Kolumne

ChatGPT : Das Ende vom Lernen wie wir es kennen   

Das Programm ChatGPT ist der Anfang einer Entwicklung künstlicher Intelligenz, die das Potenzial hat, Schule zu verändern – und zwar zum Positiven, findet Bob Blume. In seiner Kolumne beschreibt er, warum und wie Lehrkräfte das Tool schon jetzt für den Unterricht und für ihre Vorbereitungen nutzen können. 

Bob Blume
ein Junge arbeitet an einem virtuellen Bildschirm
Macht KI künftig die Hausaufgaben?
©iStock

„Erkläre die Probleme des Alkoholkonsums.“   

„Erörtere, ob Schuluniformen getragen werden sollten.“   

„Erkläre die Photosynthese.“   

So oder so ähnlich hören sich Hausaufgaben an, die in den unterschiedlichsten Schulformen aufgegeben werden. Es geht um Definitionen, Auseinandersetzungen, Problematisierungen. Was alle diese Aufgaben gemeinsam haben: Es wird sie nicht mehr lange geben. Zumindest nicht in dieser Form.   

Solange Aufgaben nämlich so offen sind wie jene, die oben angeführt sind, können sie ab jetzt in Sekunden vom Programm ChatGPT und seinen Nachfolgern bearbeitet werden. In perfektem Deutsch (oder in jeder anderen beliebigen Sprache). Aber damit nicht genug: Wer meint, dass eine spezielle Anforderung genügen würde, um das Programm auszutricksen, hat weit gefehlt. Auch eine Aufgabe, die bestimmte Positionen einbezieht, wird spielend leicht erledigt: „Beschreibe die Anforderungen der Kriegsführung aus der Sicht Napoleon Bonapartes.“ Kein Problem. „Füge beschreibende Adjektive dazu.“ Kein Problem.   

Künstliche Intelligenz und Wahrscheinlichkeiten   

ChatGPT ist in aller Munde. Wäre es nicht schon vielfach gemacht worden, müsste man das Programm sich selbst erklären lassen. Stattdessen lassen wir es durch die namensgebende Abkürzung beschreiben: „Das GPT in ChatGPT steht für „Generative Pre-training Transformer“. Es bezieht sich auf die verwendete Methode zur Schulung des Modells, bei der es vorab mit großen Mengen an Texten gefüttert wird, um es dann für spezifischere Aufgaben wie das Verfassen von Texten oder die Beantwortung von Fragen zu fine-tunen.“ Das hat das Programm geschrieben. Und selbst diese kurze Erklärung ist irritierend genau.   

Was irritiert, überrascht und vielleicht sogar verängstigt, ist, wie menschlich sich die Ausführungen anhören. Menschlich in dem Sinne, dass es eben nicht nach einer steifen Definition aus einem Wörterbuch klingt. Im Gegenteil: Wenn man wissen möchte, wie ein 14-Jähriger den zweiten Weltkrieg beurteilen würde, bekommt man auch da eine Antwort – mit all den vom Programm errechneten Beschränkungen des Wissens, die wahrscheinlich sind.   

Wenn Schule nicht den Lernprozess, sondern die Produkte priorisiert, die herauskommen, werden Schüler:innen keinen Grund haben, sich die Aufgaben nicht von Programmen erstellen zu lassen.   

Wahrscheinlichkeit ist hierbei das Stichwort, denn das Programm ist, wie viele Programme, die unter die Kategorie „künstliche Intelligenz“ fallen, nicht intelligent in dem Sinne, wie wir es verstehen. Die „Antworten“, aus denen wir Sinn entnehmen, sind vielmehr Wortfolgen, die nach algorithmisch trainierten Wahrscheinlichkeiten so zusammengesetzt werden, dass wir einen Sinne darin erkennen – oder zu erkennen meinen. So oder so: Wenn Schule nicht den Lernprozess, sondern die Produkte priorisiert, die herauskommen, werden Schüler:innen keinen Grund haben, sich die Aufgaben nicht von Programmen erstellen zu lassen.   

