Digitale Bildung : „Handybesitzpflicht” und andere Missverständnisse
Das Land Niedersachsen möchte in einer neuen Digitalstrategie auch private Smartphones von Schülerinnen und Schülern als Lernmittel anerkennen. Darauf folgte ein Aufschrei. Es heißt, Familien würden zum Kauf neuer Geräte verpflichtet, Kinder aus finanzschwachen Elternhäusern würden benachteiligt und Lehrkräfte wären von der Technik-Vielfalt überfordert. Dabei ist die Nutzung von Privatgeräten zum Lernen in vielen Klassen längst Alltag. Medienpädagoginnen und -pädagogen erproben solche Konzepte seit Jahren. Viele Befürchtungen, die in der Debatte geäußert werden, sind unbegründet. Ein Sortierungsversuch.

Medienkompetenz fördern ohne Smartphones im Unterricht?
Laut dem Schweizer Medienpädagogen und Hochschullehrer Beat Döbeli Honegger käme niemand auf die Idee, Lesekompetenz fördern zu wollen, aber nur vier Bücher pro Klasse zur Verfügung zu stellen. Deshalb erfordere Medienkompetenz persönliche Geräte in der Schule. Folgt man dieser Logik, dann brauchen Schülerinnen und Schüler neben ihrem persönlichen Stift und Schreibblock heute auch persönliche internetfähige Geräte zum Lernen und Arbeiten. Dies leuchtet ein, schließlich sind Smartphones, Tablets und Laptops in nahezu allen Berufen wichtige Arbeitswerkzeuge. Untersuchungen haben außerdem gezeigt, dass dort, wo Schulen die internetfähigen Geräte nicht in den Unterricht einbeziehen, die Jugendlichen sie nur als Kommunikations- und Unterhaltungsgeräte wahrnehmen und nicht auch die Potenziale als Lern- und Arbeitsmittel erkennen. Persönliche Geräte in der Schule zu nutzen ergibt also Sinn.
Smartphones zum Lernen? In vielen Klassen ist das bereits Alltag
Aber wie kommen die Lernenden zu persönlichen Geräten? Die Medienpädagogik diskutiert zwei grundlegende Varianten der Bereitstellung: Dazu gehört zum einen die von der Schule verordnete Eins-zu-eins-Ausstattung, bei der alle das gleiche Gerät nutzen müssen (Stichwort: „iPad-Klasse“). Zum anderen steht der Ansatz „Bring Your Own Device“ (kurz: BYOD) zur Debatte, bei dem Schülerinnen und Schüler ihre Privatgeräte, die sie ohnehin besitzen, auch im Unterricht nutzen können. Beide Varianten haben Vor- und Nachteile. Für beide Varianten gibt es Dutzende Beispielschulen, die seit Jahren erfolgreich mit ihnen arbeiten. Vorbilder sind etwa die IGS Göttingen als Beispiel für das Eins-zu-eins-Prinzip oder die Freiherr-vom-Stein-Schule Neumünster für das BYOD-Modell.
Nun hat das Land Niedersachsen kürzlich in seinem Masterplan Digitalisierung offiziell anerkannt, dass auch „Bring Your Own Device“ ein denkbares Konzept sein kann – zumindest solange der Bund noch nicht geklärt hat, ob und wie er den Gerätebesitz von Schülerinnen und Schülern im großen Stil unterstützt. Die Kritik daran ließ nicht lange auf sich warten und ist bisweilen hysterisch. Die „Süddeutsche Zeitung“ titelte in einem Kommentar etwa: „Handypflicht ist keine kluge Digitalisierungsstrategie”. Darin viele Befürchtungen, die ich nicht teile. Etwa:
- Schülerinnen und Schüler würden zum Handygebrauch im Unterricht verpflichtet und die Eltern damit zum Kauf neuer Geräte gezwungen.
- Finanzschwache Familien würden benachteiligt.
- Eine „Handybesitzpflicht“ sei ein massiver Eingriff in Erziehungsfragen.
