Kolumne

Bildungsgerechtigkeit : Hat Anisha tatsächlich eine Chance?

Angesichts der Corona-Krise warnen viele Expertinnen und Experten vor einer wachsenden Bildungsungerechtigkeit. Dabei ist das Ausmaß der ungleich verteilten Chancen auch ohne Corona schon extrem groß. Wie groß, das beschreibt Grundschullehrerin Sabine Czerny in ihrer Kolumne und macht damit deutlich, was es wirklich braucht, wenn der Ruf nach mehr Bildungsgerechtigkeit ernst gemeint ist.

Spielfeld mit Spielfiguren
In der ersten Klasse starten die Kinder von ganz unterschiedlichen Punkten – in den Leistungsmessungen werden sie trotzdem verglichen.
©self made board-game with tokens and dice

In Diskussionen fällt mir immer wieder auf, dass die Themen Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in der Theorie gut erörtert werden, Zahlen und Fakten zur Hand sind und oftmals gut klingende Vorschläge gemacht werden – zum Beispiel derzeit auch wieder die Sommerschulen, um Lerndefizite benachteiligter Kinder während der Corona-Krise aufzufangen.

Leider fehlt oftmals ein klares Bild,  worüber wir da eigentlich ganz konkret sprechen.

Noch vor wenigen Jahrzehnten war die Spanne der Heterogenität in einer Klasse am einen Ende im benachteiligten Bereich gesetzt durch Kinder wie etwa Paul*, der bei einer alleinerziehende und ganztags arbeitenden Mutter groß wurde, Marlies, die unter der Trennung der Eltern emotional sehr litt, Jasper, dessen Vater Alkoholiker war oder Turan, der aufgrund einer Erkrankung häufig ins Krankenhaus musste. Am anderen Ende der Spanne standen die vielen Kinder, die in einem gesunden Familienverband sorgenfrei groß wurden, in jungen Jahren schon eine Musikschule oder einen Sportverein besuchten und hin und wieder mit den Eltern und Geschwistern Ausflüge machten oder einen kleinen Urlaub.

Zwischen diesen beiden Eckpunkten bestanden also an sich keine so wirklich großen Unterschiede. In den letzten Jahren hat sich in beide Richtungen viel verändert und in welchem Ausmaß ist meines Erachtens vielen nicht bewusst.

Jorge kann schon lesen und kennt einige Wörter auf Englisch

Jorge, sechs Jahre alt, wächst in einer wohlhabenden deutschsprachigen Familie auf, in der beide Eltern um eine bedürfnis- und bindungsorientierte Erziehung bemüht sind und viel mit ihren Kindern sprechen. Die Sprachstörung, die Jorge bei einer Untersuchung zeigte, wurde logopädisch behoben, nach dem Mutter-Kind-Turnen besucht er seit zwei Jahren das Kinderturnen, und er lernt Klavier spielen. Beide Eltern sprechen mehrere Sprachen, sind gebildet, belesen und interessiert, und auch Jorge beherrscht vom Urlaub her bereits einige Wörter auf Englisch und Spanisch.

Ausgewählte Sendungen darf Jorge im Fernsehen sehen – er mag „logo!“ sehr gern, die Kindernachrichten des ZDF, weil er da so viel lernt –, und immer mal wieder surfen er und sein Vater durchs Internet auf der Suche nach Dinosauriern oder Marslandungen. Bildungsmöglichkeiten sind insbesondere auch durch die Digitalisierung vielfältig und stets zugänglich vorhanden und werden auch genutzt. Großer Wert wird auf gesunde Ernährung gelegt, im Garten ziehen sie eigenes Gemüse, kochen oft selber, und Jorge wiegt die Zutaten ab. Die Kinder werden vielfältig und ganzheitlich gefördert, sie gehen regelmäßig in die Berge, besuchen Museen oder auch mal die Oper, und sie sprechen „über Gott und die Welt“. Nachdem die Familie gemeinsam zu Abend gegessen hat und die Spielsachen aufgeräumt sind, wird Jorge vor dem Schlafengehen jeden Abend vorgelesen, obwohl er inzwischen selber lesen kann.