Technologisch bedingte Chancengleichheit   

Was da auf uns zukommt, ist also eine Revolution. Aber Grund zur Sorge ist es dennoch nicht, zumindest dann nicht, wenn die in Schule Arbeitenden und die Bildungspolitik erkennen, dass die künstliche Intelligenz ein ganz anderes Lernen ermöglicht, ja herausfordert. Oder wenn wir einen Schritt zurückgehen: dass künstliche Intelligenz Schulen überhaupt herausfordert, Lernen ins Zentrum des Unterrichts zu stellen.   

Nun wollen womöglich einige einschreiten und sagen: „Moment, aber das Lernen ist doch im Zentrum des Unterrichts. Sonst bräuchten wir diesen ja nicht.“ Da widerspreche ich. Allein die Milliardennachhilfeindustrie zeigt sehr deutlich, dass das Lernen oftmals nach Hause verlagert wird. In der Schule findet – häufig – die Instruktion statt, die Erklärung. Und ja, es wird ein wenig „angelernt“, aber die vertiefende Beschäftigung, das, was am Ende die Befähigung ausmacht, findet sehr oft zu Hause statt und wird damit von einem rein didaktischen zu einem sozialen Problem: Denn wer keine Eltern hat, die den wichtigsten Part des Lernens begleiten oder jene Nachhilfe bezahlen, die das Verständnis ermöglicht, hat schlechtere Chancen. Kurz: Outputorientiertes Lernen vertieft Chancenungleichheit.   

Zunächst einmal könnte man also konstatieren, dass eine künstliche Intelligenz wie ChatGPT die Lernimitation egalisiert: Man braucht keine Akademikereltern mehr, die die Hausaufgabe erledigen, sondern kann ganz alleine für ein volles Blatt sorgen. Aber erstens ist nicht sicher, wie lange ein Programm, in das allein Microsoft 10 Milliarden Dollar investiert hat, kostenlos bleibt – und damit würden die Chancen wieder ungleich verteilt –, und zweitens ist schon der Ansatz falsch: Statt zu fragen, wie man es verhindert, dass ein Programm traditionelles Lernen aushebelt, sollte man fragen, wie ein Lernen funktionieren kann, dass neue Technologien einbezieht.   

Mit ChatGPT Klassenarbeiten erstellenEin neues Lernen   

Für jeden, der einmal mit ChatGPT herumgespielt hat, wird schnell deutlich, welche Chancen sich daraus für Lernende und Lehrende ergeben. 

Aus Lehrerperspektive kann das Programm dabei helfen:   

  • an die spezifischen Inhalte angelehnte Klassenarbeiten zu erstellen,   
  • den Unterricht zu planen,   
  • Impulse, Fragen oder Anregungen zu einem Thema erstellen zu lassen,  
  • Rechtschreibung und Formulierungen zu überprüfen,   
  • Texte verständlicher zu machen 

und viele andere Dinge. Mit anderen Worten: Schon jetzt, ohne die Einbindung in Lernmanagementsysteme, ergeben sich durch das Programm nicht nur Erleichterungen für die Vorbereitung, sondern diverse Möglichkeiten der Differenzierung für unterschiedliche Lernniveaus.   

Aus Perspektive der Lernenden kann das Programm: 

  • eine Struktur für Themen vorschlagen,   
  • Themen in unterschiedlichen Bereichen erstellen,   
  • Ideen für das eigene Schreiben bieten,   
  • Fragen für ein Thema erstellen lassen, mit denen man lernen kann,   
  • Musterlösungen anbieten, die problematisiert werden können  

und, auch hier: viele andere Dinge.   

