Expertenstimme

Innovative Zeitmodelle : Zeitfenster für Kooperation von Lehrkräften festlegen

Das Deputatsstunden-Modell für Lehrkräfte behindert eine professionelle Kooperation, dabei hat diese einen großen Einfluss auf den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler. Der Blick ins Ausland zeigt, dass es besser geht: Feste Zeitfenster für Kooperation, eine gute digitale Ausstattung und Entscheidungsspielräume ermöglichen eine neue Unterrichtsqualität. Die Bildungsforscherinnen Anne Sliwka und Britta Klopsch plädieren deshalb für Schulversuche mit innovativen Zeitmodellen

Kind und Lehrerhände bewegen Zeiger an einer Uhr
Ein innovatives Zeitmodell wäre beispielsweise, dass die einzelnen Unterrichtsstunden für die Lehrkräfte von 45 Minuten auf 90 Minuten erhöht werden, wobei diese als 80 Minuten Unterricht und 10 Minuten Kooperationszeit zusammengesetzt werden.
©Alamy Stock

Um Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern optimal zu unterstützen, dürfen Lehrkräfte nicht mehr auf sich allein gestellt bleiben, sondern müssen gezielt darin unterstützt werden, effektiv zusammenzuarbeiten. Die daraus entstehende kooperative Professionalität trägt dazu bei, dass nicht nur Schülerinnen und Schüler lernen, sondern auch die Lehrkräfte sich professionell weiterentwickeln, Entscheidungen gemeinsam tragen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht, das sich auf die gesamte Schulgemeinde auswirkt. Die zugrundeliegende Kooperation braucht feste Zeiten, etablierte Regeln und eine gemeinsame Vision. Doch wie passt dies mit den aktuellen Arbeitszeitmodellen von Lehrkräften zusammen?

Seit Jahren gilt als empirisch abgesichert, dass nicht nur die Unterrichtsentwicklung, sondern auch die Lehrergesundheit und Berufszufriedenheit durch eine Kooperation, die auf Vertrauen und Zuverlässigkeit beruht, nachhaltig gestärkt werden kann. Der neuseeländische Pädagoge John Hattie macht in seiner Metastudie „Visible Learning – Lernen sichtbar machen“ (2018) den Stellenwert von Kooperationen besonders deutlich: Die kollektive Wirksamkeit – also die gemeinsame Überzeugung der Lehrkräfte, Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern positiv beeinflussen zu können – ist der stärkste Einflussfaktor für Lernerfolg überhaupt. Die kollektive Wirksamkeit entsteht, wenn Lehrkräfte zusammenarbeiten, wenn sie sich von punktuellen Absprachen und Impulsen hin zur kooperativen Professionalität entwickeln.

Kooperative Professionalität als Drehkreuz der Entwicklung von Lehrkräften und deren Unterricht

Kooperative Professionalität ist als Haltung und Arbeitsform streng auf die Entwicklung von Schule und Unterricht ausgerichtet. Sie entsteht, wenn Individuen der Schulgemeinschaft ihre Expertise, ihr Wissen und ihre Erfahrungen miteinander teilen, gemeinsam Entscheidungen treffen und Probleme lösen – alles vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Vision für das Lernen der Schülerinnen und Schüler (Sliwka & Klopsch 2022). Im Gegensatz zu sporadischer oberflächlicher Zusammenarbeit entwickelt sich kooperative Professionalität durch eine Arbeitsweise, die auf tiefgreifendem Vertrauen und großer Präzision beruht (Hargreaves & O’Connor, 2018). Treffen von Lehrkräften finden nicht mehr nur episodisch und lose gekoppelt statt, sondern sind als gemeinsame Arbeitszeiten verbindlich in die wöchentliche Arbeitspraxis von Lehrkräften und Schulleitung eingebettet. Alle Teilnehmenden bereiten sich auf die Treffen vor, arbeiten intensiv zusammen und entwickeln neue Impulse für Unterricht und Schule.

Diese tiefgreifende stetige Zusammenarbeit benötigt pädagogische Zeiträume, innerhalb derer in den Kollegien kommuniziert werden kann, innerhalb derer die Menschen gemeinsam kreativ werden, Probleme durch kritisches Denken und innovatives Handeln angehen und gemeinsam lösen.

Bisher leben Lehrkräfte an vielen Schulen noch in Koexistenz: Gerade in großen Schulen wissen Lehrkräfte wenig voneinander und kennen sich teilweise nicht mal.

Das Bereitstellen dieser pädagogischen Zeiträume ist in Deutschland aufgrund des Deputatsstunden-Modells nur schwer zu realisieren. Bisher leben Lehrkräfte an vielen Schulen noch in Koexistenz: Gerade in großen Schulen wissen Lehrkräfte wenig voneinander und kennen sich teilweise nicht mal. Aber solange jede und jeder allein arbeitet, ist es schwierig, in den Schulen einen höheren Level an Unterrichts- und Lernqualität zu erreichen – ein koordiniertes Vorgehen ist für die Bildung in der digitalen Welt unabdingbar.