- Besitzer von High-End-Smartphones würden bessere Noten bekommen, als diejenigen mit einem Discounter-Modell.
- Lehrkräfte würden ihre Schülerinnen und Schüler nicht mehr gleichwertig unterstützen können, weil sie nicht alle Betriebssysteme kennen.
- Das niedersächsische Vorhaben fördere eine „Smartphone-Abhängigkeit“ und nicht die „digitale Selbstständigkeit“.
Smartphone-Besitz bei Jugendlichen: Auf dem Weg zur Vollausstattung
Ich habe 2014 ein Schulpraktikum an einer Gemeinschaftsschule in Berlin-Neukölln gemacht. Dort gab es viele finanzschwache Familien. Ich möchte wirklich keine Klischees bedienen, aber: Ich habe schon damals beobachtet, wie in der achten Klasse ein aktuelles Smartphone-Modell selbstverständlicher war, als heile Schuhe oder ausreichend saubere Kleidung für die Schulwoche. Die Zahlen bestätigen meinen Eindruck: Die größte repräsentative Studie zur Mediennutzung von Jugendlichen in Deutschland hat ermittelt, dass aktuell 97 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren ein persönliches Smartphone besitzen. Bei den über 14-Jährigen steigt dieser Wert auf bis zu 99 Prozent und es kann sogar von „Vollausstattung“ gesprochen werden (Quelle: JIM-Studie 2017). Es ist also anzuerkennen: Die internetfähigen persönlichen Geräte sind schon da, und sie sind überall. Fast immer wurden sie freiwillig angeschafft. Oft sind es gerade die Eltern, die die ständige Erreichbarkeit ihrer Kinder wollen. So viel zum Thema „Besitzpflicht“.
In den Hosentaschen der Schülerinnen und Schüler schlummert also ein sich selbst aktualisierender Gerätepool handlicher, internetfähiger Supercomputer, der auf seinen Einsatz wartet. Warum nicht diese Geräte auch zum Lernen und Arbeiten benutzen? Es wäre doch schön, wenn Schülerinnen und Schüler lernen, dass ihr Privatgerät mehr kann als Instagram und Snapchat. Das wäre auch im Sinne eines emanzipierten Umgangs mit privater Digitaltechnik.
Die Alternativen zu BYOD sind außerdem nicht weniger problematisch. Was, wenn sich ein Handy-Hersteller einen Exklusivvertrag mit einem ganzen Bundesland sichert (Stichwort: Abhängigkeit)? Dürfen dann alle nur mit Geräten von diesem Hersteller lernen? Wer administriert und wartet die Geräte? Brauchen wir eine IT-Fachkraft in Vollzeit für jede Schule, oder wird diese Mehrarbeit den Lehrkräften aufgehalst? Ist es nicht ein wenig absurd, die Nutzung der Privatgeräte, die ohnehin da sind, zu verbieten und parallel eine teure staatliche Doppelstruktur mit Millionen von Zweitgeräten zu unterhalten? Was wäre das außerdem für ein immenser Material- und Ressourcenverbrauch?
Standardfunktionen viel bedeutsamer als Lern-Apps
Viele denken bei Unterricht mit digitalen Medien vor allem an spezielle Lernsoftware. Auch dieses beliebte Missverständnis schwingt in der Debatte mit. Als würde der Matheunterricht dann nur noch innerhalb einer einzigen App stattfinden, die alle Schülerinnen und Schüler im Gleichschritt durchlaufen. Klar, in einem solchen Unterricht wäre es ungünstig, wenn die Software auf dem einen Handy schnell läuft, auf dem anderen langsam und auf dem Dritten gar nicht. Tatsächlich ist Unterricht aber vielfältig und spezielle Lernsoftware mit spezifischen Anforderungen an ein bestimmtes Betriebssystem die Ausnahme. Niemand wird ernsthaft seinen kompletten Unterricht auf eine einzelne App ausrichten. Es sind vielmehr die Standardfunktionen, die jedes Gerät beherrscht, die den Unterricht bereichern:
Da wird mit dem Internetbrowser die Herleitung einer Funktion nachgeschlagen oder ein entsprechendes Erklärvideo geschaut. Mit der Fotokamera werden geometrische Winkel auf dem Schulhof geknipst, um sie hinterher zu vermessen. Mit der Videokamera werden eigene Erklärvideos produziert oder Versuchsabläufe gefilmt. Mit der Abspiel-Funktion für Audiodateien wird ein von der Lehrerin aufgezeichnetes Englisch-Diktat zu Übungszwecken angehört. Mit der Diktiergerät-Funktion wird ein Französisch-Text eingesprochen, damit der Französischlehrer später Rückmeldung zur Aussprache geben kann. In einem Klassen-Chat wird eine Arbeitsleistung diskutiert, die eine Mitschülerin hochgeladen hat. Mit der Karten-App werden Siedlungsstrukturen erkundet. Und so weiter.