Anisha spricht noch kein Wort Deutsch

Anisha, ebenfalls sechs Jahre alt, kam vor drei Jahren aus einem fernen Land nach Deutschland. Die Eltern sind Analphabeten. Sie wohnt, gemeinsam mit vier weiteren Geschwistern, in einem Wohnheim, das vom Amt bezahlt wird. Die Eltern sprechen bis heute kein Wort Deutsch und sind mit der Lebensweise hier überfordert. Schon der Busfahrplan stellt ein kaum zu überwindendes Problem dar. Mehrere Betreuerinnen und Betreuer kümmern sich um die Familie und regeln alles, was nötig ist, begleiten bei Behördengängen, stellen Anträge und kümmern sich um die Arztbesuche der Kinder.

In ihrem Heimatland führte Anisha ein sehr einfaches Leben. Es gab weder Anregung, noch direkte Ansprache, meist spielte sie mit den Steinen im Wüstensand. Sie hat nicht mal eine Idee davon, dass man Dinge zählen kann oder dass es so etwas wie Lesen und Schreiben gibt. In Deutschland sitzt sie nun entweder mit ihren kleinen Geschwistern in einem Zimmer, in dem ununterbrochen der Fernseher läuft, oder sie hält sich mit Eltern und Geschwistern vor dem Haus auf. Der Besuch des Kindergartens war angedacht, aber die Eltern bringen sie nicht hin. Anisha spricht bisher kein Wort Deutsch, und auch in ihrer Muttersprache, die eher undeutlich und stark vereinfacht gesprochen wird, beherrscht und versteht sie nur einen groben Grundwortschatz.

Am 13. September ist für beide Kinder Schulbeginn. Beide kommen in dieselbe Klasse. Wahrscheinlich brauche ich hier nicht weiterzuerzählen. Jeder kann sich vorstellen, dass Jorge die ersten Buchstaben mit leichter Hand in sein Heft abmalt, Anisha – falls sie denn überhaupt am ersten Tag in der Schule erscheint – heute zum ersten Mal in ihrem Leben einen Stift in der Hand hält und es ihr schwerfällt, selbst mit dem Faustgriff Kreise zu ziehen.

Für beide Kinder gilt eine vergleichende Leistungsmessung

Und nein, das ist nicht übertrieben dargestellt. Beide Beispiele sind keine Einzelfälle. Ganz im Gegenteil – mit allen dazwischen möglichen Abstufungen bilden sie sehr gut die Heterogenität einer ersten oder durchaus auch einer höheren Klasse heutzutage ab. Nur – welche Chancen hat Anisha in einer Klasse mit 28 Kindern und einer einzigen Lehrerin? Und einem Lehrplan, der sich inhaltlich und zeitlich an den Möglichkeiten Jorges orientiert, bei dem die Unterstützung durch das Elternhaus mit eingeplant werden kann? Und einer Leistungsmessung, die vom Grundsatz her „vergleichend“ ist – also Kinder wie Jorge und Anisha zum selben Zeitpunkt auf gleiche Weise testet und damit also vergleicht?

Mich erinnert das an ein Youtube-Video, bei dem ein Wettrennen gelaufen wird, der Veranstalter aber vorab Fragen stellt, die mit der Herkunft zusammenhängen, und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern gegebenenfalls erlaubt, wie auf einem Spielbrett ein Stück nach vorn zu rücken und somit im Vorteil zu sein.

