Kolumne

Korrekturen : Die Qual mit dem Rotstift

Rot ist die Farbe der Lehrkräfte. In Rot streichen wir Fehler an und berechnen ihre Schwere, sodass am Ende eine Note dabei herauskommt. In Rot machen wir außerdem Verbesserungsvorschläge. Auch außerhalb von Klassenarbeitsheften und Mappen gilt: Kinder und Jugendliche müssen bemerkenswert viele Korrekturen ihres Handelns ertragen. Tut das eigentlich immer gut? Die Antwort ist: Ja. Beziehungsweise: nein, die Antwort ist jein. Oder anders formuliert: Es ist kompliziert.

eine junge Frau sitzt zu Hause am Schreibtisch über Papieren.
In vielen Fällen können digitale Tools schneller und zuverlässiger Rückmeldung geben als Korrekturen mit dem Rotstift.
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Einmal, es war schon spät in der Nacht, bin ich beim Korrigieren in Tränen ausgebrochen. Hysterische Lachtränen, um genau zu sein. Die Aufgabe der Oberschülerinnen und -schüler in der Klassenarbeit war es gewesen, Pro und Kontra einer politischen Streitfrage schriftlich abzuwägen, um abschließend zu einer begründeten Meinung zu gelangen. Zur Vorbereitung hatten wir wochenlang verschiedene Streitfragen diskutiert, Argumente gesammelt, abgewogen, welche Argumente eher stark, welche eher schwach sind. Wir hatten erarbeitet, wie stark die Anordnung der Argumente Auswirkung auf die Überzeugungskraft der ganzen Erörterung hat. Und wir hatten unter anderem erlebt, wie viel überzeugender manch trockene Überlegung wird, wenn man sie anhand eines konkreten Beispiels veranschaulicht.

Irgendetwas musste auf dem Weg vom gemeinsamen Unterricht zum Hirn dieses Schülers, nennen wir ihn Jan, verrutscht sein. Jedenfalls wollte Jan begründen, warum die Seilbahn über den Hamburger Hafen eine ganz praktische Erweiterung des Hamburger Nahverkehrs sei. Dazu erzählte er in ausufernder Detailverliebtheit von seinem Tag. Wie er morgens meist verschlief, es dann immer besonders eilig hatte, zur Schule zu kommen. Vorher esse er aber auch noch schnell sein Müsli, das vorher aber auch noch einweichen müsse, dann sei es bekömmlicher für den Magen, da lege seine Mutter großen Wert drauf. Am besten sei es natürlich, das bereits am Abend zuvor zu erledigen, aber er habe nun mal ein stressiges Leben, weshalb er das oft vergesse. Eine dreiviertel Seite Schüleralltag später erfuhr die geneigte Leserin, wie viel einfacher das Leben eines Hamburger Schülers wäre, würde diese Seilbahn über den Hafen das Hamburger HVV-Netz erweitern und so den morgendlichen Schulweg signifikant verkürzen.

Ohne diese Klassenarbeit und meinen Korrektur-Marathon von fast acht Stunden hätte ich nie erfahren, dass Jan den Tipp mit dem anschaulichen Beispiel aus dem echten Leben gründlich missverstanden hatte. Nachdem ich fertig gelacht hatte, schrieb ich ihm meinerseits einen kleinen Aufsatz unter seine Erörterung, in dem ich ihm erklärte, welchen Zweck ein Beispiel habe. Ich legte ihm detailliert dar, dass man bei aller Anschaulichkeit die Konzentrationsfähigkeit des Lesers nicht so weit überstrapazieren dürfe, dass dieser vor lauter Lebensrealität das eigentliche Argument völlig aus dem Blick verliere. Natürlich in Rot.

Positives und negatives Feedback

So ausführlich schreibe ich meinen Schülerinnen und Schülern nicht jeden Tag. Dazu fehlt mir im Schulalltag die Zeit. Aber jede Korrektur ist ein mehr oder weniger langer Brief an sie, in dem ich ihnen Feedback gebe. In Rot streiche ich das an, was sie ändern müssen, falsche Rechtschreibung oder fehlende Kommas zum Beispiel. Ich schreibe auch Formulierungsvorschläge, grammatikalische Erklärungen oder inhaltliche Erläuterungen in Rot an den Rand.

Zusätzlich nutze ich einen dicken grünen Textmarker. Mit dem markiere ich in jeder Klassenarbeit Passagen, die gelungen sind – diese Passagen sind unterschiedlich lang und von unterschiedlicher Qualität, aber irgendetwas finde ich bei jedem.

Zusätzlich nutze ich einen dicken grünen Textmarker. Mit dem markiere ich in jeder Klassenarbeit Passagen, die gelungen sind – diese Passagen sind unterschiedlich lang und von unterschiedlicher Qualität, aber irgendetwas finde ich bei jedem. Wenn nötig schreibe ich eine Erklärung dazu. Immer beginne ich die Rückgabe einer Klassenarbeit damit, dass ich erkläre, was es mit dem grünen Textmarker auf sich hat, und bitte die Schülerinnen und Schüler, zuerst nach den Passagen zu suchen, die ihnen gut gelungen sind. Das klappt übrigens nie, zuallererst suchen meine Schüler immer nach der Note, die am Ende herausgekommen ist. Aber dann schauen sie danach, was sie schon können. Oft unterschätzen wir im Alltag, wie viel wirkmächtiger positive Verstärkung ist.

