Kolumne

Distanzunterricht : Verlangen wir zu viel von den Kindern?

Vielerorts haben Schulen ihre Hausaufgaben gemacht. Es gibt jetzt ausreichend Lizenzen für datenkonforme Videokonferenz- und Lernmanagementsysteme. Inzwischen sind auch genügend Notebooks und Tablets da, sodass jede Schülerin und jeder Schüler mit einem passenden Endgerät für das Homeschooling versorgt werden kann. Mit all dieser Technik rücken wir unseren Schützlingen allerdings auch ganz schön auf die Nerven. Kinder sitzen täglich in drei bis vier Videokonferenzen. Selbst manch Erwachsener wäre damit überfordert, schreibt Lehrerin Ulrike Ammermann in ihrer Kolumne.

Ulrike Ammermann
Täglich sehen die Schülerinnen und Schüler neue Aufgaben mit neuen Deadlines, wenn sie sich in die Lernplattform eingeloggt haben.
©Jonas Güttler/dpa

Wurde im ersten Lockdown noch vielfach geklagt, die Schule ließe ihre Schützlinge zu Hause allein, hocken wir Lehrerinnen und Lehrer nun den Kindern ein bisschen zu oft im heimischen Wohnzimmer. Montagfrüh geht es gleich mit Mathe los. Die Aufgaben aus der letzten Woche werden besprochen. Die mussten die Kinder bis spätestens Freitagnachmittag um 16 Uhr im Aufgabentool der Lernplattform hochladen. Jetzt darf Lena*, die Klassenbeste, erklären, wie man zwei Brüche zusammenrechnet. Alle anderen haben ihre Mikros auf stumm geschaltet, die Kameras der meisten sind ebenfalls ausgeschaltet. Allzu leicht wackelt sonst das Bild und ruckelt der Ton, weil das häusliche WLAN oder die Serverkapazitäten überlastet sind. Wer sich melden möchte, kann das über ein kleines Online-Tool tun. Erst danach soll das Mikro freigeschaltet werden. Inzwischen machen das auch unsere Zwölfjährigen erstaunlich diszipliniert. Wir alle haben gelernt, dass es nur nervig wird, wenn wir solche Regeln nicht einhalten.

Konferenzpause heißt noch lange nicht Lernpause

Nach anderthalb Stunden Mathe haben die Kinder erst einmal Konferenzpause. Lernpause nicht unbedingt. Es steht in ihrem Aufgabenmodul noch so einiges, was zu erledigen ist. Für Englisch müssen etliche Aufgaben im Workbook bearbeitet werden. Auch im Fach Deutsch stehen Grammatikübungen auf dem Plan. Die Sportlehrerin hat eine Anleitung geschickt, wie man Jonglierbälle aus Luftballons und Reis bastelt. Und um 12 Uhr beginnt die nächste Unterrichtsstunde, wieder anderthalb Stunden Videokonferenz.

Auch wir Erwachsenen möchten nicht gerne den ganzen Tag in einer Videokonferenz nach der anderen sitzen – und das mit mehr als 20 Teilnehmenden.

Der Online-Stundenplan ist gegenüber dem Stundenplan in der Schule ausgedünnt. Besonders in den Nebenfächern werden nicht regelmäßig Videokonferenzen angeboten. Das ist auch ganz gut so. Denn selbst mit der verschlankten Variante haben unsere Kinder an etlichen Tagen drei bis vier Großkonferenzen in Folge. Anstrengend, nicht wahr? Auch wir Erwachsenen möchten nicht gerne den ganzen Tag in einer Videokonferenz nach der anderen sitzen – und das mit mehr als 20 Teilnehmenden.

Intensive Einzelbetreuung durch den Förderlehrer im Distanzunterricht

Im zweiten Lockdown sind wir Pädagoginnen und Pädagogen besser darin geworden, unsere Schützlinge täglich zu fördern. Mit einer Vielzahl an Angeboten: Unterrichtsstunden gibt es online genauso wie eine intensive Einzelbetreuung durch den Förderlehrer. Auch die Sozialpädagogin führt lange Gespräche mit Kindern, die das gerade brauchen. Und wenn wir Lehrerinnen und Lehrer zwischendurch den Eindruck gewinnen, die Kinder müssten dringend mehr Bewegung haben, dann erfinden wir eine Schnitzeljagd quer durch die Stadt. Über die muss dann ein Bericht für den Deutschunterricht geschrieben werden. Täglich sehen unsere Schülerinnen und Schüler neue Aufgaben mit neuen Deadlines, wenn sie sich in die Lernplattform eingeloggt haben. Täglich erhalten sie Korrekturen und andere Rückmeldungen ihrer Lehrerinnen und Lehrer. Jede Menge Input also.

Wer nicht am Online-Unterricht teilnimmt, bekommt einen Anruf

Fördern zieht aber auch Fordern nach sich, unzählige Schülerinnen und Schüler können davon aus leidvoller Erfahrung berichten. Wer sich nicht rechtzeitig in die Online-Konferenz des Deutschunterrichtes einloggt, muss damit rechnen, dass das als unentschuldigtes Fehlen gewertet wird. Oder die Lehrerin mal schnell auf dem Festnetz der Eltern anruft und fragt, was los ist. Manchmal hat ein Kind, ganz banal, bloß verschlafen. Manchmal hat eine Sechstklässlerin ihren aktuellen Online-Stundenplan verlegt. Manchmal ist das Internet im Haushalt gerade ausgefallen. Manchmal hatte jemand die mittelgute Idee, kurz vor dem Unterricht der Installation des Updates zuzustimmen. Manchmal finden einfach zu viele Videokonferenzen gleichzeitig statt. Denn viele Eltern sitzen mit ihren Kindern im Homeoffice und müssen genauso wie ihre Sprösslinge mehrmals täglich an Konferenzen teilnehmen. Oder die Eltern sitzen mit ihren Sprösslingen eben nicht im Homeoffice, sondern arbeiten aushäusig, weshalb die Geschwister ihren Schulalltag zu Hause allein managen müssen. Und manchmal wird das alles ein bisschen viel.

