Kolumne

Abi-Prüfung : Im Mathe-Unterricht ist von Anfang an der Wurm drin

Die Probleme, die sich in der Abi-Prüfung in Mathematik in diesem Jahr zeigten, haben schon in der Grundschule ihre Wurzeln, schreibt Sabine Czerny in ihrer Kolumne für das Schulportal. Der Lehrplan sei meilenweit von der veränderten Lebenswirklichkeit der Kinder entfernt. Mathematische Phänomene müssen nicht nur gelernt, sondern auch erlebt werden, betont die Grundschulpädagogin.

Sabine Czerny
Ein Kind nutzt einen Rechenrahmen im Mathematikunterricht als Hilfe.
Der Lehrplan für Mathematik sei an Grundschulen meilenweit von der veränderten Lebenswirklichkeit der Kinder entfernt, schreibt Kolumnistin Sabine Czerny.

Zehntausende Schüler unterzeichneten eine Petition, mit der sie sich beschwerten, dass die Abituraufgaben im Fach Mathematik zu schwer gewesen seien. Zahlreiche Expertinnen und Experten äußerten sich dazu – mit durchaus unterschiedlichen Ansichten. Andreas Schleicher, der PISA-Koordinator der OECD, forderte, dass der Mathematikunterricht an den Schulen besser werden müsse. Der Präsident des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft, Mario Ohoven, legte dar, dass die Schulabgängerinnen und -abgänger oft nicht einmal mehr die Grundrechenarten beherrschen.

Mich wundert das nicht. Von Anfang an ist im Mathematikunterricht der Wurm drin. Das hat verschiedene Gründe, die Schule ist hierfür aber nicht allein verantwortlich.

Vielen Kindern fehlt schon vor der Einschulung die nötige mathematische Vorerfahrung

In den letzten Jahren zeigte sich zunehmend, dass die Schülerschaft bereits vor Schuleintritt stark gespalten ist. Immer mehr Kinder verfügen nicht über die notwendigen mathematischen Vorerfahrungen, um eine strukturierte Zahlvorstellung erwerben zu können. Diese Kinder kennen oft nicht einmal mehr die Würfelzahlen, können nicht bis zehn zählen oder haben keine Vorstellung davon, was eine Menge an sich überhaupt ist.

„Hol mir bitte drei Birnen“: Solche Aufforderungen haben Kinder früher in ihren Elternhäusern häufiger gehört. Sie nahmen ganz normal am Alltagsleben teil und sammelten über die Jahre einen großen Erfahrungsschatz zu Mengen, Zahlen, Längen und Maße. Kinderbetreuungsstätten können das heute in dieser Weise nicht leisten, schon gar nicht in der individuellen Begleitung und mit der individuellen Ansprache, die jedes Kind an sich bräuchte. Und in manchen Kulturen ist es auch gar nicht vorgesehen, Kinder in dieser Form in den Alltag mit einzubinden.

Im aktuellen Lehrplan für Mathematik ist zu viel Stoff in zu wenig Zeit vorgesehen

Der Lehrplan der Schule ist auf die veränderte Lebenswirklichkeit der Kinder nicht eingestellt. Ganz im Gegenteil. Gerade im Fach Mathematik ist er von der Entwicklung der Kinder meilenweit entfernt. Im neuen Lehrplan, der seit 2014 in Bayern gültig ist, wurden bereits im Lehrplan der ersten und zweiten Klasse neben allen (!) Grundrechenarten und den dazugehörigen abgewandelten Aufgabenstellungen und Zusammenhängen auch folgende Inhalte festgelegt: geometrische Flächen und Körper, Umfang und Fläche, Messen und Zeichnen, Achsensymmetrie, Baupläne, Raum-Lage-Orientierung, Diagramme und Schaubilder, Längen, Geld, Sachaufgaben, Uhrzeiten, Zeitspannen, Wahrscheinlichkeit, Kombinatorik und Statistik. Da sind die Kinder gerade sechs oder sieben Jahre alt.

Wissen sollte man hier, dass für Mathematik im Rahmen des Grundlegenden Unterrichts in der Grundschule etwa drei bis vier Schulstunden in der Woche vorgesehen sind. Das mag viel klingen. Die Aufmerksamkeitsspanne und der Arbeitseifer der Kinder sinken aber von Jahr zu Jahr, und so muss man inzwischen damit rechnen, dass weit weniger Zeit tatsächlich effektiv genutzt werden kann. Es ist also einfach viel zu viel Stoff für die wenige Zeit, die im Unterricht zur Verfügung steht.