Korrekturen müssen sein, aber geht es auch effizienter?

Korrekturen sind notwendig, keine Frage. Denn wie sonst sollen Kinder und Jugendliche sich nach und nach verbessern? Sie können nur besser in der Rechtschreibung, im Rechnen oder im Verstehen von schwierigen Texten werden, wenn wir ihnen ab und an sagen, wo sie was verändern müssen. Ganz ohne Leistungsüberprüfungen und Rückmeldungen funktioniert der Lernfortschritt nicht. Nur, warum muss ich als Lehrerin jede Korrektur persönlich machen? Bin ich nicht eher dazu da, zu lehren und meine Schülerinnen und Schüler bei ihrem Lernen zu begleiten?

Habe ich wirklich jahrelang studiert, um nach dem Ja-nein-Prinzip falsche Dinge anzustreichen? Das kann jeder Algorithmus besser und zuverlässiger als ich.

Besonders in der Unter- und Mittelstufe verbringe ich viel Zeit mit Korrekturen der Art, dass ich falsch geschriebene Wörter unterstreiche und auf die Regel für die richtige Schreibweise hinweise. Oder indem ich im Englisch-Unterricht falsche Vokabeln markiere. Nach der drölfzigsten Anmerkung à la „he, she, it – das s muss mit“ oder „Idee schreibt man groß, denn man kann ja ‘die Idee‘ sagen“, frage ich mich regelmäßig, warum ich das eigentlich machen muss. Habe ich wirklich jahrelang studiert, um nach dem Ja-nein-Prinzip falsche Dinge anzustreichen? Das kann jeder Algorithmus besser und zuverlässiger als ich. Denn ich verliere bei solchen stupiden Aufgaben nach einer Weile die Konzentration und übersehe dann doch etwas. Außerdem kann ich meine Emotionen dabei nicht immer unterdrücken. Mal ehrlich: Wie schwer kann es bitte sein, sich zu merken, dass ‚work’ ‚Arbeit‘ bedeutet?

Meine Kids kennen mich viel zu gut, als dass sie nicht merken, wenn ich genervt bin. Dann passiert aber parallel zum Vokabellernen etwas ganz anderes. Statt das unbekannte Wort richtig im Kopf abzuspeichern, geht die von meiner Genervtheit betroffene Schülerin in die Beziehungsarbeit mit mir und reagiert auf mich statt auf den kleinen Fehler. Fast am wichtigsten erscheint mir bei der Frage, wie sinnvoll Korrekturen sind, der Faktor Zeit zu sein. Meine Arbeitszeit ist viel besser genutzt, wenn ich, statt stundenlang zu korrigieren, mehr Zeit mit einzelnen Schülern arbeiten kann: zum Beispiel um noch mal zu klären, wo diese Schülerin oder dieser Schüler ein Verständnisproblem hat, um dann an der Stelle noch mal etwas ganz genau zu erklären und Tipps zu geben, wie man daran weiterarbeiten kann.

Adaptive Apps geben die Rückmeldung innerhalb von Sekunden

Für die Zukunft wünsche ich mir von den Schulbuchverlagen möglichst zu jeder Lerneinheit eine Klassenarbeit, die ich die Schülerinnen und Schüler auf dem Tablett-PC bearbeiten lassen kann. Viele Grammatikthemen, viele Aufgaben zum Textverständnis lassen sich so sehr gut abfragen. Und Vokabeln sollten am besten mit einer Lern-App adaptiv gelernt werden. Die App weiß viel schneller und genauer, bei welchem Wort das Kind sich immer wieder vertut, und kann adaptiv die richtigen Wörter erneut üben lassen. In jedem dieser digitalen Aufgaben-Formate sollte es möglich sein, das Ergebnis wenige Minuten später auszuspucken. Damit wären wir bei einem weiteren wichtigen Vorteil gegenüber meiner Arbeitsleistung: Die Rückmeldung kommt fast sofort, nicht erst ein, zwei Wochen später.

* Namen der Schülerinnen und Schüler geändert.

Zur Person

  • Ulrike Ammermann ist Journalistin und Lehrerin.
  • In Münster und Lyon hat sie Germanistik und Geschichte studiert. Nach ihrem Volontariat beim Deutschen Fachverlag arbeitete sie viele Jahre lang für die internationale Reisepresse. Außerdem ist sie Autorin mehrerer Reisebücher, von Reportagen und Berichten für verschiedene Magazine.
  • Wenn sie gerade nicht an Texten arbeitet, begleitet sie an einer Hamburger Stadtteilschule Jugendliche beim Erlernen der französischen Sprache. Außerdem unterrichtet sie die Fächer Geschichte, Deutsch und PGW (Politik, Gesellschaft, Wirtschaft).
  • Sie lebt mit Mann und Kind in Hamburg.