Unterricht zur gemeinsamen Sache machen

Einander gegenseitig kennenzulernen und gemeinsam über Unterricht zu sprechen kann ein erster Schritt sein, zu tiefgreifenden Kooperationsvorhaben zu kommen. Rahmenbedingung dafür ist, dass Lehrkräften gemeinsame Zeiträume zur Verfügung stehen, innerhalb derer sie sich treffen und kooperieren können. Hilfreich ist dabei eine veränderte Nutzung des Deputats.

Ein innovatives Zeitmodell wäre beispielsweise, dass die einzelnen Unterrichtsstunden für die Lehrkräfte von 45 Minuten auf 90 Minuten erhöht werden, wobei diese als 80 Minuten Unterricht und 10 Minuten Kooperationszeit zusammengesetzt werden. Wenn letztere dann zusammengenommen werden, sind im Mittel 120 Minuten Kooperationszeit in einer Woche möglich. Diese 120 Minuten sind für die Schülerinnen und Schüler nicht verloren, sondern werden für selbstgesteuertes Lernen auf der Grundlage von Medien und Aufgaben im Lernmanagementsystem verwendet. Dabei können die Möglichkeiten der Digitalisierung hier gezielt genutzt werden, indem Lernvideos gezeigt oder (spielerische) Aufgaben bereitgestellt werden, die online gleich ausgewertet werden und den Lernenden eine unmittelbare Rückmeldung zu ihrem Lernstand bieten.

Erfahrungen aus der Zeit des Lockdowns während der Pandemie zeigen, wie gut Lernende mit solchen Selbstlernphasen umgehen können und sie auch dafür nutzen, selbstständiger bei Lernprozessen zu werden. Dies gilt im Besonderen für ältere Schülerinnen und Schüler ab der Mittelstufe, die hier gezielt dazu angeleitet werden, Selbstorganisation und Selbstregulation für die Oberstufe zu trainieren. Das Schulsystem nimmt den Lernenden damit keine Lernzeit weg, sondern bietet einen Weg, überfachliche Kompetenzen zu trainieren, die für den weiteren Lebensweg der Kinder und Jugendlichen sehr wichtig sind.

Gleichzeitig erhalten die Lehrkräfte Zeit, sich selbst weiterzuentwickeln und mit Kolleginnen und Kollegen aktiv Unterrichtsentwicklung zu betreiben.

Genau wie für die Schülerinnen und Schüler müssen auch für die Lehrkräfte die Zeitfenster für die Kooperation nicht zwangsläufig vor Ort stattfinden, sondern können auch digital umgesetzt werden. Egal, wo sie sich treffen – wichtig für die Kooperationszeit ist die aktive Arbeit am gemeinsamen Themenfeld, bei dem in „Co-Agency“, das heißt in einer gegenseitig unterstützenden Beziehung, gearbeitet wird (Sliwka & Klopsch 2022). Auf diese Weise verschwindet zunehmend die Koexistenz, und eine gemeinsame Wahrnehmung des Bildungsauftrags im Sinne von „Wir und unser Unterricht/unsere Schule“ wird möglich. Ko-konstruktive Prozesse und die Mentalität des gemeinsamen Gestaltens und Entscheidens tragen darüber hinaus dazu bei, dass nicht nur der Unterricht zu seinem Besseren verändert wird, sondern dass auch die Lehrkräfte untereinander ein Netzwerk bilden, das ihnen bei Schwierigkeiten und Problemen Unterstützung bietet und freudige Ereignisse gemeinsam feiern lässt. Lehrkräfte, die in Teams arbeiten, können ihr Wissen und ihre Kreativität komplementär einsetzen, um guten Unterricht zu entwickeln.

So können beispielsweise mehrere MINT-Lehrkräfte in ihren zehnten Klassen ein bestimmtes Thema, das in allen Fächern vorkommt, durch ein intelligentes Unterrichtsdesign gemeinsam umsetzen. Dabei wird nicht nur das strukturelle Vorgehen im Unterricht besprochen, sondern auch thematisiert, wie eine formative Leistungsbewertung stattfinden kann, wie die Leistung am Ende der Einheit festgestellt und bewertet wird. Diese Klarheit des Vorgehens schafft nicht nur Sicherheit in der Durchführung, sondern dient auch der Transparenz für die Lernenden in ihrer eigenen Leistungsbewertung.

Lerngemeinschaften, die auf diese Weise professionell miteinander arbeiten, teilen fachliches und fachdidaktisches Wissen, lernen so gegenseitig voneinander und können auch gemeinsam neue pädagogische Prinzipien und Unterrichtsmethoden erproben und reflektieren.

