Kolumne

Über Kinderarmut sprechen : Wie erkläre ich Kindern, was arm und reich bedeuten?

Wie veranschauliche ich unseren Schulkindern, was Reichtum, Armut und deren Korrelation bedeuten – ohne ihnen die Schattenseiten des Kapitalismus und die Folgen unseres Handelns allzu nahezubringen? Diese Fragen stellt sich unser Kolumnist Fabian Soethof, der sich als „vergleichsweise privilegierten Vater“ bezeichnet, gerade in diesem Jahr vor Weihnachten sehr häufig. Hier schildert er seine Erklärungsversuche.

Fabian Soethof
kaputte Schuhe als Symbol dafür, wie Eltern Kindern arm und reich erklären können
Kindern die Unterschiede zwischen Arm und Reich zu erklären, ist eine große Herausforderung für Eltern.
©Ralf Geithe/iStock

Als ich, Jahrgang 1981, noch ein Kind war, habe ich oft, wenn ich meinen Teller nicht leer aß, den in vielfacher Hinsicht problematischen Satz gehört: „Die armen Kinder in Afrika haben gar nichts zu essen!“ Heute weiß ich: Auf dem afrikanischen Kontinent und damit in 55 Ländern leben nicht ausnahmslos arme Kinder – so wie in Europa nicht ausnahmslos reiche Kinder leben. Und die, die Hunger hatten oder haben, werden leider nicht satter, wenn ich in Deutschland mehr oder weniger futtere. Was ich dafür als 41-jähriger Vater noch immer nicht weiß oder meinen Kindern befriedigend erklären kann: Warum wird der Unterschied zwischen Arm und Reich in unserer aufgeklärten Welt immer größer und nicht kleiner?

Als durch den geografischen und familiären Zufall der Geburt vergleichsweise privilegierter Elternteil ertappe ich mich viel zu oft dabei, wie ich pädagogisch mitunter fragwürdige Sprüche und Argumente der Generation meiner Eltern, Tanten, Onkel sowie Großeltern übernehme, bei denen ich mich ganz selbstverständlich auf materielle Dinge beziehe, die in anderen Familien aber nicht selbstverständlich sind: „Wenn du bei 3 nicht …, wird Fernsehen oder iPad gestrichen“, „wenn ihr euer Zimmer nicht aufräumt, werde ich selbst ausmisten und dies und das verschenken oder verkaufen …“, „es gibt Kinder, die …“ und so weiter. In puncto Reichtum und Armut ziehe ich also Vergleiche mit anderen Kindern dieser Welt. Das finde ich aber richtig und wichtig.

Schule ist für viele Kinder der Welt die einzige Möglichkeit, Armut zu überwinden

So berichten wir etwa sachlich davon, dass es viele Kinder gibt, die nur ein oder zwei Spielsachen haben und nicht so viele, dass man den Boden des Kinderzimmers, das sie oft auch nicht haben, nicht mehr sehen kann. Oder dass viele Kinder in zu vielen anderen Ländern einen kilometerlangen Schulweg auf sich nehmen. Ihnen erscheint unser Bildungssystem trotz all seiner Mankos im Direktvergleich paradiesisch, und Schule – die für unsere Kinder so selbstverständlich und manchmal auch lästig ist – ist für diese Kinder die einzige Möglichkeit, um eines Tages überhaupt vielleicht mal aus ihren Verhältnissen auszubrechen.

Auf manche Sprüche der Kinder kann ich souveräner reagieren als auf andere. „Ich wäre gern so reich wie Dagobert Duck“, sagte eines der beiden neulich. Ich erklärte, dass dies mehr Leid als Freude mit sich brächte: „Du kannst dir dann zwar kaufen, was du willst, aber du kannst niemandem mehr vertrauen, weil sehr viele Leute in Wahrheit vielleicht nur dein Geld, nicht aber deine Freundschaft wollen. Und guck mal, was für ein Griesgram Dagobert ist.“

Was heißt eigentlich reich?

Als das andere Kind eines Tages den Satz „Ich wünschte, wir wären reich“ äußerte, musste ich bereits relativieren: Wir seien durchaus reicher als sehr viele andere Menschen auf der Welt – deshalb aber noch lange nicht reich im Sinne eines Dagobert Duck. Wir können uns vieles, wollen uns aber nicht alles leisten. Sie beschweren sich zum Beispiel, wenn wir ihnen nicht jede Woche neue „Ninjago“-Comics, Sammelkarten oder zwischendurch und ohne Anlass ein weiteres Lego-Set kaufen. Wir argumentieren dann unter anderen mit den Preisen und dass sie schon für ein Heft mehrere Wochen Taschengeld sparen müssten.

Es gibt Kinder, die bereits in der dritten Klasse mit Smartphone oder Smartwatch über den Schulhof rennen, während andere über Wochen hinweg behaupten, sie hätten ihr Sammelkartenalbum zu Hause vergessen – aus Scham zuzugeben, dass ihre Eltern ihnen keines kaufen können.