Abgabetermine und Konferenzen blinken auf der Lernplattform auf

Wir verlangen viel Organisation von den Kids. Sie müssen ihren Stundenplan im Blick behalten, die Abgabefristen für ihre Hausaufgaben, regelmäßig schauen, ob sie neue E-Mails und andere Textnachrichten erhalten haben. Als erste Maßnahme schicken die Klassenlehrerinnen und -lehrer jeden Freitag einen Stundenplan mit allen anstehenden Online-Konferenzen der kommenden Woche. Die Informatiklehrerin hat unsere Lernplattform so angepasst, dass bei jedem Kind als Erstes der Kalender mit anstehenden Abgabe- und Konferenzterminen aufblinkt, wenn es die App öffnet.

Trotzdem schickt mir Melina* Sonntagnacht um 23 Uhr eine E-Mail: „Wir haben doch morgen um 10 Uhr Videokonferenz?“ Nein, haben wir nicht, per Messengerdienst schicke ich ihr gleich noch mal ein Foto des aktuellen Stundenplans. Jonas* schreibt mir am nächsten Morgen um sechs, es sei wirklich viel zu stürmisch für die Schnitzeljagd mit Jonglierbällen. Und von Joelina bekomme ich eine Textnachricht mit obszönen Beleidigungen. Im Gespräch mit ihr und ihren Eltern stellt sich heraus, dass jemand ihren Account gehackt hat. Sie bekommt ein neues Passwort, und ich hoffe, dass das Problem fürs Erste gelöst ist.

Nicht nur wir Pädagoginnen und Pädagogen rücken den Schülerinnen und Schülern zu nahe, bei uns löst sich der Abstand zwischen Privat- und Berufsleben auch in Luft auf. Es ist eine tägliche Herausforderung – für alle.

*Namen der Kinder geändert.

Zur Person

  • Ulrike Ammermann ist Journalistin und Lehrerin.
  • In Münster und Lyon hat sie Germanistik und Geschichte studiert. Nach ihrem Volontariat beim Deutschen Fachverlag arbeitete sie viele Jahre lang für die internationale Reisepresse. Außerdem ist sie Autorin mehrerer Reisebücher, von Reportagen und Berichten für verschiedene Magazine.
  • Wenn sie gerade nicht an Texten arbeitet, begleitet sie an einer Hamburger Stadtteilschule Jugendliche beim Erlernen der französischen Sprache. Außerdem unterrichtet sie die Fächer Geschichte, Deutsch und PGW (Politik, Gesellschaft, Wirtschaft).
  • Sie lebt mit Mann und Kind in Hamburg.

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Was ist Distanzunterricht?

Distanzunterricht dient der Sicherung des Bildungserfolgs der Schülerinnen und Schüler, falls der Präsenzunterricht wegen des Infektionsschutzes während einer Pandemie nicht vollständig möglich ist.

Was ist der Unterschied zwischen Distanzunterricht und Homeschooling?

Die Begriffe werden umgangssprachlich häufig synonym verwendet. Allerdings meint Distanzunterricht eher interaktive und kommunikative Formate zum Beispiel Unterricht per Videokonferenzen, während Homeschooling eher auf das selbstgesteuerte Lernen abzielt.

Ist die Teilnahme am Distanzunterricht verpflichtend?

Wenn die technischen Voraussetzungen gegeben sind, ist der Distanzunterricht in der Regel verpflichtend. Die Anwesenheit der Schülerinnen und Schüler kann überprüft werden.

Was ist Hybridunterricht?

Beim Hybridunterricht wird ein Teil der Klasse in Präsenz unterrichtet, währen der der andere Teil der Gruppe per Video zugeschaltet ist.

Wie gelingt der Wechsel von Präsenz- und Distanzunterricht?

Die Schulen haben während der Pandemie unterschiedliche Ansätze und Ideen für den Distanzunterricht entwickelt. Auf dem Schulportal haben wir viele der erfolgreichen Konzepte ausführlich beschrieben. Die Hardtschule Durmersheim zum  Beispiel hat die Idee des Fern­unterrichts weiter­entwickelt. Sie konzipierte während der Corona-Pandemie „School@Home“ und „School@School“. Dazu gehört, dass die Schülerinnen und Schüler nicht nur einfach ihre Aufgaben daheim abarbeiten, sondern in ihrem Lern­prozess von den Lehr­kräften unterstützt werden, weiterhin die Schule als Gemeinschaft erfahren und einen strukturierten Alltag erleben. Die Schule sendet den Unterricht von über­all nach überall und ist so in der Lage, flexibel auf unter­schiedliche Gegeben­heiten zu reagieren – ob reiner Fern­unterricht oder Hybrid­unterricht mit teilweiser Präsenz in der Schule.

Wie ist Ihre Erfahrung mit dem Distanzunterricht? Kann er den Präsenzunterricht ersetzen? Wo sind die Grenzen des Unterrichts per Video? Und welche Elemente würden Sie gern beibehalten, auch wenn an den Schulen wieder Normalbetrieb möglich ist? Nutzen Sie die Kommentarfunktion und teilen Sie Ihre Meinung!