Hobbys wie Musizieren, Ballett und Theaterspielen und „schlechte“ Hobbys wie das Zocken machen würden. Stattdessen sollten wir die Schüler:innen ernst nehmen und mit Interesse nachhaken, was sie spielen, was sie daran begeistert, und uns fragen, was sie und auch wir davon lernen können.

Zur Person

  • Thorsten Fahrbach studierte Lehramt für die Fächer Informatik, Politikwissenschaften und Mathematik in Konstanz und macht aktuell einen Masterabschluss in Schulforschung und Schulentwicklung an der Universität Tübingen. 2016 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Kreidestaub Bodensee e. V., dessen erster Vorstand er seit 2019 ist.
Maren Hahn
  • Maren Hahn studiert im Lehramtsmasterstudium an der Universität Konstanz die Fächer Englisch und Mathematik. Sie ist seit zwei Jahren studentische Mitarbeiterin im Digitalisierungsprojekt „edu 4.0“ an der Binational School of Education der Universität Konstanz. Auch sie ist außerdem im Verein Kreidestaub Bodensee e. V. tätig.
  • Maren Hahn und Thorsten Fahrbach entwickelten gemeinsam im Wintersemester 2020 das Seminar „EduGaming – Zocken für den Unterricht“ an der Universität Konstanz, das seitdem jedes Semester mit bis zu 30 Interessierten stattfindet.
  • Kreidestaub e. V. ist eine deutschlandweite studentische Initiative mit Sitz in Berlin. Ihr Ziel ist die Verbesserung der Lehrkräftebildung. Seit 2013 vernetzt sie junge Menschen, die den Anspruch haben, „gute Schule“ zu leben und auszubauen. Diese jungen Menschen entwickeln und initiieren vor allem praktisch orientierte Projekte, durch die die Lehrkräftebildung wirkungsvoll ergänzt werden kann.