Kolumne

Lernentwicklungsgespräche : Eine gute Idee wird zum verkappten Zwischen­zeugnis

Vor einigen Jahren wurden in Bayern individuelle Lern­entwicklungs­gespräche zum Schul­halb­jahr eingeführt. Sabine Czerny beschreibt in ihrer Schulportal-Kolumne, wie aus einer weg­weisenden Idee am Ende doch wieder nur eine andere Form der Noten­gebung wurde.

Sabine Czerny
Das Ende des Schulhalbjahres ist Zeugniszeit. In Bayern können Grundschulen das das herkömmliche Zeugnis auch durch individuelle Lernentwicklungsgespräche ersetzen.
Das Ende des Schulhalbjahres ist Zeugniszeit. In Bayern können Grundschulen das das herkömmliche Zeugnis auch durch individuelle Lernentwicklungsgespräche ersetzen.
©dpa

Die Hälfte des Schuljahrs ist vorbei. Obligatorische Zeugnis­zeit. Vor einigen Jahren wurde den bayerischen Grund­schulen ermöglicht, ein individuelles Lern­entwicklungs­gespräch zu führen statt ein Halb­jahres­zeugnis auszustellen. Meine Freude war groß! Endlich sollte es tatsächlich um den Schüler, die Schülerin gehen. Um deren individuelle Stärken, Lern­felder – und vor allem um sie oder ihn als Ganzes in ihrem jeweiligen Entwicklungs­prozess!

Die Vorgaben waren damals erfreulicher­weise sehr frei gehalten. An sich sollte das Gespräch lediglich in irgend­einer Form dokumentiert werden – wohl als Nachweis, dass es geführt worden war.

Doch so schnell konnte ich gar nicht schauen, wie es „Vorschläge“ gab für die geforderte Dokumentation. Das ging bis hin zu 16-seitigen Bögen, auf denen jede kleinste Kompetenz angegeben war, die mit einer von ein bis vier oder fünf Stufen bewertet werden sollte. Von „immer“ bis „so gut wie nie“ oder von „sehr gut“ bis „mangelhaft“. Oder von einer Sonne bis zu einer Gewitter­wolke. Vor­geschrieben war das nicht, ein Zwei­zeiler zur Dokumentation hätte an sich genauso genügt. Doch in meinem Umfeld fühlten sich die Lehrer verpflichtet, sich daran zu orientieren. Zu groß war die Verunsicherung, was man Eltern sagen sollte. Zu schnell stand die Forderung der Eltern im Raum, wie das Kind denn im Vergleich dastünde, welche Note es hätte. Schließlich müsse man das ja wissen, um für das Jahres­zeugnis noch etwas ändern zu können.

Die Dokumentations­bögen sind weit entfernt von einer individuellen Rück­meldung

Im Lehrerkollegium sollte nun pro Jahr­gangs­stufe ein Dokumentations­bogen entwickelt werden. Und von da an ging es an sich über­haupt nur noch um diesen Bogen. Ein Bogen, der an sich erneut nichts anderes war als eine Beurteilung des Lern­stands – und damit weit entfernt von einer individuellen Rück­meldung bezogen auf die Lern­entwicklung.

Was der Unterschied zu einer individuellen Rückmeldung ist? Nun, wir können das wieder mit einer Pflanze vergleichen. Wir pflegen zu zählen, wie viele Früchte sie trägt oder wie groß und saftig diese sind. Aber wir sollten – gerade bei den Kleinen – besser darauf schauen, ob der Stamm kräftig ist, die Äste so wachsen, dass Früchte möglich sind, wir sollten prüfen, ob genug Wasser und Licht zur Verfügung stehen, ob die Pflanze von Schädlingen befallen ist oder ob es sonstige Hemmnisse gibt – und eben auch, ob sie einfach noch etwas Zeit braucht, bis sie Früchte tragen wird. Wenn nämlich alles passt, kommen die Früchte von allein.

Aber wir haben von Anfang an unseren Blick nur auf die Früchte gerichtet statt auf die Pflanze.

Statt also einfach nur anzukreuzen, wie schnell ein Kind schon liest, ob es Adjektive erkennt oder die Zahlen bis 100 vergleichen kann, sollten Eltern, Kind und Lehrkraft weit wichtigere Fragen bedenken. Der Lern­stand ändert sich nämlich bei jedem Kind binnen weniger Wochen, die Grund­problematik aber, die Kinder oft daran hindert, wirklich gut zu lernen, ist meist noch immer die gleiche.