- An der Erlangener Realschule am Europakanal gehört der Gebrauch von Smartphones, Tablets und Laptops zum Unterrichtsalltag.
- Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten sich zum Beispiel auf Grundlage von eigens erstellten Tutorials theoretische Grundlagen bereits vor dem Unterricht.
- Interaktive Bücher, Recherchemöglichkeiten im Internet, Lern-Apps und ein WLAN-Zugang für alle Schülerinnen und Schüler gehören zum umfangreichen Digital-Konzept der Schule.
Hier geht es zum vollständigen Konzept: „Kreativ arbeiten und selbstständig lernen“
Besser lernen mit dem Luxus-Smartphone?
Dies alles kann auch das Discounter-Smartphone. Ich sehe keine signifikante Benachteiligung aufgrund der Geräteklasse. Oder schreibt der Schüler mit dem Markenfüller automatisch bessere Aufsätze, als die Schülerin mit dem Werbe-Kugelschreiber? Es kommt doch auf den Bildungsgehalt einer Arbeitsleistung an und nicht darauf, ob sie mit OpenOffice, Pages oder Google Docs angefertigt wurde. Und was, wenn wirklich mal eine für den Unterricht wichtige Funktion nur auf einem ganz bestimmten Betriebssystem funktioniert? Dann macht man halt Gruppenarbeit und sorgt dafür, dass in jeder Gruppe mindestens ein solches Gerät zur Verfügung steht. Das fördert nebenbei noch die Teamarbeit.
Für mich verhält sich „Den technischen Umgang mit einem Gerät beherrschen“ zu „Medienkompetenz“ in etwa so wie „Den Stift richtig halten” zu „Eine sprachlich anspruchsvolle und differenzierte Erörterung schreiben“. Ich finde, wenn jemand hervorragende Texte schreibt, ist es nicht so schlimm, wenn er oder sie dabei den Stift etwas eigenwillig hält. Will sagen: Der Job der Lehrkräfte ist, Bildung zu vermitteln, und nicht, jedes Handy-Betriebssystem zu beherrschen. Irgendeine Mitschülerin oder ein Mitschüler wird bei einem technischen Problem schon weiterhelfen können. Es muss nicht immer die Lehrkraft sein. Ich wäre da ganz entspannt.
Klar, es sind nicht alle Fragen abschließend beantwortet. In der Umsetzung wird es auf Details ankommen. Aber es liegen bereits viele gute Erfahrungen mit BYOD vor. Gelingensbedingungen sind bekannt, und die Geräte sind jetzt schon da. Diese Realität hat Niedersachsen anerkannt. Für mich ist das kein Problem.
- Das Ziel der Freiherr-vom-Stein-Schule in Neumünster ist eine zeitgemäße Bildung in der digitalen Welt.
- Die Schule hat für dieses Vorhaben ein integrales Medienkonzept entwickelt.
- Dazu gehört zum Beispiel die Lernphase MINT, in der alle Unterstufen-Schülerinnen und -Schüler Basiswissen im Programmieren erlangen.
Hier geht es zum vollständigen Konzept: „Den Kulturwandel gestalten“