Von mir können unsere Kinder den Umgang mit Geld trotzdem nur bedingt lernen. Ich hatte fast immer genug davon, um mir zumindest über die nächsten Wochen und Monate keine existenziellen Sorgen machen zu müssen. An die längerfristige Zukunft denke ich noch immer viel zu selten. Ich erkläre ihnen dennoch, dass wir zum Beispiel einerseits genug Geld hätten, um ihnen eine Nintendo Switch zu kaufen, ich es andererseits aber nicht einsehe, mehr als 300 Euro dafür auszugeben, weil auch ich dafür lange arbeiten muss. Sie haben noch kein Gefühl für den materiellen Wert der Dinge, von Arbeit, Lohn und Machtgefällen ganz zu schweigen.

Im Schulbereich ist die Spanne zwischen Arm und Reich offensichtlich

Dass manche Eltern und Kinder finanziell liquider sind als andere, zeigt sich verstärkt im Schulbereich: Mal abgesehen von der pädagogischen Sinnhaftigkeit der Anschaffung gibt es Kinder, die bereits in der dritten Klasse mit Smartphone oder Smartwatch über den Schulhof rennen, während andere über Wochen hinweg behaupten, sie hätten ihr Sammelkartenalbum zu Hause vergessen – aus Scham zuzugeben, dass ihre Eltern ihnen keines kaufen können.

Schon bei der Einschulung beginnt diese Ungleichheit: Nicht alle können sich den empfohlenen Farbmalkasten von Pelikan leisten, der am Ende ohnehin nur selten gebraucht wird. Von Schultaschen angesagter Marken, die teilweise mehr als 300 Euro kosten, ganz zu schweigen. Neulich ging es beim Elternabend um eine Zirkuswoche, die so toll wie teuer wäre. Wir diskutierten darüber, wie man auch Kindern eine Teilnahme ermöglichen könne, deren Eltern nicht mal eben 180 Euro extra auf der Tasche haben – und solche Eltern werden in Zeiten von Inflation und Rezession auch innerhalb der sogenannten Mittelschicht eher mehr als weniger. Zum Glück fanden wir über Zuschussoptionen und hilfsbereite Eltern eine Lösung.

Sätze wie „Geld allein macht auch nicht glücklich“ können nur Menschen sagen, die genug davon haben, weil denen, die keines haben, viele Probleme und Ängste genommen und damit mehr Zufriedenheit gegeben wären, hätten sie ausreichend davon.

Die Definition von Armut ist relativ eindeutig: In der Wirtschaftsstatistik gilt laut der Bundeszentrale für politische Bildung als armutsgefährdet, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. 2021 lag der Schwellenwert der Armutsgefährdung bei 1.251 Euro im Monat und die Armutsquote laut Statistischem Bundesamt bei 16 Prozent. 13 Millionen Menschen sind demnach aktuell von Armut betroffen. An dieser Stelle könnten wir über Vermögenssteuer, inflationsausgleichende Anpassung des Kindergeldes, bedingungsloses Grundeinkommen, Aufstiegschancen, Teilzeitfallen und viel zu viele weitere Themen sprechen. Themen, die den Umfang dieser Kolumne vollends sprengen würden, die Aufnahmekapazität eines Kinderhirns erst recht.

Ich beende diesen Text deshalb mit einem Hinweis auf Mareice Kaiser. Die Journalistin und Autorin ist selbst nicht nur Mutter, sondern hat sich in ihrem neuen Buch „Wie viel“ mit eben jenen Fragen nach Armut, Reichtum, unserem (Über-)Leben im Kapitalismus und der Wichtigkeit von Geld beschäftigt. Sie weiß: Sätze wie „Geld allein macht auch nicht glücklich“ können nur Menschen sagen, die genug davon haben. Denn denen, die keins haben, würden viele Probleme und Ängste genommen und damit mehr Zufriedenheit gegeben, hätten sie ausreichend davon. Ebenfalls keine Lektüre für Kinder, nehme ich an – aber allemal für Eltern, Lehrer:innen und alle anderen Erwachsenen, die nicht wissen, wie sie Kindern oder sich selbst Armut, Reichtum sowie deren Relation und Korrelation erklären sollen, und warum Schule und Sparen „leider“ grundsätzlich gut und wichtig sind.

Zur Person

Fabian Soethof
Fabian Soethof
©Hella Wittenberg
  • Fabian Soethof ist Journalist und Redakteur. Seit 2016 leitet er die Online-Redaktion des „Musikexpress“, seit Ende 2017 in Teilzeit.
  • Er bloggt unter newkidandtheblog.de über Elternthemen zwischen Wahn und Sinn und hat im März 2022 sein erstes Sachbuch veröffentlicht: „Väter können das auch! Es ist Zeit, Familie endlich gleichberechtigt zu leben“ (Kösel-Verlag).
  • Mit seiner Frau und zwei Kindern (8 und 6) lebt er in Berlin-Kreuzberg.
  • Für das Schulportal schreibt er Kolumnen über den Schulalltag aus Elternsicht.