Kinder wie Anisha verstehen teilweise gar nicht, wie ihnen geschieht, was von ihnen plötzlich erwartet wird. Sie musste noch nie irgendeine Aufgabe erfüllen oder sich strukturieren. Kinder wie sie sind nicht gewohnt, etwas aufzunehmen, und noch weniger, sich etwas gezielt zu merken und es wiedergeben zu können. Kinder wie Anisha muss man „anfüttern“, damit sie überhaupt Grundfertigkeiten erwerben. Sitzt man nicht neben ihnen, arbeiten sie nicht. So führt man ihnen am Anfang die Hand, damit sie die ersten Buchstaben zeichnen. Es dauert aber Wochen, bis sie verstehen, dass diese Zeichen einen Sinn ergeben, und noch weitere Wochen und Monate, bis sie Unterschiede erkennen, Laute zuordnen und irgendwann dann auch Laute zu Wörtern verbinden können, die sie oftmals aber aufgrund mangelnder Sprachkenntnis noch nicht verstehen.

In Mathematik nimmt man ihre Finger und zählt gemeinsam immer wieder Dinge ab, indem man diese mit ihnen berührt. Selbst diese Eins-zu-eins-Zuordnungen gelingen oft nicht von allein, eben weil das Bewusstsein fehlt, überhaupt etwas zählen zu können.

Und nein, diese Kinder sind nicht „dumm“! Sie haben bislang nur nicht gelernt und ihnen fehlen insbesondere diese extrem wichtigen und vielfältigen grundlegenden Erfahrungen.

Wenn wir über Bildungsgerechtigkeit sprechen, müssen wir diese Bandbreite an Kindern vor Augen haben. Und ja, da wird es dann schwierig! Wie geht man mit den riesigen Unterschieden in der Vorbildung und den Vorerfahrungen der Kinder um? Wie damit, dass manche Kinder beständig begleitet und unterstützt werden, andere hingegen gar nicht? Wenn nicht der erfolgreiche Schulbesuch sogar erschwert wird, weil die Eltern sich nicht einmal um das nötige Schulmaterial kümmern und/oder die Kinder immer mal wieder nicht in die Schule kommen, weil die Eltern lieber länger schlafen?

Uns müssen diese eklatanten Unterschiede bewusst sein, insbesondere auch wo Kinder in ihrem inneren Entwicklungsprozess jeweils stehen und welche Selbstkompetenz sie besitzen. Dann erst erkennen und verstehen wir, was jedes dieser Kinder benötigt um überhaupt ansatzweise eine Chance in unserem Bildungssystem zu haben. Während Jorge problemlos der Lehrkraft zuhört, wenn sie mit der Klasse spricht, Arbeitsaufträge versteht und selbstständig umsetzt, benötigt Anisha jemanden, der die Aufgabe gemeinsam mit ihr macht. Sie kann Inhalte noch nicht von allein aufnehmen, sie reflektiert sich noch nicht und hat von sich aus noch nicht den Anspruch an „Richtigkeit“, weil sie noch gar nicht weiß, was es bedeutet, etwas richtig zu machen. Sie muss das alles erst lernen und wird das – wenn sie die nötige Zeit und die richtige Unterstützung bekommt – auch irgendwann selber können. Und gleichzeitig darf keinesfalls Jorge zu kurz kommen, der ebenfalls ein Recht auf bestmögliche Förderung hat, aber schon an ganz anderen Stelle steht.

Es braucht Lernstandsmessungen zur Orientierung statt Noten

Das alles ist möglich – aber nicht, wenn eine Lehrerin allein für 28 Kinder zuständig ist und letztlich von allen Kindern gleichzeitig die gesamte Bandbreite an Fächern und Inhalten verlangt wird und sie vergleichend bewertet werden sollen.

Wäre es sinnvoll, im Wissen um diese großen fachlichen und intellektuellen Unterschiede von Anfang an unterschiedliche Schularten zu haben? Sicher nicht! All die unterschiedlichen Kinder sollen miteinander leben und lernen. Was allerdings dringend vonnöten ist, sind, zumindest in den ersten zwei Schuljahren, kleinere Klassen mit etwa 12 bis 14 Kindern – und dazu oft nicht nur eine Zweit-, sondern teilweise sogar eine Drittkraft. Dann können ausgewählte Kinder beständig einzeln betreut und im Tagesverlauf problemlos immer wieder Eins-zu-Eins- oder Kleingruppenarbeiten vom gemeinsamen Arbeiten abgespaltet werden. So könnte Anisha beispielsweise täglich lesen üben, auch wenn zu Hause niemand mit ihr übt.