In den häufigsten Fällen liegt es daran, dass ein Kind noch keine innere Struktur hat und noch keine Orientierung in sich selbst gefunden hat. Ihm fehlt eine innere Ordnung und eine Ausrichtung. Die Ursachen dafür sind allerdings oft viel­fältig – angefangen bei Heli­kopter­eltern, die ihren Kindern Selbst­ständig­keit und die Konfrontation mit der Welt versagen, über insbesondere emotional verwahr­loste Kinder, die von daheim nie eine Struktur mit­bekommen haben, bis hin zu verunsicherten oder zu wenig geförderten Kindern, denen die Erfahrung von Selbst­wirk­samkeit und Zutrauen fehlt.

Seitenweise Tabellen, die schwer zu erfassen sind

Solange ein „individuelles Lern­entwicklungs­gespräch“ also nur ein mehr oder weniger verkapptes Zeugnis ist, ist verständlich, warum einige Eltern und auch Lehrer doch eher Noten vorziehen. Die sind dann wirklich leichter zu erfassen, als seitenweise Text oder Tabellen.

Und was ist aus der einst so zukunft­weisenden Idee des Lern­entwicklungs­gesprächs geworden? Die Kinder füllen den meist mehr­seitigen Dokumentations­bogen vorab selber aus, da sie sich selbst einschätzen sollen. In dem Lern­entwicklungs­gespräch ist dann gar keine Zeit, sich alle Aspekte anzuschauen. Deshalb werden in der Regel einige wenige heraus­gegriffen und die Einschätzung des Lehrers mit der des Schülers verglichen.

Und inzwischen liegt meist auch ein Notenbogen bereit, der dem Dokumentations­bogen beigelegt wird. Solche Gespräche gleichen oft eher Mit­arbeiter­gesprächen von Erwachsenen in der freien Wirtschaft: Wie schätzt du dich selber ein? Was sind deine Stärken, was sind deine Schwächen? Was für ein Ziel setzt du dir?

Viele Kinder sind mit der Selbst­einschätzung über­fordert

Kinder in der ersten Klasse sind da gerade mal sechs Jahre alt. Nur wenige Kinder sind in dem Alter bereits in der Lage, sich selbst einzu­schätzen, und noch weniger Kinder wollen das über­haupt. Nicht selten sind sie damit einfach über­fordert. Für sie zählt der Eindruck der letzten vergangenen Stunden, Tage oder einer speziellen Situation. Sie haben noch kein Zeitgefühl und können nicht über große Zeit­räume reflektieren. Noch weniger haben sie einen Über­blick über anstehende Lern­felder, geschweige denn ein echtes Bewusst­sein über ihren Lern­prozess.

Lernen ist für kleine Kinder ein ihnen eher noch unbewusster Entwicklungs­prozess und stark abhängig davon, wie sie von außen „ange­füttert“, begleitet und auf­gestellt werden. Grund­schul­kinder schon in die Verantwortung für ihr Lernen zu nehmen ist unsinnig. Wie Kinder lernen, hängt von uns Erwachsenen, den Eltern und den Lehrern ab, und es wird höchste Zeit, dass wir uns dieses Zusammen­hangs bewusst werden.

Mehr zum Thema

Leistungsbewertung im Dialog: Wie eine motivierende Bewertung mit Hilfe von Lern­entwicklungs­berichten gelingt, zeigt auf dem Schulportal das Konzept der Integrierten Gesamt­schule Franzsches Feld in Braunschweig. Im Unter­schied zu Ziffern­zeugnissen oder Kompetenz­rastern werden in einem Lern­entwicklungs­bericht keine Lern­stände, sondern Lern­entwicklungen beschrieben. Es geht also nicht um die Frage „Wo steht die Schülerin oder der Schüler gerade hin­sichtlich bestimmter Lern­ziele?“, sondern darum, wie er oder sie sich entwickelt hat.

Lehrerinnen und Lehrer bei einer Besprechung
©Lars Rettberg (Die Deutsche Schulakademie)

Zur Person

  • Sabine Czerny ist seit über 20 Jahren Lehrerin und unter­richtet in einer Grund­­schule im Groß­­raum München eine zweite Klasse in allen Fächern. Zusätzlich gibt sie Fach­­unter­­richt in anderen Klassen, auch in der Mittel­schule.
  • Vor gut einem Jahr­zehnt machte Sabine Czerny bundes­weit Schlag­­zeilen: Weil ihre Schüler­­innen und Schüler zu viele gute Noten erzielten, wurde sie straf­­versetzt.
  • 2009 wurde sie mit einem Preis für Zivil­­courage, dem Karl-Steinbauer-Zeichen, aus­gezeichnet. Ein Jahr später erschien ihr Buch „Was wir unseren Kindern in der Schule antun … und wie wir das ändern können“.
  • Für Das Deutsche Schulportal schreibt Sabine Czerny eine Kolumne.