Zeitnot und Personalmangel befördern das theoretische Abhandeln

Ähnlich verläuft es mit den anderen im Lehrplan geforderten Fachbereichen. Es wird völlig übersehen, dass Kinder ein Erfahrungsfeld in dem jeweiligen Bereich brauchen, um etwas neu zu Lernendes einordnen zu können. Wenn Kinder also „nur“ eine Spiegelachse eintragen sollen, braucht es sehr viel mehr, wenn sie tatsächlich erfassen sollen, was „spiegeln“ bedeutet. Da braucht es Betrachtungen im Spiegel, da braucht es eine eigene Körperwahrnehmung, da braucht es Faltbilder, bei denen sich die eine Seite auf der anderen abdrückt, da braucht es Faltschnitte …

Aber für solche Erfahrungsfelder ist keine Zeit. Schon gar nicht, wenn 28 Kinder in einer Klasse sitzen, die von einer einzelnen Lehrkraft betreut werden, die nicht überall sein kann, um zu helfen. Diese individuelle Unterstützung wiederum ist unumgänglich, weil auch die Selbstständigkeit der Kinder spürbar abnimmt. Daher bleibt es oft rein aus Zeitnot und Personalmangel bei der recht theoretischen Abhandlung. Die Kinder haben eine Linie aufs Papier gezeichnet, Thema abgehakt. Aber verstanden, worum es bei der Aufgabe eigentlich geht, haben sie nicht. Wie auch? Und die Frage ist durchaus berechtigt, ob wirklich all diese Themen bereits in der ersten und zweiten Klasse durchgenommen und geprüft werden müssen.

Die Kinder sind heute weniger strukturiert und genau

Es kommt noch hinzu, dass unseren Kindern grundsätzlich Struktur und Genauigkeit verloren gehen, die man aber in Mathematik eben ganz besonders braucht. Das fängt damit an, dass Eltern es als Zumutung empfinden, wenn ihre Kinder eine Überschrift mit dem Lineal unterstreichen oder sauber ausmalen sollen – dabei schult man so deren Feinmotorik, die sie später in Geometrie benötigen.

Auch die fachliche Genauigkeit leidet. Beispielsweise ist 3 mal 5 eben nicht das gleiche wie 5 mal 3. Ja, das Ergebnis ist gleich, aber mathematisch gesehen sind beide Produkte etwas völlig anderes. Und wer weiß schon, dass es zwei unterschiedliche Arten des Teilens gibt? Es geht auch in der Grundschule nur noch um ein irgendwie geartetes Ergebnis, aber nicht ums Verstehen und Erfassen. Das würde auch viel Übung benötigen, viele, viele, viele Stunden – und nicht nur pro Thema zehn Minuten.

Zudem wäre es gerade in der Grundschule wichtig, nicht schon ein selbstständiges Erarbeiten, ein selbstständiges Finden von Zusammenhängen zu fordern. Dafür sind die Schülerinnen und Schüler noch zu jung. Erst wenn sie eine Basis haben, können sie Phänomene verstehen lernen. Es ist eines der größten Probleme, dass wir von den Kleinen das verlangen, was für sie entwicklungsbiologisch gesehen nicht angemessen ist, nur weil sie es als Große dann können sollen. Das ist falsch! Kinder sind Kinder und keine kleinen Erwachsenen. Wir überfordern sie damit, und sie finden sich rasch damit ab, dass sie einfach nicht rechnen können.

Zur Person

  • Sabine Czerny ist seit über 20 Jahren Lehrerin und unter­richtet in einer Grund­­schule im Groß­­raum München eine zweite Klasse in allen Fächern. Zusätzlich gibt sie Fach­­unter­­richt in anderen Klassen, auch in der Mittel­schule.
  • Vor gut einem Jahr­zehnt machte Sabine Czerny bundes­weit Schlag­­zeilen: Weil ihre Schüler­­innen und Schüler zu viele gute Noten erzielten, wurde sie straf­­versetzt.
  • 2009 wurde sie mit einem Preis für Zivil­­courage, dem Karl-Steinbauer-Zeichen, aus­gezeichnet. Ein Jahr später erschien ihr Buch „Was wir unseren Kindern in der Schule antun … und wie wir das ändern können“.
  • Für Das Deutsche Schulportal schreibt Sabine Czerny eine Kolumne.