Es muss auch möglich sein, dass Anisha, statt mühsam einen Hefteintrag im Sachkundeunterricht abzumalen, der zum Lernen für die nächste Probe nötig ist, weiter Zählen üben darf – ohne gleich Nachteile zu haben und abgewertet zu werden!

Es benötigt in der Grundschule keine vergleichenden und bewertenden Proben. Was die Kinder brauchen, sind Lernstandsmessungen in relevanten Themenbereichen, damit sie sich selbst orientieren können: wo sie stehen, was sie bereits sicher können, wo sie noch Übungsbedarf haben. Es braucht ganz sicher keine Noten, selbst für Jorge nicht. Er wird sich zwar über seine vielen Einsen sicher freuen – dennoch zeigen sie weder seinen Lernfortschritt noch weiter zu ergreifende Potenziale auf. Eher verhindern sie ein individuelles, interessengeleitetes und fortschreitendes Lernen für ihn, zum Beispiel eine Portfolioarbeit, bei der er sich durch Rückmeldung und Tipps weit über das gemeinsame Lernen hinaus weiterentwickeln könnte.

In einem gemeinsamen Unterricht, aus dem immer wieder auf kluge Weise individualisierende Maßnahmen hervorgehen, werden alle Kinder gefördert: Anisha kann aufholen und sich grundlegende Exekutivfunktionen (wie sich strukturieren, Ordnung halten, Verantwortung für ihr Lernen übernehmen) und fachliches Verständnis aneignen, um danach auch in die Weite und ins Detail zu gehen. Jorge kann in individualisierten Lernphasen von Anfang an interessengeleitet, selbstständig und weitergreifend arbeiten. Eine funktionierende Technik und gute digitale Lernformate wären hier für alle Kinder zur individuellen Förderung und zum Auffächern vieler Möglichkeiten ein wahrer Segen.

Unterschiedlichkeit in der Gemeinschaft erleben

Gleichzeitig erleben diese Kinder bei aller Unterschiedlichkeit Gemeinschaft – sie singen, spielen und lachen zusammen, bringen sich in gemeinsame Projekte ein, arbeiten kooperativ und interkulturell zusammen. Eine Aufteilung in verschiedene Schularten wäre allenfalls dann angezeigt, wenn die Kinder alt und reif genug sind, unabhängig von den Eltern die Verantwortung für ihr eigenes Lernen zu übernehmen. Also sicher nicht mit neun Jahren, wie derzeit, wo letztlich das Elternhaus den entscheidenden Faktor ausmacht.

Solange wir an einer Selektion in so frühem Alter, an einer vergleichenden Leistungsmessung, an gleichen Inhalten für alle Kinder und an Gruppengrößen um die 28 mit einer einzigen Lehrkraft festhalten, werden Kinder wie Jorge nur unzureichend gefördert und werden Kinder wie Anisha und viele andere keine echte Chance in unserem Bildungssystem haben.

* Die Namen der Kinder sind geändert und Informationen zu den Biografien leicht abgewandelt.

Zur Person

  • Sabine Czerny ist seit über 20 Jahren Lehrerin und unter­richtet in einer Grund­schule im Groß­raum München eine zweite Klasse in allen Fächern. Zusätzlich gibt sie Fach­unter­richt in anderen Klassen, auch in der Mittel­schule.
  • Vor gut einem Jahr­zehnt machte Sabine Czerny bundesweit Schlag­zeilen: Weil ihre Schüler­innen und Schüler zu viele gute Noten erzielten, wurde sie straf­versetzt.
  • 2009 wurde sie mit einem Preis für Zivil­courage, dem Karl-Steinbauer-Zeichen, aus­gezeichnet. Ein Jahr später erschien ihr Buch „Was wir unseren Kindern in der Schule antun … und wie wir das ändern können“.
  • Für Das Deutsche Schulportal schreibt Sabine Czerny eine Kolumne.