Zentral ist die gemeinsame, aktive und reflektierte Nutzung. Dabei geht es nicht um das mittlerweile zum Standard eines neuen Lernansatzes gewordene „kritische Denken“ – das allein deshalb nötig ist, weil das Programm auch Fehler produziert, die sich aus seinem Textkorpus ergeben –, sondern
es geht vor allem darum, zu überlegen, was Lerner:innen eigentlich können müssen, wenn man die KI von vornherein einbezieht. Schnell wird dabei deutlich, dass die Beurteilungsfähigkeit zwangsläufig auf einer Wissensgrundlage basiert, ohne die ja Ergebnisse gar nicht beurteilt werden können. Aber die Anwendung dieses Wissens, die man auch als Kompetenz übersetzen könnte, wird umso wichtiger. Der Aneignungsprozess, das gemeinsame Experimentieren und Diskutieren, das Ausprobieren und Vertiefen muss also ins Zentrum des Lernens gerückt werden. 

Mehr Tiefe, weniger Breite   

Die Forderung ist einmal mehr jene nach mehr Tiefe und weniger Breite. Ein Panorama von vielen zerstückelten Kleinstkompetenzen und Inhalten mag aus Sicht der Bildungsplanung Allgemeinwissen vortäuschen. Eine solche Breite, die ja gar nicht erst tiefgreifend erfasst werden kann, wird aber von künstlicher Intelligenz unterlaufen. Und damit wird ein solches Lernen zur beidseitigen Lern-Imitation.   

Wer am besten verschleiern kann, dass er ein Programm benutzt hat (und keine Angst, zwar erkennt ChatGPT, ob es einen Text verfasst hat, aber längst gibt es Programme, die Texte so paraphrasieren, dass man den Urheber nicht mehr erkennt), wird dann zum Gewinner eines Systems, in dem man sich aktiv das Lernen abgewöhnt. Die Einsichtigen und jene mit den besten Voraussetzungen und dem besten sozialen Umfeld werden dann besser, die Schlechten schlechter. Das kann keiner wollen.   

Stattdessen sollten wir die künstliche Intelligenz umarmen und uns aktiv (und schnell) Gedanken darüber machen, welche Art von Lernen in Zukunft wichtig werden wird. Aus meiner Sicht: ein reflektiertes Lernen im digitalen Wandel. Eines also, dass die Veränderung aufnimmt und in den Lernprozess einbezieht. Und eines, in dem das Produkt nicht mehr im Vordergrund steht, sondern der gemeinsame Lernprozess.   

Denn egal wie stark die KI in Zukunft noch wird: Das gemeinsame Lernen als eines, das die Beziehung zwischen Menschen und damit ihre Entwicklung in den Mittelpunkt stellt, wird kein Programm jemals ersetzen können.  

Zur Person

  • Bob Blume ist Oberstudienrat am Windeck-Gymnasium in Bühl und unterrichtet die Fächer Englisch, Deutsch und Geschichte. Zuvor arbeitete er an einer Realschule im Schwarzwald.
  • Neben seiner Arbeit als Lehrer betreibt er einen Youtube-Kanal und einen Blog, in dem er über die Herausforderungen des Referendariats, die Chancen der Digitalisierung und politische Themen schreibt.
  • Als „Netzlehrer“ ist er auf Twitter unterwegs und betreibt auch einen Podcast mit diesem Namen. Nebenher publiziert er für Zeitungen und veröffentlicht Texte in verschiedenen Online-Magazinen – wenn er nicht mit seiner Tochter und seiner Frau das Leben in den Offenburger Weinbergen genießt.
  • Er ist Autor des Buches „Deutschunterricht digital. Vom didaktischen Rahmen zur praktischen Umsetzung.“, erschienen im Beltz-Verlag. Im Mai 2022 erschien sein Buch „10 Dinge, die ich an der Schule hasse und wie wir sie ändern können“ im Mosaik Verlag – ein Aufruf zum Handeln, um die Schulen ins 21. Jahrhundert zu führen.
  • In seiner Podcast-Reihe „Die Schule brennt“ spricht er mit seinen Gästen über all das, was Schule ausmacht, was Schule gut macht und wo das Schulsystem Nachhilfe bräuchte.

Mehr zum Thema

Videoaufzeichnung der Online-Veranstaltung auf dem Campus des Schulportals mit Lehrkräftefortbildner Tim Kantereit.