Lerngemeinschaften, die auf diese Weise professionell miteinander arbeiten, teilen fachliches und fachdidaktisches Wissen, lernen so gegenseitig voneinander und können auch gemeinsam neue pädagogische Prinzipien und Unterrichtsmethoden erproben und reflektieren. Die erforderlichen überfachlichen Kompetenzen, Kommunikation, Kooperation, kritisches Denken und Kreativität stehen dann nicht mehr nur im Kontext des Schülerlernens im Vordergrund, sondern werden auch durch die Lehrkräfte in ihren Lernprozessen angebahnt und vertieft – Lehrkräfte durchlaufen so ähnliche Prozesse wie ihre Schülerinnen und Schüler, was zu deren Vorbildfunktion und Motivation im Unterricht beiträgt.

Reichen innovative Zeitmodelle als Anreiz zur kooperativen Professionalität aus?

Der Blick ins Ausland zeigt nicht nur, dass kooperative Professionalität zu Lernerfolgen auf unterschiedlichen Ebenen beiträgt und dass diese am besten angeregt werden kann, wenn Lehrkräfte vonseiten der Schulverwaltung Zeiträume dafür bereitgestellt bekommen.

Der Blick ins Ausland zeigt auch, dass innovative Zeitmodelle mit Entscheidungsspielräumen für Lehrkräfte einhergehen müssen. Dies bedeutet, dass Lehrkräfte und Schulleitungen jeweils in enger Abstimmung untereinander (datengestützt) eigene Entscheidungen treffen können, die dem Schülerlernen zuträglich sind (Klopsch & Sliwka 2021).

Die Situation in Deutschland gestaltet sich aktuell gegensätzlich. Hier „können nicht einmal zwei von zehn Entscheidungen, die die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen betreffen, direkt in den Schulen vor Ort getroffen werden. In den Niederlanden sind es neun von zehn, was die Flexibilität der Schulen, aber auch das Engagement von Lehrern und Eltern deutlich fördert“ (Schleicher 2021, online).

Um aktiv, kurzfristig und nachhaltig Lernprozesse bei Schülerinnen und Schülern anstoßen zu können, ist es wichtig, vor Ort individuelle Entscheidungen auf kurzem Weg treffen zu können. Der aktuelle Weg über die komplexen Verwaltungsvorgänge in Ministerien und den Schulaufsichtsbehörden behindert flexibles Handeln und Innovationsbereitschaft der Schulen.

Daneben zeigt die international erfolgreiche Praxis an Schulen, dass für flexibles und stetiges Kooperieren die reine Bereitstellung von technischer Ausstattung nicht zielführend ist, wenn sich Lernprozesse bei Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften ändern sollen. In den in internationalen Vergleichsstudien sehr erfolgreichen Schulsystemen ist die wöchentliche Deputatsstundenzahl niedriger als in Deutschland, zusätzlich zur Unterrichtszeit werden aber weitere professionelle Tätigkeiten (bspw. die Kooperationszeit unter Lehrkräften oder auch mit Eltern) explizit in den Arbeitsverträgen geregelt. Auch dies könnte ein Anstoß zur Veränderung bei der Arbeitszeit deutscher Lehrkräfte sein.

Schulversuche wären jetzt notwendig, um neue Zeitmodelle zu erproben, die die Kooperation als verbindliche Aufgabe von Lehrkräften in den Fokus nehmen, diese mit festgelegten Zeitfenstern belegen und durch digitale Ausstattung, Lernmanagementsysteme und pädagogische Arbeitsmittel unterstützen – um auch die Schülerinnen und Schüler in diesen Zeiten der Lehrkräftekooperation nicht alleinzulassen.

Wenn auf diese Weise Lehrkräfte dazu angeregt werden, mehr voneinander und miteinander zu lernen und dadurch besseren Unterricht zu gestalten, und gleichzeitig Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeiten zu digital gestütztem, selbstreguliertem Lernen verbessern, wäre jeder Tag verschenkt, den wir im traditionellen Modell verstreichen lassen.

Mehr zum Thema

Hargreaves, A. & O’Connor, M. (2018): Collaborative Professionalism. When Teaching Together Means Learning for All“. 1st. Thousand Oaks: Corwin.

Klopsch, B. & Sliwka, A. (2021): Kooperative Professionalität. Weinheim: Beltz.

Schleicher, Andreas (2021): „Warum Deutschland mehr kluge Köpfe braucht“. (Zugriff am 11.01.2022)

Sliwka, A. und Klopsch, B. (2022): Deeper Learning: Pädagogik des Digitalen Zeitalters. Weinheim: Beltz.

Zur Person

  • Anne Sliwka ist Professorin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg. Sie forscht über Schul- und Schulsystementwicklung sowie Lehrerprofessionalität in international-vergleichender Perspektive. Sie ist Gründerin der „Deeper Learning Initiative“ und gehört dem wissenschaftlichen Beirat des Kultusministeriums von Baden-Württemberg an.
  • Britta Klopsch ist Juniorprofessorin am Institut für Schulpädagogik und Didaktik des KIT (Karlsruher Institut für Technologie). Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Professionalisierung von Lehrkräften, Schulentwicklung und die Unterrichtsentwicklung durch Deeper Learning.